Stadtkultur Moskau

Die Exkursion

3. Tag: Funktionsbauten

Eine Einführung von Dr. Thomas Flierl. Fotografie Timur H Kiselev (wie auch alle weiteren Fotografien, wo keine Quelleangabe steht)

Eine Einführung von Dr. Thomas Flierl. Fotografie Timur H Kiselev (wie auch alle weiteren Fotografien, wo keine Quelleangabe steht)

Unser nächstes Ziel an jenem Tag (nach der Besichtigung des alten und neuen Arbat) waren u.a. die Ministerien am Gartenring im Nordosten Moskaus, und als erstes – das Gebäude der Russische Eisenbahnen (RZD; Russisch (auch weiterhin): Российские железные дороги) an der Nowaja Basmannaja Straße 2 (Новая Басманная улица), im Volksmund „Haus- Dampflokomotive“ genannt.

Ursprünglich das Gebäude des Instituts für adlige Mädchen (Институт для благородных девиц имени императора Александра III в память императрицы Екатерины II), wurde es 1930 als Volkskomissariat für Eisenbahnverkehr vom Architekten Ivan Fomin (Иван Александрович Фомин) neugestaltet, dann 1946 zum Eisenbahnministerium des UdSSR (Министерство путей сообщения СССР) umstrukturiert. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde das Gebäude 1992 zum Eisenbahnministerium der Russischen Föderation. Seit 2003 steht das Gebäude in der Nutzung von RZD.

Institut für adlige Mädchen namens des Imperatoren Alexander III. zum Andenken an Ekaterina II. 1906—1910, Moskau. Fotografie Richtung Osten. Quelle: Magazin Iskry (Журнал Искры); https://all-photo.ru/empire/index.ru.html?id=20454&kk=e1428290dd (letzter Zugriff: 02.07.2015)

Institut für adlige Mädchen namens des Imperatoren Alexander III. zum Andenken an Ekaterina II. 1906—1910, Moskau. Fotografie Richtung Osten. Quelle: Magazin Iskry (Журнал Искры); https://all-photo.ru/empire/index.ru.html?id=20454&kk=e1428290dd (letzter Zugriff: 02.07.2015)

Architektonisch ist der neue Bau dem Spätkonstruktivismus zuzuordnen. Die Rekonstruktion des Instituts für adlige Mädchen 1930 erfolgte im Zusammenschluss mit dem nebenstehenden Gebäude und der Einrichtung eines Uhrturms, der lange Zeit das höchste Gebäude in der Umgebung war; die Uhr waren damals gut zu sehen, sowohl vom Gartenring als auch vom Kalantschewskaja Platz (Каланчёвская площадь).

Blick auf das Gebäude der Russischen Eisenbahnen

Einige Hundert Meter weiter Richtung Kazanskij Vokzal (Russisch:Казанский вокзал), an der Nowaja Basmannaja Straße 5/1, befindet sich die Poliklinik des Volkskomissariats für Eisenbahnverkehr (Поликлиника Наркомата путей сообщения (МПС)), 1928 vom selben Architekten Fomin gebaut; nun ist hier die Amtspoliklinik der RZD. Dieses Gebäude haben wir leider nicht geschafft zu besichtigen.

Poliklinik des Volkskomissariats für Eisenbahnverkehr, Nowaja Basmannaja Straße 5/1.  Quelle: Sergey Norin https://www.flickr.com

Poliklinik des Volkskomissariats für Eisenbahnverkehr, Nowaja Basmannaja Straße 5/1.
Quelle: Sergey Norin
https://www.flickr.com

Gegenüber dem Gebäude der Russische Eisenbahnen befindet sich am Gartenring (Sadowaja-Spasskaja Straße 21) das Haus am Roten Tor, eines der sog. Sieben Schwestern, erbaut 1953 von Alexei Duschkin (Алексей Николаевич Душкин) und Boris Mezentsew (Борис Сергеевич Мезенцев). Der 24-stöckige Bau (im zentralen Teil) ist zwar nur ca. 110 Meter hoch und damit der niedrigste der Sieben Schwestern, scheint jedoch optisch auf vergleichbarer Höhe mit dem Lomonossow-Universitätsgebäude zu stehen aufgrund seiner Platzierung am höchsten Teil des Gartenrings. Das Gebäude besteht aus dem zentralen Block, wo u.a. das Transportmaschinenbauministerium, das Moskauer Stadtbauunternehmen Transstroi, die MICEX – Moscow Interbank Currency Exchange unterbracht sind, und zwei Wohnnebenblöcken. Insgesamt befinden sich im Gebäude ca. 270 Wohnungen. Im Erdgeschoss des Baus ist das nördliche Eingangsvestibül der Metrostation „Krasnyje Worota“ (Красные ворота) integriert, die zur gleichen Zeit wie der Bau des Hochhauses entstand.

