The State of American Democracy

Research-based Analysis and Commentary by the Department of Politics at the John-F.-Kennedy Institute

„German Organizing“ – Erfahrungen mit amerikanischen Organisierungsmethoden in Deutschland

von Thomas Greven, 2. Juni 2014

Nach anfänglicher Skepsis gegenüber Konzept und Praxis des US-amerikanisch inspirierten „Organizing“, seit den 1990er Jahren in Deutschland zuerst von der Gewerkschaft hbv, dann vor allem von ver.di betrieben, versucht die IG Metall die Deutungshoheit über Organizing in Deutschland zu erlangen und mit „German Organizing“ (Wetzel 2013: 22; 68 etc.) quasi eine Marke zu prägen. Sie greift dafür die vom aktuellen Vorsitzenden Detlef Wetzel seit 2005 in NRW unternommenen eigenen Erneuerungsversuche auf, die das „Prinzip Beteiligung“ stark machten. Es ist unmittelbar einsichtig, dass eine nationalspezifische Praxis wie Organizing nicht ohne weiteres transplantiert werden kann; zu unterschiedlich sind institutionelle, rechtliche, kulturelle, politische, organisatorische Gegebenheiten. Insofern leuchtet die Qualifizierung „German Organizing“ ein, auch wenn man über den Anglizismus schmunzeln mag. Und dank der im Vergleich stringenteren Durchsetzung der neuen Erschließungsstrategien in der Organisation, sowie der besseren Rahmenbedingungen, ist es nicht unwahrscheinlich, dass die IG Metall gegenüber ver.di (und auch gegenüber der systematischen Arbeit und erfolgreichen Gebäudereinigerkampagne der IG BAU) die deutlicheren und nachhaltigeren Erfolge erzielt. Das anfängliche Abwarten und die Wertschätzung der eigenen Reformanstrengungen hätten sich also gelohnt, und die expliziteren Anlehnungen an US-Konzepte, inklusive amerikanisch geleiteter Ausbildungen, wie insbesondere bei ver.di praktiziert, sich möglicherweise gar als Irr- oder zumindest Umweg herausgestellt? Dies wird sich weisen, aber eine vorläufige Bewertung ist möglich.

Durchaus programmatisch propagiert der IG Metall-Vorsitzende Wetzel einen neuen Betriebsbegriff entlang von Wertschöpfungsketten sowie eine neue internationale Anschlussfähigkeit der Gewerkschaftsarbeit (ebd.: 21) und betont, dass „German Organizing“ mehr sein muss als Leuchtturmprojekte, nämlich eine systematische Veränderung der gewerkschaftlichen Praxis mit dem Ziel einer „Kollektivität zur Selbstlösung mit Unterstützung der IG Metall“ (ebd.: 26). Die traditionellen Stärken der deutschen Industriellen Beziehungen sollen aber erhalten werden. Es ist wichtig, dies zu betonen, weil die mit Organizing verbundene Aktivierung der Beschäftigten ja durchaus Unruhe in die sozialpartnerschaftlichen Arrangements bringt. Es kommt aber zu kurz, dass die notwendige Balance zwischen Institutionalisierung und Mobilisierung noch gefunden werden muss, genauso wie die Balance zwischen Service/Stellvertretung und Beteiligung/Selbstvertretung. In einem IG Metall-Papier zur „mitgliederorientierten Offensivstrategie“ von 2008, heißt es: „Wo tradierte Aushandlungsmechanismen infrage gestellt werden, kann nur die eigene betriebliche Stärke, ausgedrückt in einem hohen Organisationsgrad, zumutbare Kompromisse und Erfolge erzielen“ (Wetzel u.a., 2013: 51). Will man das deutsche System der Industriellen Beziehungen bewahren und stärken, dann fehlt hier allerdings ein Wort; es müsste „zunächst nur“ heißen. Und wenn die Erneuerung der geschwächten institutionellen Arrangements tatsächlich gelänge, stellte sich dann aber nicht wiederum die Frage, wie in einem solch stabilen System die erneute Verknöcherung verhindert werden kann? Selbstverständlich ist den Strategen der IG Metall dies klar, sie haben ihren Robert Michels gelesen; die neu gewonnene betriebspolitische Stärke soll die Basis des gewerkschaftlichen Handelns erneuern, nicht Institutionen ersetzen – doch es fehlt eine grundsätzlichere Auseinandersetzung.

