Brûler, brûler, brûler (2020)

Kommentar von Qui oubliera?

Zusammenfassung und Interpretation

Inhaltlich geht es in „Qui oubliera?“ um Diskriminierung und Rassismus. Das lyrische Ich – und man kann aufgrund ihrer Biografie davon ausgehen, dass Lisette Lombé hier selbst über sich und ihr Umfeld spricht – stellt dazu immer wieder die Frage „Wer wird vergessen?“ So wird in der ersten Strophe gefragt, wer vergessen wird, dass das „Sie“ für die Weißen reserviert waren, während ein Schwarzer geduzt wurde. Der Grund dafür ist nicht Nettigkeit (Zeile 3: „Non certes, comme à un ami“), sondern Diskriminierung. In der zweiten Strophe wird dann eine Reihe von Beschimpfungen aufgezählt, mit der das lyrische Ich vorgibt in der Vergangenheit konfrontiert gewesen zu sein (Zeile 8 zum Beispiel: „Tu es une Bamboula!“). Diese Beschimpfungen sind offensichtlich rassistisch und spielen auf afrikanische Clichés an, zum Beispiel die vermeintliche Rückständigkeit und Verbindung zur Natur und zu Affen (Zeile 15: „Tu devrais remonter dans ton arbre!“). Sie spiegeln auch typische menschenverachtende und ausländerfeindliche Ausdrucksweisen wie „Tu devrais retrourner dans ton pays!“ wider (Zeile 13).

In der dritten, zweizeiligen Strophe wird die Ausgangsfrage, wer das Duzen der Schwarzen vergessen werde/könne, wiederholt, bevor wieder eine längere vierte Strophe folgt. Darin geht es um weitere Schilderungen von Diskriminierung im Alltag und die Rechtfertigungen des lyrischen Ichs, um sich dagegen zur Wehr zu setzen. So heißt es, dass man als Schwarze Person werde lernen müssen, weiterzugehen und damit zurechtzukommen, wenn man zurückgewiesen wird: „C’est déjà loué! C’est déjà pourvu!“ usw. (Zeile 22).  Es wird außerdem geschildert, wie man sich ständig rechtfertigen muss, um Akzeptanz erfahren zu können: „Je suis diplômée! Je suis qualifiée!“ (Zeile 24). Gleichzeitig muss man (im Gedicht werden die Lesenden mit „tu“ direkt angesprochen) sich darauf einstellen, mit Stereotypen von den „wilden, unterentwickelten“ Afrikanern konfrontiert zu werden und zu bestimmten Verhaltensweisen getrieben zu werden. Dazu gehört, dass von einem die Anpassung und Integration sowie sich einzuschränken (Zeile 28: „T’encager. Te corseter.“) erwartet wird und Selbstzweifel, Angst, Scham vor der eigenen Hautfarbe und das Vergessen der eigenen Wurzeln (Zeile 31: „te faire oublier tes frères et tes soeurs“) bewusst hervorgerufen werden. Passend dazu ist ein Vergleich zwischen dem diskriminierten lyrischen Ich und Josephine Baker (Zeile 32), afro-amerikanische Künstlerin aus dem frühen 20. Jahrhundert, die in ihren Auftritten stereotype Fantasien westlicher Gesellschaften zu Afrika widergespiegelt hat (vgl Arte 2021).

In der vorletzten Strophe wird die Ausgangsfrage („Qui oubliera? Qu’à un Noir, on disait tu…“) mehrfach wiederholt und dabei auf andere Minderheiten bezogen, nämlich Araber und Roma, bevor an der Stelle „mon père“ eingesetzt wird. Mit letzterem ist sicherlich gemeint, dass der Vater des lyrischen Ichs (bzw. Lombés Vater) die zuvor beschriebenen Diskriminierungen erfahren hat und mit dem Gedicht direkt adressiert werden soll. Die letzte Zeile steht dann einzeln als letzte Strophe und wiederholt die Frage „Qui oubliera?“. Diese liest sich wie eine Art Mahnung und Hauptbotschaft des Werks: Niemals sollte man die Gräueltaten des Kolonialismus und den damit verbundenen Rassismus in Belgien und anderswo vergessen und nie wieder sollte Rassismus so salonfähig werden, wie es bis weit in das 20. Jahrhundert hinein der Fall war.