Das Haus am Roten Tor, Sadowaja-Spasskaja Straße 21

Interessant ist auch die innovative Bauweise, die während des Bauens des Hauses und der Metrostation verwendet wurde, – das trug zur besonderen Schwierigkeit der Bauarbeiten beim Haus am Roten Tor im Vergleich zu allen anderen Schwestern bei. Das Hauptproblem bestand darin, dass der linke Flügel des Gebäudes über der Metrostation gebaut werden musste. Daher musste eine Technologie des Tiefbaus ohne Befestigungen verwendet werden, ersmals in der internationalen Baupraxis; der Boden wurde eingefroren, was komplizierte Berechnungen nötig machte, um eine spätere Schiefstellung des Baus zu vermeiden (ausführlichere Information siehe unter https://archi.ru/russia/4587/neboskreb-na-krasnyh-vorotah (leider nur auf Russisch)).

Auf der gegenüberliegenden Seite des Gartenrings finden wir das sündliche Eingangsvestibül der Metrostation „Krasnyje Worota“, eröffnet gleichzeitig mit der Metrostation. Errichtet wurde es 1935 vom Architekten Nikolaj Ladowskij (Николай Алессандрович Ладовский), dem spiritus rector des Rationalismus, einer Gattung in der Architektur der sowjetischen Avangarde mit Schwerpunkt rezeptionspsychologischen Charakteristika von Bauten und Räumen (mehr siehe in Selim O. Khan−Magomedov (Hg.): Rationalismus (Ratio-Architektur) – “Formalismus”, Moskau 2007).

Ladowskijs Eingangsvestibül hat die Form eines komplexen Portals, bestehend aus vier konzentrischer Halbkreisen, was einerseits dem Metrotunnel in Perspektive, andererseits der Muschel oder gar dem kreisförmigen Stadtplan Moskaus ähnelt. Das gewölbte Eingangsportal geht in das rechteckige verglaste Volum über (mehr dazu siehe in Alexander Anisimow: Moskau. Architekturguide, Moskau 1997).

Sündliches Eingangsvestibül der Metrostation Krasnyje Worota. Fotografie Richtung vom Gartenring

Wenn mensch dem Gartenring im Gegenuhrzeigersinn weiter folgt, dann ist auf der rechten Seite ein weiteres konstruktivistisches Gebäude in roter Farbe zu sehen – das Volksministerium für Landwirtschaft der UdSSR (NARKOZEM; НАРКОЗЕМ) an der Sadowaja-Spasskaja Straße 11/1 (nun das Ministerium der Landwirtschaft der Russischen Föderation).

Ministerium der Landwirtschaft der Russischen Föderation

Erbaut 1927-1933 vom prominenten Architekten des Spätkonstruktivismus Alexei Schtschussew (Алексей Викторович Щусев) nimmt das Gebäude den ganzen Wohnblock zwischen Sadowaja-Spasskaja Straße und Orlikow Weg (Орликов переулок) ein: vier massive Blöcke sind rund um den trapezförmigen Innerhof gruppiert und erzeugen an den Schnittstellen eine dynamische Komposition, die durch rhythmische horizontale Fensterbänder auf eintönig geputzte flache Wänden und schwungvolle Übergänge zwischen zylindrischen und kubischen Volumen zur Wirkung kommt. Unter den Besonderheiten des Interieurs ist das bis heute funktionierende Paternoster-System zu erwähnen (https://de.wikipedia.org/wiki/Paternosteraufzug; Videoaufnahme in NARKOZEM: https://www.youtube.com/watch?v=DFpDJwSD71o) Mehr zum Gebäude siehe unter https://um.mos.ru/houses/zdanie_narkomata_zemledeliya/.

Ca. 100 Meter südwestlich vom Gartenring entfernt, in der Mjasnitskaja Straße 47 (Мясницкая улица) ist ein weiteres konstruktivistisches Gebäude zu entdecken – nämlich die Föderale Agentur für Turismus (ROSTURISM; РОСТУРИЗМ), früher Staatliche Export-Import-Kanzlei der RSFSR (GOSTORG, Госторг). Errichtet 1927 vom Architekten Boris Welikowskij (Борис Михайлович Великовский) in Zusammenarbeit mit M. Barsch (М.О. Барщ), M. Gaken (М.В. Гакен), A. Langman (А.Я. Лангман) und G. Wegman (Г.Г. Вегман), weist das Gebäude eine klare rationalistische Stilistik auf, die in sechs symmetrisch nenebeinander platzierten 7-stöckigen Blöcken, die in einem Baukomplex vereinigt sind, zum Ausdruck kommt.

