Brûler, brûler, brûler (2020)

Cycloparde

Übersetzung und Kommentar von Hannah Leonie Weigert

„De là où je parle, de là où je suis, je sens“ – „Von da, wo ich spreche, von da, wo ich bin, fühle ich“. Dieser einleitende Vers zu Lisette Lombés CYCLOPARADE fängt nicht nur den Ton des Gedichts, sondern auch des gesamten Gedichtbandes, in dem es steht, treffend ein. In beiden werden subjektive Erfahrungen und Gefühle in Verbindung mit der intersektionalen Thematisierung struktureller Gewalten zum poetischen Ausdruck von Solidarität und Militanz.

Das Gedicht ist das zweite der Gedichtsammlung Brûler Brûler Brûler, die jüngste Publikation der belgisch-kongolesischen Poetin, in der sie 20 Gedichte zusammenträgt, illustriert durch eine Auswahl eindrucksvoller Schwarz-Weiß-Collagen. Lombé, die selbst viel mit Poetry-Slam und gesprochenen Präsentationen arbeitet, verleiht ihren Gedichten stets einen Ton, der verlangt, die Gedichte als laut gesprochene Handlungen zu denken. Die Gedichtsammlung basiert auf Berichten von Teilnehmenden der von ihr veranstalteten Ateliers des Kollektivs L-SLAM[1]. Der Titel des Werks referiert auf die vielschichtigen Formen der Gewalt, die sich über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erstrecken2. Dies wird auch in den Themen der Sammlung widergespiegelt: strukturelle Ungleichheiten und Gewalten, Militanz und Solidarität.

Cycloparde
De là où je parle, de là où je suis, je sens.
Je n’ai pas besoin d’ouvrir les yeux, je n’ai pas besoin
de porter le front à l’horizon.
Sous mes paupières, je sens.
Je sens l’odeur tenace de la javel sur les paumes de celles
qui n’ont pu débarquer dans ce cortège, aujourd’hui,
qu’à condition d’avoir bien fait blinquer la baraque
et bien préparé le repas de leur gaillard.
Je sens la goutte de transpiration qui roule sous l’aisselle
de celles qui ne possédaient pas de vélo, et qui, comme
on esquive un resto entre amies lorsque l’on est fauchée,
ont bien failli ne pas oser se pointer sur cette place
aujourd’hui.

Je sens l’épine du calcul de celles qui doivent se compter
et se recompter pour pouvoir exister dans cette masse —
basanées, voilées, handicapées, sans-papiers, putes, tox,
trans, gouines — toutes celles dont on défend les droits
sans jamais entendre le timbre de leur voix.
Je sens le jasmin du thé siroté par les boycotteuses,
celles qui en ont eu ras le cul de sempiternellement
devoir jouer aux invitées surprises et qui trinquent
en coulisses du joli after movie.
Je sens des radicalités qui se frottent, s’affrontent et parfois,
même, qui se décausent et se débectent autour d’une
robe noire à paillettes.
Je sens la solitude des féministes fiancées, le célibat,
les miettes de sexe, les miettes d’amour, le fossé,
les ronces dans le fossé.
Je sens la fatigue des bénévoles et des travailleuses pressées
comme des citrons à peu de frais et qui portent des
slogans autour du cou comme des Sisyphe ou des
mulets. Celles qui rechargent leurs batteries de sens
aux dates symboliques pour tenir le reste de l’année
académique, celles à une étincelle du cramage intégral
et à qui on peut déjà dire au revoir, là, cette après-midi.
Je sens l’hôpital, l’hôpital qui se fout de la charité
et de la solidarité,
je sens le couloir d’hôpital, je sens l’éther dans le couloir
d’hôpital,
l’éther frotte avec frénésie sur la peau de nos différences,
l’éther frotte pour anesthésier,
le temps d’une Cycloparade,
nos petites et nos profondes divergences.

Tout ça, d’où je parle, d’où je suis, sous mes paupières,
je le sens.
Mais si j’ouvrais les yeux, si je portais le front à l’horizon,
je pourrais voir, devant moi, ce magnifique peuple
de guerrières.
Mais si j’ouvrais les yeux, si je portais le front à l’horizon,
je pourrais voir, devant moi, ce magnifique peuple
de guerrières.
Et je ne m’excuserais pas du mot «guerrières» car c’est
exactement ce que je verrais.
Des casques, des scaphandres, de la limaille, des cuirasses,
des cuissardes, de la riposte en ordre de bataille,
des sabres, des kamikazes, des commandos
et des épaulettes en ferrailles précieuses.
Voilà ce que je verrais: un majestueux animal collectif!
Un gigantesque poisson aux écailles métalliques avec
chaque écaille-femme, chaque écaille-fille, chaque
écaille-mère armée à sa manière pour riposter contre
la violence du système.
Et c’est le même système qui te demande d’être violée sans
faire de vagues, le même système qui te demande de te
serrer la ceinture sans faire tout un ramdam autour de ta
précarité, le même système qui te demande de gerber, de
vieillir, de crever sans salir la moquette, le même système
qui te débaptise un tunnel Léopold II par-ci et rebaptise
une place Lumumba par-là pour que tu fermes un peu
ta gueule et c’est le même système qui s’accommode
parfaitement des centres fermés, des jungles, des
bidonvilles sous le périph et des enfants qui grelottent
dans la boue et des hommes nus à ses frontières.
Alors, oui, d’accord, on écrit de beaux poèmes pour
les 8 mars mais so what?
Oui, oui d’accord, on se casse!
Mais pour aller où?
Cycloparde
Von da, wo ich spreche, von da, wo ich bin, fühle ich.
Ich habe es nicht nötig, die Augen zu öffnen, ich habe es nicht nötig,
die Stirn an den Horizont zu tragen.
Unter meinen Lidern fühle ich.
Ich rieche den zähen Geruch von Putzmittel auf den Handflächen
derer, die heute nur dann zu diesem Zug kommen konnten,
wenn sie zuvor die Bude zum Glänzen gebracht und ihrem
Kerl das Essen vorbereitet haben.
Ich rieche den Schweißtropfen, der von der Achsel derer läuft, die
kein Fahrrad besaßen, und die sich, wie man einen Restaurantbesuch
mit Freundinnen umgeht, wenn man kein Geld hat, beinahe nicht
getraut hätten, sich heute auf diesen Platz zu begeben.