Form und Stilmittel

Das Gedicht besteht aus sieben Strophen, die alle unterschiedlich lang sind. So besteht die zweite Strophe aus zwölf Versen, die letzte nur aus einem. Es lässt sich keine typische Form erkennen, die einem bestimmten Schema folgen würde – die Form scheint frei gewählt zu sein und passt dadurch gut zu der postkolonialistischen Idee, dass man sich als diskriminierte Person vom Alltagsrassismus befreien und mit Stolz als Schwarze identifizieren sollte, anstatt sich wie in Zeile 11 („Zu es une bâtarde“) und 30 („avoir honte de ta couleur“) für seine Wurzeln zu schämen.

Auffällig sind zunächst die vielen Anaphern (z.B. „Te faire douter. Te faire avoir peur.“), Alliterationen („Qui oubliera? Qu’à un Noir, on…“) und Wiederholungen (Repetitio) ganzer Sätze und Satzbausteine (z.B. „Ils m’ont dit“). Dadurch bekommt das Gedicht eine Struktur, einen roten Faden. Außerdem wird den eindrücklichen Schilderungen der rassistischen Beleidigungen und Diskriminierungen Nachdruck verliehen. Besondere Aufmerksamkeit erregt die immer wiederkehrende und teilweise alleinstehende Zeile „Qui oubliera?“. Zusammen mit der darauffolgenden Zeile „Qu’à un Noir, on disait tu“ bilden die beiden Verse eine Art Refrain des Gedichts. Am Anfang und am Ende des Gedichts – dadurch wird ein Bogen gespannt – wird jeweils einmal der von Patrice Lumumba ebenfalls verwendete Satz hinzugefügt: „Non certes, comme à un ami – mais parce que le vous, honorable, était réservé aux seuls – Blancs“. „Honorable“ wirkt durch das Hinzufügen von Kommata wie eine Parenthese und gleichzeitig wie eine Hyperbel, die die demütigende Unterscheidung zwischen „du“ und „Sie“ als Ausdruck der Überlegenheit von Weißen gegenüber Schwarzen absurd wirken lässt bzw. diese durch die Übertreibung mit leicht ironischem Unterton verspottet.

Das Gedicht lässt kein klares Reimschema erkennen, allerdings gibt es einige Reime zwischen zwei Zeilen: z.B. Zeile 29/30/31: „avoir peur“/ „ta couleur“/ „tes soeurs“ sowie innerhalb einer Zeile (Z. 24: „diplômée/qualifiée“). Dadurch es ist möglich, einen Lesefluss beim lauten Lesen zu erzeugen und das Gedicht auf emotionale Weise vorzutragen. Ähnlich wie das nicht vorhandene Reimschema sorgen ebenso Enjambements für einen Stil, der Freiheit verkörpert. In Zeile 4 beispielsweise wird der Satz angefangen mit „Mais parce que le vous, honorable, était réservé aux seuls“ und in der darauffolgenden Zeile mit dem Wort „Blancs“ komplettiert. Der Satz ist damit zerstückelt, was bewirkt, dass das Wort „Blanc“ betont wird – möglicherweise um der Absurdität und Ungerechtigkeit dieser Art von Herabsetzung eines Menschen mehr Ausdruck zu verleihen.