Infotafel auf dem Gebäude des GOSTORG. Quelle: https://progulkipomoskve.ru/foto1/dom/3/myasnitskaya47.jpg (letzter Zugriff: 02.07.2015)

Nach dem ursprünglichen Plan sollte das Gebäude mit einem 14-stöckigen über dem zentralen Teil herausragenden Turm versehen werden, aufgrund von Höhebeschränkung laut Schtschussews Bauplan „Neues Moskau“ (План «Новая Москва») wurde diese Idee jedoch nicht verwirklicht. Unter den architektonischen Neuerungen des Baus sind u.a. zu erwähnen: explizites visuelles Auftreten vom Stahlbetongerüst des Gebäudes, Öffnung der Räume und Volumina nach draußen, Klarheit der lakonischen Formen, breite Flächenverglasung und Simplizität des Rhythmus der Fassadengliederung (https://wikimapia.org/219765/ru/Федеральное-агентство-по-туризму-Ростуризм-бывш-здание-Госторга-РСФСР).

Föderale Agentur für Turismus (ROSTURISM), Frontalansicht. Quelle: https://www.mmsk.ru/objectdata/CatalogUnitImpl/29243/Velikovskij_13_Md.jpg (letzter Zugriff: 01.07.2015)

Heutzutage sind im Gebäude diverse Einrichtungen unterbracht, u.a. der Menschenrechtsrat beim russischen Präsidenten, das ukrainische Restaurant „Korchma Taras Bulba“, das japanische Restaurant „To Da Syo“, die usbekische Teestube „Uryuk“ und das Möbelgeschäft MEBELPROEXPO.

Das Endziel unserer „giornata“ war das weltberühmte Bürogebäude des ZENTROSOJUS (NARKOMLEGPROM) (Центросоюз) in der Mjasnitskaja Straße 39, ein exemplarisches Beispiel der europäischen Avangarde der 1920-30er Jahre und eines der ersten Bürobauten mit durchgehender Verglasung europaweit, gebaut 1936 nach dem Projekt von Le Corbusier in Kooperation mit Pierre André Jeanneret und Nikolaj Dschemsowitsch Kolli nach einem Auswahlverfahren im offenen internationalen Wettbewerb, an dem u.a. die Wesnin-Brüder, Boris Welikowskij, Sergej Tschernyschew und Andrej Krjatschkow teilnahmen. Infolge der Funktionswechsel wurde der Bau im Laufe der Zeit von diversen Ämtern genutzt: zunächst vom ZENTROSOJUS, dann vom NARKOMLEGPROM UdSSR (Наркомлегпром СССР), danach vom Ministerium für Textilwirtschaft UdSSR (Министерство текстильной промышленности СССР), dann von der Zentralverwaltung für Statistik UdSSR (ЦСУ СССР). Heutzutage befindet sich im Gebäude die Niederlassung des Bundesamtes für Staatsstatistik ROSSTAT (Федеральная служба государственной статистики Росстат).

ZENTROSOJUS, Fotografie Richtung von Akademika Sacharowa Allee. Quelle: https://corbusier.totalarch.com/centrosoyus (letzter Zugriff: 01.07.2015)

Das ZENTROSOJUS-Gebäude ist architektonisch gekennzeichnet durch die riesigen Glasflächen, freistehende Stützstreben, horizontale Dächer und freie Räumlichkeiten im Erdgeschoss – die wesentlichen Eigenschaften von Corbusiers Architektur der 30er Jahre. Im Erdgeschoss ist ein geräumiges Eingangsvestibül mit Freitreppen und Rampen für die Verbindung zwischen den Etagen zu sehen.

ZENTROSOJUS, Fotografie Richtung von Mjastitskaja Straße. Quelle: https://static.panoramio.com/photos/large/62403989.jpg (letzter Zugriff: 01.07.2015)

Das ZENTROSOJUS-Gebäude ist architektonisch gekennzeichnet durch die riesigen Glasoberflächen, offenstehenden Stützstreben, horizontale Dächer und die freien Räumlichkeiten im Erdgeschoss – die eigentlichen Eigenschaften der Le Corbusierschen Architektur der 30er Jahre. Besonders ist hier auch der dynamische Kontrast zwischen den kubischen Blöcken und gebogenen Formen des Clubpavillions und der Treppenhäusern. Im Erdgeschoss ist ein geräumiges Eingangsvestibül mit Freitreppen und Rollstuhlrampen (die dienten jedoch nur der Verbindung zwischen dem Erdgeschoss und dem 1. Obergeschoss) für die Verbindung der Etagen zu sehen.

