Kommentar von Polina Atasanova (SoSe 2021)
Anestesie wurde von der italienischen Dichterin Antonella Anedda verfasst und ist 2021 in Geografie, eine Sammlung von Prosadichtungen, oder besser gesagt: eine Art „Amphibie“ zwischen Prosa und einem „unbestimmten etwas“, womit Anedda noch experimentiert erschienen. Antonella Anedda hat mit Geografie ein geniales Werk zur Welt gebracht. Diese Sammlung von hybrider Prosa besteht aus viele einzelne Teile, die zusammengesetzt werden müssen, damit ein Gesamtbild entstehen kann. Jede Erzählung ist ein Stück des Puzzles, und jede Geschichte ist komplementär zu der anderen. Ein Teilchen nach dem anderen.
Was man auf Seite 98 und 99 (vor unserem Prosa-Gedicht) bewundern kann ist Faszination pur. Jeder Titel kann mit der Welt der Medizin assoziiert werden und das dominierende Thema, das die Teile verbindet, ist der Schmerz. Die Namen der Geschichten sind also keinen Zufall: „Ventre“, „intestino etc.“, „Otite“, „Post operazione“, „Anestesie.“ Man kann außerdem immer wiederkehrenden Elementen zwischen den Erzählungen entdecken wie z.B. Nadel, Faden, Erleichterung, Reise, Meer, Flugzeug, körperliche Reaktionen, Meeresboden, Anästhesie, Erwachen.
Die Autorin führt uns in Anestesie auf eine Reise durch die Zersplitterung und die Wiederzusammensetzung des Ichs. Es geht um Wandel. Der Körper verändert sich, die Wahrnehmung verändert sich, die Zeit verändert sich, der Raum verändert sich, die Realität verändert sich, die Witterungseinflüsse verändern sich. Doch alles ergänzt sich wie in einem Mosaik. Gleich am Anfang stößt der Leser auf das Incipit „Tutto sta nel cominciare“ und wird dazu gezwungen zu rätseln, worauf sich dieser Satz beziehen könnte. Wer ist der Erzähler? Geht es vielleicht um das Leben? Dreht sich denn alles um das „anfangen zu leben“?
In Anestesie wird man ständig mit zahlreichen Denkanstößen konfrontiert und die Erzählung ist reich an Elementen aus Gebieten, die auf den ersten Blick ambivalent sind. Das Wechselspiel von Licht und Dunkelheit, Positivem und Negativem, Schönheit und Angst, Erlösung und Nullstellung verleiht dem Prosa-Gedicht eine erratische und unvorhersehbare Stimmung.
Auf der Inhaltsebene, fällt sofort eine Trennung auf: während sich der erste Teils an einem geschlossenen Ort (ein Krankenhaus, bzw. in einem Operationssaal) entwickelt, spielt sich der zweite Teil im Freien ab. Eigentlich ist das prosa-Gedicht in weiteren Microebenen aufgeteilt. Es ist fast so, als gäbe es ein Inhaltsverzeichnis, das etwa so aussehen könnte:
- Krankenhaus
- Zustände der Psyche und des Körpers während der Anästhesie
- Die Erkundung eines neuen Lands („la patria dei pirroniani dove regna l’afasia“, „l’apatia“, „l’adiaforia“, Zeile 22-23)
- Das Erwachen
- Realität/Überraschungen/Halluzinationen
- Natur und Weltall
- Himmel (Flugzeug) vs Erde/Meer (Fähre)
Graphisch lässt sich allerdings das Prosa-Gedicht in drei Abschnitte einteilen, wobei die Zeilen 30 und 31 extra von Anedda akzentuiert werden. Dienen diese bestimmten Zeilen als Brücke zwischen den ersten und den zweiten Teil? Interessant ist auch die Relevanz des lyrischen Ichs, der sich stufenweise zerkleinert. Am Anfang ist die Stimme neutral, unpersönlich, dann wird sie kollektiv („entriamo“, Zeile 7) und schließlich wird sie intimer, indem sie sich an den Lesern richtet („per te, entri, scopri, ascolti“, usw.). Der Temporaldeixis kann die Gegenwart zugeordnet werden. Auf dieser Art und Weise klingt die Erzählung wie eine Hypnose und die Wahrnehmungen werden noch verstärkt, als würde man die Geschichte aus erster Hand erleben. Die Zeit ist flüchtig („schiocco di dita“, „un battito di ciglia“, Zeile 13) und ist jenseits der Grenzen positioniert. („per sempre“ non sai cosa significa, Zeile 10 und „Quanto dura?“, „Non esiste durata“, Zeile 12)
Die Terminologie ist eher ungewöhnlich für Prosadichtungen und mischt fachliches Wissen mit Ironie (z.B. in Zeile 11 und 12 „Quella che sperimenti è una morte con — se tutto va bene (o male?) — risveglio“). Zudem ist die Prosa von Antonella Anedda besonders von der Medizinsprache und von den Spurenelement geprägt: Worte wie „sala operatoria, anestesia, sedazione, medici e infermieri, afasia, apatia, morfina, flebo, carbonio, azoto, ossigeno und idrogeno“ sind klare Andeutung auf einen Raum, der zwischen Leben und Tod oszilliert. Dieser intime Raum bietet zwar keine Zuflucht und macht Angst, aber er bleibt der einzige Ort, indem Begegnungen aller Art noch möglich sind.