Auffällig sind außerdem die vielen unvollständigen Sätze (Ellipsen), meistens in Form von beleidigenden Ausrufen (z.B. Z. 14: „Dans ta hutte!“). Das Gedicht bekommt dadurch einen emotionalisierten Charakter. Einige dieser Ellipsen werden hintereinander aufgezählt und enden mit einem Punkt (ab Zeile 27: „T’intégrer. T’assimiler…“). Dieser Teil bietet sich an, leiser vorgelesen zu werden, wodurch der Spannungsbogen abfällt, bevor er dann wieder mit einem Ausruf am Ende der Strophe ansteigt: „Gazelle-tigresse, le cul, les fesses!“ verkörpert dabei eine Art Höhepunkt (Klimax) der rassistischen Anspielungen durch diesen Vergleich mit einem Tier, das zudem aus zwei Tierbegriffen zusammengesetzt ist und somit als Neologismus die Absurdität der Beleidigungen erneut widerspiegelt. Es handelt sich außerdem um ein melodisch klingendes Trikolon. In den Zeilen 25-32 fangen sieben Verse mit „Tu/te/t‘“ an und die Wörter werden außerdem innerhalb der Zeilen wiederholt. Durch diese Reihe plosiver Laute kommt der Rhythmus beim Lesen ins Stocken. Man könnte sagen, dass dadurch die Schmerzen widergespiegelt werden, die die diskriminierte Person durch die psychische und physische Gewalt („t’encager/te corseter“) erfährt. Zudem werden in der Strophe mehrere Symbole verwendet: „tes frères et tes soeurs“ (Z. 31) steht für die eigene Herkunft bzw. die anderen diskriminierten Menschen. „Toi, le petit oiseau exotique“ kann verstanden werden als ein nach Freiheit strebendes, andererseits aber auch nicht angepasstes und eventuell von der Mehrheitsgesellschaft verspottetes Wesen – passend dazu wird mit dieser Metapher der Vergleich zu Josephine Baker gezogen (Z. 32).

„Qui oubliera?“ und Lisette Lombé – ein Beispiel für postkolonialistische Poesie?

„De fait, en quoi consistent la race et le racisme – et inversement en quoi consistent la mise en esclavage et l’assujettissement colonial – sinon en le pouvoir de se représenter autrui comme « déchet » et en la capacité de l’assigner à cet état de déchet ‘de son vivant même’?“ Dies schreibt Mbembe (2000, VI) im Vorwort seines bereits erwähnten Werkes „De la postcolonie“. In „Qui oubliera?“ geht es genau um diese Form von Rassismus, wie er in der Kolonialzeit entstanden ist und sich in Teilen der europäischen Gesellschaften bis in die heutige Zeit gehalten hat: Das Beispiel, das Schwarze und andere Minderheiten aus Respektlosigkeit geduzt werden, steht für einen Mechanismus, mit dem Weiße ihre Überlegenheit demonstrieren können. Auch wenn es keine direkt koloniale Dominanz mehr gibt, kann man ein solches Verhalten als eine Form postkolonialer Unterdrückung verstehen, die dem von Mbembe beschriebenen Mechanismus entspricht, den „Anderen“ als „Müll“, als minderwertig, herabzusetzen.

Es ist außerdem nach der zuvor geschilderten Definition zutreffend, dass Lombé „durch Perspektiven aus kolonialen Kontexten auf die wechselseitige Konstitution von westlicher und nichtwestlicher Welt aufmerksam machen“ (Boatca 2015, 1) möchte, indem sie in „Qui oubliera?“ ein auf den Kolonialismus bezogenes Zitat aus einer im Kongo gehaltenen Rede auf Belgien in der postkolonialen Zeit bezieht. Dafür steht z.B. der Vers „Tu devrais remercier la Belgique de t‘avoir accueillie!“ (Zeile 17). Wie auch in weiteren Werken klärt Lombé in „Qui oubliera?“ darüber auf, welche Arten von Gewalt (vgl. Mbembe 2000) der Kolonialismus gefördert hat, nämlich in erster Linie das Erfinden von „Rassen“, um eine Gruppe von Menschen als minderwertiger zu definieren und sie dann ausbeuten und herabwürdigen zu können. Der Rassismus wird dann allerdings so beschrieben, wie er dezenter als im Kolonialismus auf alltägliche Weise noch heutzutage in einer postkolonialen Ära vorkommen kann: Nämlich vor allem mit Beleidigungen, mit verschiedenen Formen von Diskriminierung, wenn es bestimmte Rechte oder Zugang zu bestimmten Aktivitäten geht, und mit Formen von Manipulation und Einschüchterung. Letztere sorgen dafür, dass man sich als Schwarze und Person of Color aufgrund des Aussehens nicht vollständig zugehörig fühlt zu der Gesellschaft, in der man geboren ist und dessen Staatsangehörigkeit man eigentlich besitzt. In Bezug auf Zeile 33 des Gedichts konstatiert Lombé selbst: „Je revisite le bestiaire colonial : oiseaux exotiques, gazelles, panthères, tigresses (ebd., 9). Diese Analyse deckt sich mit der Interpretation in dieser Arbeit: Ganz bewusst konfrontiert Lombé ihr Publikum mit afrikanischen und animalischen Stereotypen, um dadurch mit den Formen von Diskriminierung umzugehen und sich mit dem Kolonialismus und Postkolonialismus auseinanderzusetzen.

