Auch wenn wir in den vergangenen Sitzungen Luther kritisch hinterfragt haben, bleibt doch richtig, dass in seinen Argumenten eine grosse Sprengkraft für die mittelalterliche Ordnung lag. Am deutlichsten wird dies vielleicht in seiner Schrift „Von der Freiheit des Christenmenschen…“ auch wenn Luther diese gerade nicht als aufrührerisch verstanden wissen wollte. In dieser Schrift legt Luther dar, dass die Seele und der Leib, also dass Innere und das Äußere des Menschen nicht durch die gleichen Dinge zum Wohle kommen. Soviele gute Taten einer auch äußerlich tut, bleibt er für sein Sellenheil dennoch auf die Gnade Gottes angewiesen. Luther meint es genau so theologisch und keienswegs politisch. Aber die Implikationen sind weitgehend.
So folgt daraus, dass das Befolgen der weltlichen Ordnung zwar geboten ist, aber nicht das Seelenheil ermöglicht. Dieses erhalten nur wahre Christen, deren Pflicht es ist, unabhängig von äußeren Gegebenheiten das Christliche zu tun. So stellt es Luther auch im Hinblick auf das Widerstandsrecht dar – und kommt dort zu dem Schluss, dass es kaum je eine Situation geben könnte, in der das Christliche eindeutig gegen die weltliche Ordnung geht. An diesem schwächsten Glied der Argumentation setzen viele seiner zeitgenössischen Kritiker an und schlussfolgern gerade, dass es manchmal, zum Beispiel in ihrer historischen Situation, doch geboten sei, sich gegen die bestehende Ordnung zu stellen. Wenn jeder Christ in der Lage ist, die Schrift zu interpretieren und unmittelbar nur Gott gehorcht, dann sollte sein Urteil auch etwas bedeuten. Christsein kann dann auch bedeuten für seinen Glauben und gegen die Obrigkeit aufzustehen. So wird was Luther als theologisches Argument für die Wahrung der (weltlichen) Ordnung formuliert hat, zum Kern eines neuen Denkens über politische Ordnung und individuelle Verantwortung.
In diesem Sinne ist auch Argula von Grumbachs etwa zweijährige Karriere als Publizistin zu verstehen. Zwischen 1523 und 1524 meldet sich die bayrische Adlige in verschiedenen Flugschriften zu Wort, die die beachtliche Auflage von 30000 Exemplaren erreichten. Sie setzte sich – vordergründig – für die Möglichkeit ein, die Schriften von Luther, Melanchthon und anderen Reformatoren zu lesen und zu verbreiten. Aber allein schon die Tatsache, dass sie als Frau sich in eine bereits so aufgeheizte Debatte einmischte, ist bemerkenswert. Die wohl bekannteste Schrift (von der leider keine modernisierte Fassung zu bekommen ist) trägt den Titel „Wie ein christliche Frau des Adels…“ und ist eigentlich ein Brief an die Theologische Fakultät der Universität Ingolstadt. Ein junger Magister mit dem Namen Arsacius Seehofer hatte unter den Kommilitonen für die Lehren Luthers geworden und war daraufhin unter Androhung von Gewalt von der Fakultät zum Widerruf gezwungen worden. Gegen diese Entscheidung wendet sich Argula von Grumbach und addressiert zunächst nur die Fakultät direkt, sendet den Brief jedoch – nachdem sie keine Antwort erhielt, alsbald auch an verschiedene Regenten in und um Ingolstadt. Erst dadurch erfährt ihre Flugschrift eine solche Prominenz, dass sie mehrfach nachgedruckt und vielfach gelesen wurde.
Argula von Grumbach brach mit diesem Vorgehen gleich mehrere Tabus und ging ein hohes Risiko ein. Wir wollen uns in der kommenden Sitzung mit verschiedenen Fragen beschäftigen, u.a.:
- Wie nutzte Argula von Grumbach Luther’s Argumente für sich – wo doch Luther gegen Aufruhr war?
- Welche Schlussfolgerungen zieht Argula von Grumbach, die es ihr erlauben sich als Frau zu Wort zu melden?
- Zeigt sich hier emanzipatorisches Potential der Reformation?
Um diese Fragen zu diskutieren ist ein genaues Textverständnis wichtig, wir werden also sehr dicht am Text bleiben. Fragen und Wünsche für die Diskussion gern auch schon vorab hier im Blog.
Literaturempfehlung
Tags: Argula von Grumbach, Argumentationsanlyse, Feminismus, Flugschrift, Reformation, Widerstand