Passend zum Titel Geografie, hingegen, ist die aufmerksame Auswahl an Worte wie „nero assoluto, luce acquatica, fondo marino, luna, alba, cielo, nuvole, pianeti, Venere, Marte, Via Lattea, Temporale, inabissire, tempesta, Terra“, die aus der Speläologie, Meereskunde, Kosmologie und Meteorologie stammen.
Antonella Anedda widmet ihre Aufmerksamkeit nicht nur den physiologischen Reaktionen, sondern auch den emotionalen Zuständen. Sie beschreibt in Anestesie eine Reihe an aufeinanderfolgende Gefühle, die sich dynamisch wie eine Achterbahn verhalten und mit einer Klimax enden. Man fängt mit der Traurigkeit an, die zur Nullstellung wird und sich dann in Skepsis und Gleichgültigkeit verwandelt. Nach dem Erwachen ist man von positiven Empfindungen wie Glück, Überraschung und Schönheit berauscht und auf einmal steht man wieder zwischen zwei Kontrasten: Angst, gefolgt von Erleichterung.
Wer mit den Werken von Antonella Anedda vertraut ist, weiß dass, das Subjekt (das Sein, das Ich, das Wesen, der Mensch, usw.) ganz oft auf den lieblichen Körper reduziert wird, und dieser Körper ist nie als Hindernis oder physische Einschränkung gesehen. Auch in diesem Werk kann man auf Zeile 34 lesen, wie der Menschganz biologisch auf ein „winziges Lebewesen, vorwärtsgekommen, indem es Kohlenstoff und Stickstoff gefiltert hat“ reduziert wird. Der Körper ist eher wie eine Leinwand, die „geschnitten, gegraben und wiederzugenäht“ wird (Zeile 19). Diese Vorliebe für den Collage ist nämlich ein weiteres typisches Kennzeichen für die italienische Dichterin.
Anestesie besteht aus 40 Zeilen und in ihrer semi-prosaischen Struktur, können auch Elemente aus der Dichtung erblickt werden. Der Text weist zwar kein Reimschema auf, aber nach einer sorgfältigen Analyse der italienischen Version, fallen interessante Aspekte auf:
- Der Gebrauch von Enjambements
- Die ersten viel Zeilen enden mit „-o“ (percorrendo, portano, ango-, sensazio-)
- Die Zeilen 9 bis 11 enden mit „-ri“ (impari, speri, – ri)
- Die Zeilen 14 bis 16 enden mit „-i“ (entri, medici, chiami)
Nachdem man die Zeilen 28 und 29 („Osservi la bellezza fuori di te, oltre lo spazio che conosci. Chissà.“) gelesen hat, muss man sich fragen, ob die „schreckliche“ Anästhesie wirklich so schrecklich ist. Ist sie denn nicht verantwortlich für ein neues Bewusstsein? Ist man nach der Sedation wirklich in der Lage eine neue und überraschende Form von Schönheit wahrzunehmen? Wird man nach dem Erwachen in eine neue Dimension katapultiert? Steht uns wirklich nur ein Szenario zur Auswahl, wenn unserer Körper durchgeschüttelt wird? Erbrechen versus nicht Erbrechen? Ist denn der feste Boden, der einzige Ort, wo wir uns sicher fühlen können? All diese Fragen bleiben offen, und vielleicht ist es besser so.