Stadtkultur Moskau

Die Exkursion

Tag 6: Wohnen im Zeichen des Sozialismus

Am sechsten Tag der Exkursion standen drei herausragende Beispiele der sozialistischen Wohnungsbauarchitektur im Mittelpunkt unserer Exkursion: das Haus an der Uferstraße (Dom na Nabereznoj), das 1928-1931 von Boris Iofan konzipiert wurde, das Studentenwohnheim an der ul. Ordžonikidze, das von 1929-1939 von Ivan Nikolaev entworfen wurde, und schlussendlich die erste industrielle Wohnungsanlage der Sowjetunion im Stadtteil Novye Ceremuski, in der ab 1959 verschiedene Prototypen späterer Plattenbauten gebaut wurden. Trotz der offensichtlichen Unterschiede zwischen den einzelnen Anlagen hinsichtlich Ästhetik, politischer Funktion und architekturgeschichtlicher Bedeutung konnten gemeinsame Grundideen des sowjetischen Wohnungsbaus beobachtet werden.

Industrieller Plattenbau: Haus Nr. 14 in Novye Čeremuški

Auffallend ist vor allem die uniforme Gestaltung der einzelnen Wohneinheiten in den jeweiligen Gebäuden. Die individuelle Gestaltung der eigenen vier Wände war in der sowjetischen Gesellschaft nicht erwünscht und oft nicht möglich. Im Studentenwohnheim mussten sich die jungen Studenten eine knapp 5 qm große Zelle teilen. Die Sanitäranlagen und Freizeitmöglichkeiten waren in gemeinschaftlichen Gebäudeteilen untergebracht. Auch wenn diese Anlage sicher ein Extrembeispiel darstellt, so ist sie doch der Gestaltung in den anderen heute besichtigten Gebäuden nicht ganz unähnlich. So gab es auch im Haus an der Uferstraße beispielsweise nur sehr kleine Küchen, in denen praktisch nichts gekocht werden konnte. Die Bewohner durften keine eigenen Möbel in das Haus mitnehmen und mussten mit den Betten und Schränken der Vormieter vorlieb nehmen.  Die Anlagen in Novye Ceremuski wurden später in der ganzen Sojwetunion nach den gleichen Prototypen gebaut und bestanden aus den immer gleichen industriell gefertigten Bestandteilen.

Saniertes Studentenwohnheim auf der ul. Ordžonikidze

Saniertes konstruktivistisches Studentenwohnheim auf der ul. Ordžonikidze

Eine weitere Gemeinsamkeit liegt in der Konzeption der Wohnanlagen als Mikrokosmen. In allen heute besichtigten Anlagen sollten alltägliche Aufgaben und Routinen, vom Einkaufen im Supermarkt über sportliche Betätigungen bis zur persönlichen Weiterbildung innerhalb des Wohnkomplexes bzw, der Wohnanlage bewältigt werden. Diese Konzeption unterstreicht die Idee des gemeinschaftlichen Wohnens wie auch die Idee, die reproduktiven Aufgaben des Alltags zu kollektivieren und zu rationalisieren. Diese Idee ist im Studentenwohnheim selbst heute noch präsent und wurde im Rahmen der Führung durch das renovierte Wohnheim von der Vizedirektorin eigens betont (wenngleich auch heute mit mehr privaten Gestaltungsmöglichkeiten). Im Plattenbau gab es dann zwar mehr Freiheiten und mehr private Räume als noch in den 1930er Jahren, die gesamte Wohnanlage war aber dennoch als gemeinschaftliches Ensemble gedacht.

Dieser Aspekt ist eng verknüpft mit der architektonischen Idee, den Alltag des sozialistischen Menschen durch die Architektur umzuformen. So war im Studentenwohnheim klar geregelt, wo und wann welche Tätigkeit ausgeführt werden sollte, vom Schlafen über das Essen bis zum Sex. Feste Tagesabläufe wurden auch im Haus an der Uferstraße implementiert. Dort sorgten die Hunde des Hauses dafür, dass nach 11h kein Bewohner unbemerkt ins Haus gelangen konnte.