Gibt es  Risiken der Beteiligungsstrategie? Die Antwort ist vor allem dann nein, wenn die im Organizing entwickelten Strukturen („Aktivenkreise“) in die traditionellen Vertretungsstrukturen überführt werden – wie wird dann aber mittel- und langfristig die Mobilisierungsfähigkeit bewahrt? Diese Institutionen hatten diese ja oft genug verloren! Aktuell überwiegt wohl die Beteiligungsbegeisterung, denn Organizing erhöhe die „Input-Legitimität“ (Niemann-Findeisen u.a., 2013: 87). Dies ist gut verständlich, aber es darf nicht aus dem Blick geraten, dass im Zuge der Globalisierung vor allem auch die globalen Institutionen verändert werden müssen, weil sonst angesichts der Unterbietungskonkurrenz alle Beteiligung wenig nützt (vgl. Greven 2011).

Eine Schwäche der deutschen Organizing-Debatte, wenn es um den transnationalen Lernprozess und seine Schwierigkeiten geht, ist: Die amerikanischen Bedingungen sind oft nicht ausreichend verstanden (wie umgekehrt den Amerikanern meist die Kenntnis der deutschen industriellen Beziehungen fehlt). Offensichtlichstes Beispiel: Immer wieder schreiben deutsche Autoren vom US-Organizing, als wäre es eine jüngere Innovation. Tatsächlich gab es amerikanische Gewerkschaften nie ohne Organizing. Bei der Adaption der Konzepte und der Definition eines eigenen Begriffs von Organizing hat man durchaus Freiheiten, wenn es allerdings zum organisationspolitisch motivierten „cherry-picking“ kommt, d.h. wenn z.B. absichtlich institutionelle und kulturelle Voraussetzungen bestimmter Praxen verschwiegen werden, kann die Übertragung nicht gelingen. Das wird gerade an dem für den Diskurs der IG Metall so wichtigen Begriff „Beteiligung“ deutlich. Die durchaus wichtige SEIU-Kampagne Justice for Janitors zur Wiederherstellung (!) der gewerkschaftlichen Organisierung von Reinigungskräften wird bisweilen dargestellt und diskutiert, als ob man den Film „Bread and Roses“, den der britische Regisseur Ken Loach über sie drehte, oder SEIU-Sprech über „Emanzipation“ etc. für bare Münze nehmen könnte (Wetzel u.a. 2013: 55ff). Dies, wie auch die teils recht unreflektierte Bezugnahme auf die Community Organizing-Prinzipien von Saul Alinsky („Tue niemals für ein Mitglied, was es selbst tun kann“), verdeckt aber doch nur die schwierige Problematik, eine tragfähige Balance von Service/Stellvertretung/Institutionalisierung und Beteiligung/Selbstvertretung/Mobilisierung finden zu müssen. Zum einen lassen Kampagnen sich nicht basisdemokratisch führen – der Begriff ist nicht zufällig ein militärischer – und zum anderen sind die allermeisten Menschen, auch die Mitglieder von Gewerkschaften, dringend daran interessiert, sich vertreten zu lassen. Die SPD hat in Deutschland im aussichtslosen Wahlkampf gegen Mutter Merkel erkennen müssen, dass die meisten Wähler keine allzu große Lust auf Politik haben. Selbstverständlich redet hier niemand einem Betriebssyndikalismus das Wort und es besteht auch keine akute Gefahr einer nur instrumentellen „Beteiligung“ – der Versuch, eine Neuausrichtung des „Verhältnis[ses] von Stell- und Selbstvertretung“ (ebd.: 61) zugunsten letzterer und zugunsten einer größeren „ownership“ der Mitglieder in Bezug auf „ihre“ Gewerkschaft zu erreichen, ist ernst zu nehmen. Doch eine systematische, erfahrungsbasierte Auseinandersetzung mit dem Problem, eine nachhaltige Balance zu finden, steht noch aus. Es ist mehr von Nöten, als den „Übergang vom Kampagnen- in den Alltagsmodus“ (Boewe/Schulten 2013: 126) zu bewerkstelligen, denn die traditionellen Strukturen reichen nicht mehr aus.