Ich spüre den Dorn der Kalkulation derer, die sich zählen und
wieder zählen lassen müssen, um in dieser Masse zu existieren —
dunkelhäutig, verschleiert, behindert, ohne Papiere, Schlampen, süchtig, trans, Lesben — all die, deren Rechte man verteidigt
ohne je den Klang ihrer Stimme zu vernehmen.
Ich rieche den Jasmin des Tees, den die Boykottierenden schlürfen,
diejenigen, die die Schnauze voll davon haben, andauernd die
überraschten Gäste spielen zu müssen, und die hinter den Kulissen
des schönen after movie anstoßen.
Ich spüre Radikalitäten, die sich reiben, aneinandergeraten, und
die sich manchmal sogar schlecht machen und sich ankotzen über
ein schwarzes Pailettenkleid.
Ich spüre die Einsamkeit der verlobten Feministinnen, die Ledigkeit,
die Krümel von Sex, die Krümel von Liebe, der Graben,
die Brombeersträucher im Graben.
Ich spüre die Erschöpfung der Freiwilligen und der Arbeiterinnen,
ausgepresst wie kaum frische Zitronen, und die um den Hals
Slogans tragen wie Sysiphus oder wie Maultiere.
Diejenigen, die ihre Sinnesbatterien mit symbolischen Daten
wiederaufladen, um den Rest des akademischen Jahres auszuhalten,
diejenigen mit einem Funken der integralen Verbrennung und
denen man schon Tschüss sagen kann, jetzt, heute Nachmittag.
Ich rieche Krankenhaus, das Krankenhaus, dem Wohltätigkeit und
Solidarität egal sind,
ich rieche den Flur des Krankenhauses, ich rieche Ether im Flur
des Krankenhauses,
der Ether reibt frenetisch an der Haut unserer Unterschiede,
der Ether reibt um zu betäuben,
Zeit einer Cycloparade,
unsere kleinen und unsere tiefgründigen Gegensätzlichkeiten.

All das, woher ich spreche, woher ich bin, unter meinen Lidern,
das fühle ich.
Aber wenn ich die Augen öffnen würde, wenn ich die Stirn an den
Horizont tragen würde, könnte ich, vor mir, dieses wunderschöne Volk
von Kriegerinnen sehen.
Und ich würde mich nicht für das Wort „Kriegerinnen“
entschuldigen, weil das exakt ist, was ich sehen würde.
Und ich würde mich nicht für das Wort „Kriegerinnen“
entschuldigen, weil das exakt ist, was ich sehen würde.
Helme, Tauchanzüge, Feilspäne, Panzer, kniehohe Stiefel,
Gegenschläge in Kampfordnung,
Säbel, Kamikaze, Kommandos
und Schulterkappen aus hochwertigem Eisen.
Dies ist, was ich sehen würde: ein majestätisches animalisches Kollektiv!
Ein gigantischer Fisch aus metallenen Schuppen mit
jeder Schuppen-Frau, jedem Schuppen-Mädchen, jeder
Schuppen-Mutter auf ihre eigene Weise bewaffnet um
zurückzuschlagen gegen die Gewalt des Systems.
Und es ist das gleiche System, das dich bittet, vergewaltigt zu werden
ohne einen Wirbel zu machen, das gleiche System, das dich bittet,
den Gürtel enger zu schnallen ohne ein Tamtam um deine Prekarität
zu machen, das gleiche System, das dich bittet, zu kotzen, zu altern,
zu verrecken ohne den Teppich zu verschmutzen, das gleiche System,
das dir hier einen Leopold-II-Tunnel umtauft und da einen Lumumba-
Platz neu tauft damit du ein bisschen die Klappe hältst und es ist das
gleiche System, das sich komplett zufrieden gibt mit den geschlossenen
Zentren, den Dschungeln, den Barackensiedlungen unter
der Ringautobahn und den Kindern, die im Schmutz schlottern, und den
nackten Menschen an seinen Grenzen.
Also, ja, in Ordnung, wir schreiben schöne Gedichte für
den 8. März, aber so what?
Ja, ja in Ordnung, wir hauen schon ab!
Aber um wohin zu gehen?

Glossar

  • Centre fermé: Die centres fermés in Belgien sind Haftzentren für Menschen, die sich ohne Aufenthaltsberechtigung in Belgien befinden
  • Cycloparde: Die Cycloparade ist eine Fahrraddemo in Liège, die alljährlich zum internationalen feministischen Kampftag organisiert wird.
  • Front: Le front kann einerseits ‚die Stirn‘, andererseits auch ‚die Front‘ bedeuten.
  • Sentir: Im Französischen ist das Wort sentir eins für ’spüren‘ und ‚riechen‘.

[1] Lisette Lombé, poésie et luttes, 2021.