Wohl für die meisten Europäer, sicherlich für die meisten Deutschen waren die Vereinigten Staaten von Amerika lange der Inbegriff einer „pragmatischen Nation“: dem Diesseits zugewandt, allem Doktrinären abgeneigt, kurz: das Land der „angewandten Aufklärung“, um an den Titel eines vor dreißig Jahren in Deutschland viel gelesenen Buches von Ralf Dahrendorf zu erinnern.
Sie konnten sich dabei auch auf prominente amerikanische Kronzeugen berufen. Henry Steele Commager, dessen 1950 erschienenes Buch „The American Mind“ zu einem Klassiker der „American Studies“ wurde, erklärt darin sowohl die moderne Kunst wie die Religion für „irrational“ und damit für zutiefst unamerikanisch.Arthur Schlesinger, Jr., der historicus laureatus des tausendtägigen Reiches John F. Kennedys, hielt noch bis zu Zeiten der beinahe erfolgreichen Präsidentschaftsbewerbung von Pat Robertson die Säkularität für das herausragende Merkmal typischen Amerikanertums. „Der amerikanische Geist“, so ließ er im Jahre 1989 in einer Einführungsrede für einen neuen Universitätspräsidenten verlauten, „ist seinem Wesen nach skeptisch, respektlos, pluralistisch und relativistisch.“ Die beiden „größten und charakteristischsten amerikanischen Denker“, so Schlesinger, seien William James und Ralph Waldo Emerson. Amerika finde man komprimiert zusammengefasst in jener berühmten Szene aus dem „größten aller amerikanischen Romane“, Mark Twains „Huckleberry Finn“, als Huck sich dazu durchringt, Nigger Jim bei seiner Flucht zu helfen; nach Ansicht Schlesingers offenbar deswegen, weil hier bei Huck in jenem entscheidenden Moment seines Lebens und der amerikanischen Literatur zugleich die Wesensmerkmale des amerikanischen Geistes zum Vorschein kommen: Skepsis, Respektlosigkeit, Pluralismus und Relativismus.
Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ein Bild von Amerika als Inbegriff aufgeklärter Modernität und pluralistischer Skepsis zu verbreiten, mag als treuherziger Versuch gewertet werden, seine militärisch-ökonomische Führungsposition vor dem Rest der Welt auch ideologisch zu flankieren. Auch hatte eine solche Einschätzung damals noch einen Kern von Plausibilität. Dieselbe Einschätzung aber dann nach gut vierzig Jahren kontinuierlicher „Resakralisierung“ Amerikas nicht nur zu wiederholen, sondern sie ausgerechnet an Huckleberry Finn exemplifizieren zu wollen, erweckt doch einiges Staunen. Denn wenn der (ungläubige) Mark Twain in diesem Roman etwas darstellen wollte, dann den Dogmatismus und den Aberglauben, die Unaufgeklärtheit und die Dämonenfurcht, den Glauben an die Unentrinnbarkeit von Sünde und Verdammnis, die das Denken und Handeln der meisten seiner Landsleute bestimmten und die deren religiöse Kultur für Amerikas gebildete Stände unheimlich machte, sofern die sich dazu herabließen, von ihr Notiz zu nehmen.
An der Religiosität der amerikanischen Bevölkerung hat sich bis heute nichts geändert. Jede neue Meinungsumfrage bestätigt die gleichen, hundertmal protokollierten Fakten: Die Gesellschaft der USA mag in den letzten hundert Jahren die gewaltigsten strukturellen Veränderungen durchgemacht haben, von der Industrialisierung über die Massenproduktion bis zur Verstädterung, von der Explosion der Wissenschaften über die Einführung der allgemeinen Schul- und (zeitweise) Wehrpflicht bis zur allerjüngsten Microchip-Revolution – was die Religiosität der amerikanischen Bevölkerung und die überragende Bedeutung des Glaubens für die amerikanische Alltagskultur einschließlich der Politik betrifft, so sehen diese Dinge heute kaum anders aus als zu Zeiten Mark Twains.
Hier sind die immer wieder bestätigten Zahlen:
Neun von zehn Amerikaner/innen sagen, sie hätten niemals in ihrem Leben an der Existenz Gottes gezweifelt.
Acht von zehn Amerikaner/innen erklären ihren Glauben an den Tag des jüngsten Gerichts, an dem sie vor ihren Gott zu treten und über ihre Sünden Rechenschaft abzulegen hätten.
