New York City, Los Angeles und Chicago sind die Global Cities der Vereinigten Staaten. Diese Städte sind Knotenpunkte der Globalisierung. In ihnen verdichten sich nicht nur Menschen-, Güter- und Kapitalströme: Sie werden dort gelenkt und organisiert. Städte sind geostrategische Räume, ihre Infrastruktur ist kritisch für das Funktionieren nationaler politischer Ökonomien. Neben Fragen nach Krieg und Frieden versucht sich die Politik mit anderen gesellschaftlichen Akteuren in global und mega cities den Problemen der Umweltverschmutzung, globaler Epidemien und sozio-ökonomischer Ungleichheiten zu stellen. Anders ausgedrückt: Die in Städten verhandelten gesellschaftlichen Konfliktfelder umfassen, keineswegs zufällig, auch viele der Kernthemen der Internationalen Beziehungstheorien. Warum aber werden Städte und Urbanisierungsprozesse in der Internationalen Beziehungstheorie fast gänzlich ignoriert?
Dass Städte zentrale Knotenpunkte der Weltwirtschaft und internationaler Beziehungen sind, ist keineswegs neu. In der Hanse vereinten sich Städte im Mittelalter ab dem 12. Jahrhundert zu einer losen Interessensgemeinschaft niederdeutscher Kaufleute. Im post-westphälischen Zeitalter waren Städte geopolitische Schaltzentralen der sich konsolidierenden Territorialstaaten und damit neuralgische Angriffsflächen im Wettbewerb und Krieg der Nationen. Neben ihrer Rolle als kosmopolitische Keimzellen waren Städte im Zeitalter der Aufklärung Schauplätze der Bürgerrevolutionen. Angesichts dieser langen Geschichte der Stadt als Ort des Konflikts, des Aufeinandertreffens von Eigenem und Fremdem, des Austauschs zwischen den Völkern erscheint der Blindfleck der Internationalen Beziehungstheorie durchaus befremdlich.
Weshalb also das Desinteresse der Internationalen Beziehungstheorie an Städten und Urbanisierung?
Zum einen entstand die Disziplin der Internationalen Beziehungen unter dem geistigen Einfluss des sich entfaltenden Nationalstaats im 19. und 20. Jahrhunderts. Als Gründungstexte des politikwissenschaftlichen Fachgebiets werden oftmals E.H. Carr’s ‚The Twenty Years‘ Crisis‘ von 1939 und Hans Morgenthaus ‚Politics Among Nations‘ aus dem Jahr 1948 zitiert, welche unter dem unmittelbaren Eindruck des fehlgeleiteten Nationalstaatsgedanken verfasst wurden. Daher der Hobbesianische Zug des von ihnen geprägten Realismus, daher aber auch der Fokus auf den Nationalstaat als primäre Untersuchungseinheit der Internationalen Beziehungstheorie, von der auch spätere Ansätze wie der Liberalismus und der Institutionalismus, ja selbst der Konstruktivismus, sich nur unwesentlich entfernt haben. Wenn es auch in den letzten Jahren in der Internationalen Beziehungsliteratur eine analytische Ausweitung auf nicht-staatliche Akteure gab, bleiben Analysen von Städten, urbanen Netzwerken und räumlichen Fragestellungen generell nach wie vor die absolute Ausnahme.
Ein zweiter Grund ist ein auch in anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen tiefsitzender methodologischer Nationalismus. Da moderne universitäre Forschungsdisziplinen im Zuge der Nationenbildung entstanden sind, welche sie zugleich befeuerten und legitimierten, wird der Nationalstaat noch heute oftmals als naturwüchsiger Interpretationsrahmen unserer Gesellschaft verstanden: Denken wir an gesellschaftliche Herausforderungen, dann denken wir beispielsweise an Einkommensungleichheiten innerhalb nationalstaatlicher Einheiten. Somit scheinen uns internationale Beziehungen auch grundsätzlich als Beziehungen zwischen Nationalstaaten. Hierbei verlieren wir jedoch wichtige Entwicklungen aus dem Blick. Zum Beispiel kam es auf Grund politischer und ökonomischer Verschiebungen, insbesondere seit Mitte der 1970er Jahre, zu einer Transformation nationalstaatlicher Handlungsspielräume gegenüber anderen Organisationsformen auf lokaler, regionaler und globaler Ebene – eine Veränderung, der die Internationale Beziehungstheorie keine Beachtung schenkt.
Welchen Nutzen würde es der Internationalen Beziehungstheorie bringen, Städte und Urbanisierungsprozesse zu einem ihrer Betrachtungsgegenstände zu machen? Theorie ist sicherlich kein Selbstzweck, sondern dient im herkömmlichen Sinne zur Erklärung und im kritischen Sinne zur Hinterfragung alternativlos erscheinender Gesellschaftsformen. Will die Internationale Beziehungstheorie diesen Maßstäben gerecht werden, muss sie sich auf die neuen politischen und ökonomischen Realitäten einlassen. Mehr noch aber als dieser Appell an die Arbeitsethik sollte der zu erhoffende Erkenntnisgewinn überzeugen—oder aber das Potenzial einer bislang weitestgehend ignorierten Forschungslücke.