In „Qui oubliera?“ schwingt Wut und vielleicht auch Frustration mit über den nach wie vor aktuellen Rassismus in Belgien und anderswo. Die andere Facette des Postkolonialismus, die Hoffnung macht auf Besserung und zur Überwindung der alten Machtstrukturen aufruft, ist nur indirekt in dem Gedicht zu finden. Mit dem emotionalen Vortrag der Zustandsbeschreibung wird Empörung ausgedrückt, die das Publikum möglicherweise dazu drängt, die Ungerechtigkeiten bekämpfen zu wollen und sich dagegen zu engagieren. Die Parallelen zur Rede von Patrice Lumumba 1960 in Kinshasa unterstreichen die politische Dimension Lombés Werks und ihren Anspruch politische Künstlerin.

Ob es sich bei Lisette Lombés Poesie um Literatur als reine Kunst oder um eine Art engagierte Literatur handelt, ist zur Beantwortung der Ausgangsfrage entscheidend. Es muss deshalb der Blick geweitet und neben der Interpretation von „Qui oubliera?“ auch auf andere Aspekte geschaut werden. Dazu sind Passagen aus anderen Werken sowie Aussagen Lombés selbst relevant. So sagt Lisette Lombé über sich selbst im bereits zitierten Vorwort von „Black Words“:

Si on entend par engagée le fait que je transforme en poèmes un sentiment de révolte face aux discriminations, que j’assume chacun des mots que j’écris et que je partage ceux-ci dans le but de faire bouger des lignes dans les imaginaires collectifs, alors oui, je suis une auteure engagée (Lombé 2018, Postface, 2).

In einem weiteren Interview von 2020 bekräftigt Lombé diese Haltung und fügt hinzu : „Pour moi, il n’y a pas de possibilité d’épanouissement individuel sans émancipation collective“ (Lombé 2020, 3). Es wird also deutlich, dass Lombé einen Anspruch an sich und ihr Publikum stellt, sich über die Kunst zu emanzipieren, sich also zu befreien von den kolonialistischen, rassistischen und patriarchalen Strukturen. Macht und Selbstbestimmung zurückzugewinnen – insbesondere über den eigenen Körper und das eigene Leben – darum geht es Lombé offensichtlich auch bei ihren Auslandsaufenthalten: „Sur le terrain [au Congo et in Irak], j’utilisais la poésie comme outil d’empowerment“ (Lombé 2018, Postface, 3). Dabei möchte Lombé sich sicherlich nicht nur selbst „empowern“ und Kraft schöpfen aus ihrer Kunst, sondern dies vor allem anderen Frauen und marginalisierten Menschen ermöglichen. Auch ihren eigenen Kindern möchte sie diesen Kampf mit auf den Weg geben:

je veux que ce sang noir qui coule dans nos veines ne soit plus une tare mais bien une source de fierté. J’écris pour que mes enfants n’oublient pas de quel ventre ils sont nés (ebd., 6)

Der Stolz auf die eigenen Wurzeln und die Hautfarbe stellen dabei einen starken Kontrast dar zu den Kolonialerfahrungen von Erniedrigung und dem Auslöschen der eigenen Kultur und Identität dar (vgl. „te faire avoir honte de ta couleur“ im Gedicht). Insofern passt es in die postkolonialistische Strömung, sich als Autorin einerseits mit diesen Ungerechtigkeiten und Gräueltaten aus der Kolonialzeit und andererseits mit den Möglichkeiten der Überwindung bzw. Befreiung aus diesen Strukturen zu befassen. Ebenfalls passend erscheint das Konzept der „littérature engagée“ in der Tradition Sartres im Zusammenhang mit Lisette Lombé, da sich ihre Äußerungen mit der bereits erwähnten Definition von Göttsche et al. (2017) decken, wonach die Literatur dazu genutzt wird, politisch zu agieren.