Acht von zehn Amerikaner/innen sind davon überzeugt, dass Gott auch heute noch gelegentlich auf Erden Wunder bewirkt.
Sieben von zehn Amerikaner/innen glauben an ein Leben nach dem Tode.
50% der Amerikaner/innen glauben an die Existenz von Engeln, 37% an einen persönlichen Teufel.
Ungefähr 40% der amerikanischen Bevölkerung besucht in einer gewöhnlichen Woche eine Kirche, über 90% geben an, mehrmals wöchentlich zu beten.
40% derjenigen, die sich an der Präsidentenwahl 1980 beteiligt hatten, gaben an, mindestens eine persönliche Erfahrung mit Jesus gehabt zu haben.
Selbstverständlich sind diese Daten mit der gebotenen Skepsis zu lesen: allzu sehr hängen die Resultate von Meinungsumfragen davon ab, wie die Fragen gestellt werden, und außerdem antworten viele Menschen auf solche Fragen nicht so, wie sie wirklich denken, sondern so, wie sie meinen, dass es von ihnen erwartet wird. Aber dennoch: Ein Bild der US-Gesellschaft ergibt sich daraus in jedem Fall. Der amerikanische Wahlforscher und Politikwissenschaftler Walter Dean Burnham hat daraus immerhin den Schluss gezogen, dass die Vereinigten Staaten von Amerika eines der gängigsten Theoreme der Sozialwissenschaften – die proportionale Beziehung zwischen industriell-technischer Entwicklung und dem Verfall traditioneller Glaubenssysteme – widerlegen. In so gut wie allen Gesellschaften der Welt lasse sich eine direkte Korrelation zwischen industrieller Modernisierung und technologischer Entwicklung auf der einen Seite und einer Säkularisierung der Glaubenssysteme auf der anderen Seite beobachten.
Die Beziehung sei regelmäßig genug, um normalerweise vom einen auf das andere schließen zu können. Allein für die USA gelte das nicht: Bei einer internationalen Gallup-Untersuchung von 1976, bei der in 14 Ländern bzw. Großregionen in aller Welt Personen nach der Wichtigkeit des religiösen Glaubens in ihrem täglichen Leben (z.B. bei politischen Wahlentscheidungen) gefragt wurden, und in der dann die Resultate zu einem in der Geographie eingeführten, aus 22 Variablen zusammengesetzten Entwicklungsindex in Beziehung gesetzt wurden, zeigte sich, dass man für die USA ungefähr das „Entwicklungsniveau von Ländern wie Chile, Mexiko, Portugal und dem Libanon“ annehmen müsste, wollte man von der statistisch ermittelbaren Gläubigkeit auf den Stand der materiell-technischen Entwicklung schließen.
Eine solche Argumentation ist frappierend. Sie übersieht aber die historischen Besonderheiten amerikanischer Religiosität. Diese ist nämlich gerade nicht orientiert an „traditionellen“, kollektiv disziplinierenden Glaubenssystemen, in die man hineingeboren wird und in denen zu großer Respekt fürs Althergebrachte und die Priester mitunter den historisch gebotenen Gang der Dinge aufhalten kann. Vielmehr wählt gerade der religiös besonders aktive Amerikaner in der Regel seine „Denomination“ und damit die ihm persönlich genehme Doktrin selbst, und zwar mitunter nach Maßgabe ganz rationaler Interessen.
Die Motive der einzelnen bei dieser Entscheidung können ganz verschiedener Art sein, aber zu einer Behinderung der materiell-technischen „Modernisierung“ im Land tragen sie nicht bei. Im Gegenteil: statt „Pragmatismus“ oder „angewandte Aufklärung“ kann heute eher die unbefangene Verbindung von hochmodernem Technologiekult und voraufklärerischen Glaubensinhalten als ein hervorstechendes Merkmal Amerikas angesehen werden. Ein besonders gutes Beispiel dafür ist die so genannte „Schöpfungswissenschaft“ (creation science), einer an bestimmten amerikanischen Bibelkollegs gepflegten Disziplin, die es sich zur Aufgabe gestellt hat, die buchstäbliche Richtigkeit der biblischen Schöpfungsgeschichte mit modernsten Mitteln und strikt naturwissenschaftlichen Methoden zu belegen.
Eine Vollversion dieses Texts erscheint demnächst im Sammelband “Populismus in Geschichte und Gegenwart”, herausgegeben von Frank Unger und Richard Faber.