Gedenken an die Opfer der Repressionen im Museum des Hauses an der Uferstraße

Eine solche Konzeption führte schließlich zu einem extrem hohen Maß an sozialer und politischer Kontrolle. Nirgends wird dies so deutlich wie im Haus an der Uferstraße, in dem die hochrangigen Mitarbeiter des Staates Tag und Nacht überwacht wurden. Viele der Bewohner wurden in den Jahren des Großen Terrors Opfer der stalinistischen Paranoia. Eine Wohnung sah so in den Jahren 1937-38 bis zu fünf verschiedene Mietparteien. Wenngleich es im Studentenwohnheim und im Plattenbau unblutiger zuging, so herrschte auch dort ein hohes Maß an gegenseitiger Kontrolle. Allerdings deuten sich im Plattenbau mit seinen gesteigerten individuellen Möglichkeiten schon die neuen Leitbilder des Tauwetters an.

Interessant ist hierbei vor allem, dass diese Gestaltungsideen quer durch die sozialen Schichten gingen. Auch in einem elitären Wohnhaus wie dem an der Uferstraße herrschten, obgleich luxuriöser in Ausstattung und Anlage, ähnliche Grundideen wie im Studentenwohnheim und später auch im Plattenbau. Hierbei gibt es aber wahrscheinlich einen Bruch in den späteren stalinistischen Jahren, in denen vor allem große elitäre Wohnblöcke gebaut wurden und die Gemeinschaftsidee in den Hintergrund rückte. Davon zeugt vor allem der Bau Zoltovskis an der Mochowaja, der speziell für den damaligen Geheimdienstchef Jagoda entworfen wurde und zum Archetyp des späteren stalinistischen Wohnungsbaus wurde.

Allgemein wurde während unserer Exkursion bisher beobachtet, dass das Bewusstsein für die Geschichte und Ästhetik vieler frühsowjetischer Gebäude nicht besonders hoch ist. Diese Beobachtung wurde heute teilweise revidiert. Im Haus an der Uferstraße wurde in den Jahren der Perestroika von der Witwe des bekannten Schriftstellers Jurij Trifonov, der selbst im Haus lebte und dem Komplex in seinem Roman „Das Haus an der Uferstraße“ ein literarisches Denkmal setzte, ein kleines Museum über die Geschichte des Hauses und seiner Bewohner eingerichtet. Viele Gedenktafeln zeugen an den Wänden des Gebäudes bis heute von seiner blutigen Geschichte. Das Studentenwohnheim an der ul. Ordžonikidze wurde in den letzten Jahren umfassend restauriert bzw. teilweise rekonstruiert. Auch wenn es hier zu einigen restauratorischen Fehlgriffen kam, die nicht im Einklang mit Nikolaevs Architektur stehen, kann die Umgestaltung und Modernisierung des Gebäudes (Einbau von Aufzügen. Vergrößerung der Zimmer) insgesamt als gelungen bezeichnet werden, da im Großen und Ganzen die Ästhetik des konstruktivistischen Gebäudes bewahrt wurde. Eine ähnliche Entwicklung würde man sich auch für das Narkomfin-Gebäude wünschen. Ob der sozialistische Plattenbau diese Wertschätzung jemals erlangen wird, ist höchst zweifelhaft, wovon die vielen ratlosen und staunenden Blicke der Passanten und Bewohner auf unsere deutsche Forschungsgruppe Zeugnis ablegen.

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Der Beitrag wurde am Donnerstag, den 4. Juni 2015 um 19:44 Uhr von Henriette Magerstädt veröffentlicht und wurde unter Allgemein abgelegt. Sie können die Kommentare zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können einen Kommentar schreiben, oder einen Trackback auf Ihrer Seite einrichten.

Eine Reaktion zu “Tag 6: Wohnen im Zeichen des Sozialismus”

  1. Gustav Sucher

    Hallo, die vielen sozialen Wohnungen sind oft sehr alt und zerfallen. Ich kenne ein paar Familien, die in einer solchen Wohnung wohnen. Zusammen zu wohnen ist allgemein eine tolle Sache. Es sollten allerdings die Grundlagen für ein gutes Leben gegeben sein. Danke für alles! https://www.salzburg-apartments.eu/kurzzeitwohnen

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