Auf die Frage hin, wie sie die Zukunft der afrikanischen Poesie und Literatur sieht, antwortet Lombé:

À l’image de l’avenir des luttes et des mouvements qui interrogent et remettent en question l’héritage colonial et patriarcal : de plus en plus visibles, de plus en plus légitimes, de plus en plus populaires, de plus en plus accessibles. Le Vieux Monde prend l’eau pour laisser place à de nouvelles voix. Ceux qui refusent cette réalité appartiennent déjà à un autre temps. (Lombé 2020, 4)

Es wird deutlich, dass Lombé den Anspruch an sich stellt, den Fortschritt und das Überwinden der „alten“ Strukturen in der kolonialen und patriarchalen Logik zu begünstigen. Passend zur Idee der engagierten Literatur empfindet Lombé diesen Anspruch als eine „mission collective“ : „ce ne sont pas juste des témoignages, on a besoin d’écrire notre histoire et de se réapproprier l’espace scénique et public“ (Wernaers 2019). Wieder wird mit dem Begriff „réapproprier“ das Konzept des „Empowerment“ aufgegriffen. Allerdings geht es Lombé damit nicht nur um einen postkolonialistischen Ansatz, sondern auch um ein feministisches Anliegen. Wie ihr Interesse für die Frauen im Irak beispielsweise zeigt, geht es ihr also nicht nur um Schwarze oder die Emanzipation vom Kolonialismus, sondern generell um die Emanzipation von patriarchalen Strukturen weltweit. Auch in der belgischen Slam-Szene, einem sicherlich eher progressiveren Milieu, weist sie auf das Fortbestehen solcher Strukturen hin:

Le public des scènes slam est très masculin et il y a aussi le problème de la réception de la parole des femmes dans un contexte patriarcal. Si les femmes disent un texte engagé sur scène, avec de la colère, elles peuvent être perçues comme hystériques, ce qui n’est pas le cas des hommes. Même si le slam est le milieu artistique le plus bienveillant que je connaisse, il faut y appliquer une grille de lecture féministe. […] Les ateliers nous permettent de travailler collectivement sur les stéréotypes (ebd.)

Wieder geht es dabei also um das Konfrontieren mit und das Aufbrechen von Stereotypen. Die Kritik in Lombés Werken wie „Black Words“ bezüglich der Behandlung von Frauen deckt sich mit Mbembes zuvor erwähnter Feststellung: „le colonisé […] appartient à la sphère des objets“.  Allerdings hat dies in diesem Fall nichts mit rassistischen Clichés zu Afrika zu tun haben, sondern mit geschlechterspezifischen Clichés und Rollenbildern. Dabei geht es ihr nicht nur um das Machtverhältnis von Kolonialherren und Kolonisierten, sondern auch um das Machtverhältnis zwischen Männern und Frauen. Es bleibt also festzuhalten, dass Lisette Lombé als Künstlerin nicht auf die Strömung des Postkolonialismus zu reduzieren ist, sondern ihre Ansichten und ihre Art der „littérature engagée“ weitaus breiter gefasst und in einem Kontext von Intersektionalität zu verstehen sind.

In Bezug auf ihre Irakreise erklärt Lombé: „Je reste en contact avec ces femmes qui m’ont permis de prendre mes distances avec un féminisme européen encore largement ethnocentré“ (Lombé 2018, Postface, 3). Die Aussage lässt sich wohl als eine (postkolonialistische) Kritik am europäischen Feminismus verstehen, weil dieser Schwarzen und Frauen of Color nicht genug Aufmerksamkeit schenke. Die Definition zu Postkolonialismus von Boatca (2015) passt zu dieser Aussage, denn darin geht es darum, eurozentrische Perspektiven zu entlarven.