ZENTROSOJUS, Eingangshalle

Le Corbusiers Idee war also „to constitute in Moscow a true demonstration of contemporary architecture based upon the archievements of modern science“ (Udovicki-Selb, Danilo: Le Corbusier, les jeunes 1937 et le front populaire, in: M.-L. Jousset (Hg.): Charlotte Perriand. Paris 2006. S. 41-61). Der Bau wurde für ca. 2000 Arbeiter*innen geeignet und unterbrachte neben den Büroräumen auch die öffentliche (Unterhaltungs-) Räume, u.a.: ein Klub, Geschäfte, eine Turnhalle, eine Kantine, eine Bibliothek, ein Ambulatorium.

Was die bautechnische Seite des Baus anbetrifft, so wurden hier neue technologische Modelle in der Praxis umgesetzt, wie das Etagengestell aus Stahlbeton, die freie Raumeinteilung ermöglicht, – was zu jener Zeiten zum ersten Mal in Sowjetunion eingesetzt war. Eine weitere Neuerung von Le Corbusier waren abgedichtete Aufhängeprallwände mit Vakuum anstatt Luft zwischen den Glasschichten zwecks Wärmeisolierung von Innerräumen. Außerdem war im Gebäude ein hausinternes spezielles Belüftungssystem zu integrieren, das jedoch nicht realisiert wurde (siehe mehr zum Thema unter https://archspeech.com/article/zdanie-centrosoyuza-edinstvennaya-moskovskaya-postroyka-le-korbyuz-e, https://corbusier.totalarch.com/centrosoyus).

Stilistisch sollte die Architektur des Gebäudes “[…] be in the pronounced style of an official central administrative building. Most attention should be paid to the silhouette and relief. The beauty and grandeur of the edifice will depend on the simplicity of its forms. Decorative detail should be avoided wherever possible…The Centrosoyuz building is to be located on a raised square overlooking three broad thoroughfares, and can thus constitute a notable architectural unity.” (Cohen, Jean-Louis: Le Corbusier and the mystique of the USSR, Princeton University Press 1992). Das Projekt wurde mehrdeutig von den führenden Architekten angesehen; So Jakob Kornfeld war der Meinung, dass das Aussehen des Baus ist allzu funktionalistisch sei, wo eher Maschinen als Menschen unterbracht werden (Khan-Magomedov, Selim O.: Pioneers of Soviet Architecture: The Search for New Solutions in the 1920s and 1930s. Moskau 1987; https://www.alyoshin.ru/Files/publika/khan_archi/khan_archi_2_087.html#1). Ivan Fomin schrieb 1934 in seinem Artikel „Über die Schlichtheit und den Reichtum“ („О простоте и богатстве“), dass Le Corbusier zwar schön und günstig in praktisch bedingten Formen bauen will, jedoch fehlen in seinem Architekturvokabular die Munterkeit, Mut und Lebensfreude, wodurch sich die Bauten der Sowjetarchitekten auszeichnen (Ebd.). Aleksander Wesnin druckte sich im Gegenteil wie folgt aus: „Der Bau […] ist zweifellos der beste Bau, der in Moskau im letzten Jahrhundert gebaut wurde […] Die ausgezeichnete Klarheit der architektonischen Idee, die Prägnanz im Formen von Massen und Volumen, die Reinheit der Proportionen, die Klarheit der Verhältnisse zwischen den Elementen, abgestimmt nach Kontrast und Nuancen, die Masstabverhältnisse des ganzen Baus und seiner einzelner Teile, die Leichtigkeit und gleichzeitig die Monumentalität der Baukonstruktion, die architektonische Einheit, die Schlichtheit sind charakterisch für dieses Gebäude“ (Ebd.). Unter dem folgenden Link ist eine zeitgenössiche 3D-Visualisierung des Baus zu finden: https://www.behance.net/gallery/20957571/3D-vizualizacija-proekta-zdanija-centrosojuza-le-korbjuze

Johanna Blees trägt über ZENTROSOJUS vor =)

 

Der Beitrag wurde am Dienstag, den 2. Juni 2015 um 20:10 Uhr von Susanne Strätling veröffentlicht und wurde unter Allgemein abgelegt. Sie können die Kommentare zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können einen Kommentar schreiben, oder einen Trackback auf Ihrer Seite einrichten.

Schreibe einen Kommentar

Captcha
Refresh
Hilfe
Hinweis / Hint
Das Captcha kann Kleinbuchstaben, Ziffern und die Sonderzeichzeichen »?!#%&« enthalten.
The captcha could contain lower case, numeric characters and special characters as »!#%&«.