Fazit

Lisette Lombé kann eindeutig der Strömung des Postkolonialismus zugeordnet werden. Insbesondere ihr Gedicht „Qui oubliera?“ ist für dieses Argument eine geeignete Fallstudie. Inhaltlich setzt sich das Gedicht einerseits mit den Mechanismen von Rassismus und Diskriminierung auseinander, wie sie aus der Kolonialzeit hervorgegangen sind. Kern des Gedichts ist zudem die Verwendung eines zentralen Zitats einer symbolisch aufgeladenen und historischen Rede Patrice Lumumbas am Tag der Unabhängigkeit Kongos von Belgien. Andererseits macht das Gedicht darauf aufmerksam, dass Schwarze und People of Color auch lange nach dem Ende der Kolonialzeit diskriminiert und ­– wenn auch auf ganz andere Art und Weise – durch den kolonialistischen Machtstrukturen ähnelnde Mechanismen dominiert und in ihrer Freiheit massiv eingeschränkt werden. Diese zwei Komponenten entsprechen den Definitionen und der Theoriegeschichte des Postkolonialismus, wie in dieser Arbeit ausgeführt.

Ein ebenso zentrales Element der Literatur von Lisette Lombé – wenn auch nur am Rande im hier ausgewählten Gedicht – ist allerdings der Kampf für Frauenrechte und Emanzipation. Patriarchale Strukturen aufzubrechen, scheint ein zentrales Anliegen der Künstlerin zu sein und wird intersektional mit dem Thema (Post-)Kolonialismus verknüpft und in ihren Werken verhandelt. Der Umgang mit erotischen Motiven und dem eigenen Körper als Symbol für das Zutrauen in die eigene Stärke und Selbstbestimmung spielen dabei eine essentielle Rolle. Insofern ist Lisette Lombé nicht auf eine Strömung zu reduzieren und insbesondere aufgrund ihrer zahlreichen verschiedenen Aktivitäten in ihrer Biografie sollte ihr bisheriges Werk nicht in einen theoretischen Rahmen gezwängt werden. Entscheidend ist, dass Ihre Kunst nicht „zwecklos“ oder auf den Anspruch ästhetischer Schönheit beschränkt ist, sondern als „littérature engagée“ verstanden werden kann, indem literarisches Schaffen mit gesellschaftlichem Engagement für eine vielfältigere, offenere und tolerantere Gesellschaft verknüpft wird.

Literaturverzeichnis

Ashcroft, Bill et al. 2007. Post-Colonial Studies: The Key Concepts. Second Edition. London: Routledge.

Boatca, Manuela. 2015. „Postkolonialismus und Dekolonialität“ in Handbuch Entwicklungsforschung. Letzter Zugriff am 13.9.2021. DOI:10.1007/978-3-658-05675-9_11-1

Césaire, Aimé. 1955. Discours sur le colonialisme. Letzter Zugriff am 13.9.2021. https://www.larevuedesressources.org/IMG/pdf/CESAIRE.pdf

Göttsche, Dirk et al. 2017. Handbuch Postkolonialismus und Literatur. Stuttgart: Metzler Verlag.

Lombé, Lisette. 2018. Black Words. Amay: Maison de la poésie.

Lombé, Lisette. 2020. „Pas de poésie sans engagement – Entretien mené par Julien Jeusette“ in Continents manuscrits : Génétique des textes littéraires – Afrique, Caraïbe, diaspora.

Lombé, Lisette. 2021. „Biographie“. Letzter Zugriff am 10.9.2021. https://www.lisettelombe.com/biographie

Mbembe, Achille. 2000. De la Postcolonie : Essai sur l’imagination politique dans l’Afrique contemporaine. Paris : Éditions Karthala.

Ouest-France. 2020. „L’eurodéputée allemande Pierrette Herzberger-Fofana porte plainte contre des policiers à Bruxelles“. Veröffentlicht am 18.6.2020. Letzter Zugriff am 13.9.2021. https://www.ouest-france.fr/societe/racisme/l-eurodeputee-allemande-pierrette-herzberger-fofana-porte-plainte-contre-des-policiers-bruxelles-6873822

Wernaers, Camille. 2019. „Lisette Lombé: ‘Notre corps est notre outil de militance’“. RTBF. Letzter Zugriff am 10.9.2021. https://www.rtbf.be/info/dossier/les-grenades/detail_lisette-lombe-notre-corps-est-notre-outil-de-militance?id=10271901

Young, Robert J.C. 2016. Postcolonialism: An Historical Introduction. Wiley-Blackwell.

Weitere Quellen:

Arte. 2021. „Joséphine Baker – première icône noire“. Letzter Zugriff am 12.9.2021. https://www.arte.tv/fr/videos/075185-000-A/josephine-baker-premiere-icone-noire/