Die Diskussion konkreter Kampagnen fokussiert auf die weitgehend erfolgreichen Kampagne im Windanlagenbau (Dribbusch 2013; Boewe/Schulten 2013), die abgebrochene Kampagne im Kfz-Gewerbe bleibt in der öffentlichen Debatte bis auf eine Fußnote bei Dribbusch (S. 99) unerwähnt. Vielleicht ist die Bemerkung, dass Kampagnen in „Branchen mit sehr vielen Klein- und Mittelbetrieben … ohne organisationsinterne Quersubventionierung kaum möglich“ sind (ebd.: 112) eine implizite Analyse, weitere Gründe ihres Scheiterns werden öffentlich nicht diskutiert. In diesem Zusammenhang fehlt auch eine Auseinandersetzung mit den organisationsinternen Aspekten von Kampagnen, jenseits des kulturell oder politisch bedingten Widerstands gegen spezifische Innovationen. Kampagnen sind nämlich immer auch nach innen zu führen; für sie muss intern politische Unterstützung mobilisiert werden. Politische Entscheidungen jenseits von strategischen Erwägungen spielen eine wichtige Rolle. Am ehesten gibt hier Wilfried Schwetz einen Einblick, der darauf hinweist, dass die notwendige ehrliche Analyse der eigenen Kräfte leicht „aus dem Blickfeld geraten“ kann (2013: 208-9). Die Konsequenz davon, dass die strategische Recherche in der Kampagnenvorbereitung auch diesbezüglich „reinen Wein einschenk[t]“ (ebd.: 213) kann dann eben sein, auch etwas, dass politisch wichtig ist, nicht zu machen!

Die Kampagne im Windanlagenbau konnte die „Negativspirale aus mangelnder gewerkschaftlicher Stärke, fehlenden Erfolgen und sinkender Attraktivität“ (Dribbusch 2013: 98) durchbrechen. Dabei wurde ein Methodenbaukasten verwendet, der sehr nah an dem ist, was auch in den USA und bei ver.di verwendet wird (strategische Recherche, externe Organizier, Einzelgespräche, Aktivenkreis, Betriebslandkarte, kollektive Aktionen): „[D]ie Unterschiede zum US-Kontext haben sich bei Lichte betrachtet als eher gering erwiesen, wenn es darum geht, Bedürfnisse von Beschäftigten zu verstehen, zu kollektiven Themen zu machen und in betriebliche politische Praxis zu übersetzen, die etwas verbessert“ (Niemann-Findeisen u.a. 2013: 88). Bei einem zentralen institutionellen Anpassungsproblem, den Betriebsräten und ihrer Rolle im Organizing-Prozess, sind systematische Fortschritte gemacht worden (ebd.; Boewe/Schulten 2013: 121f. Der Konflikt wird als unausweichlich erkannt: „Das Spannungsverhältnis [zwischen den durch Organizing entstehenden Aktivenkreisen und den existierenden Strukturen] muss ausgehalten und immer wieder neu verhandelt werden“ (Dribbusch 2013: 114). Eine wichtige Erkenntnis ist wohl, dass der Vermittlungserfolg zwischen Organizern und Betriebsräten stark von einzelnen Personen abhängt. Eine systematische Untersuchung, der Gründe, warum einzelne Betriebsräte die Organizer unterstützen und andere nicht, steht noch aus, genauso wie eine Untersuchung von erfolgreichen Problemlösungsstrategien. Am Ende bleibt die wichtige Erkenntnis, dass Organizing für die Organisation Konsequenzen hat: „Die Entscheidungsfindung wird komplexer und Spielräume der zentralen Verhandlungsgremien werden tendenziell eingeengt, da engagierte Mitglieder in der Regel auch anspruchsvoller und kritischer werden“ (ebd.: 117). Dies sind schwierige Nachrichten für die ohnehin schon überlasteten Gewerkschaftssekretäre und Betriebsräte, zumal „[d]ie Hauptarbeit der Organisierung in der Fläche […] bei den betrieblichen und örtlichen Gewerkschaftsstrukturen liegen“ wird (ebd.: 112). Angesichts dieser Konstellation ist es wenig überraschend, dass Selbstkritik meost darauf hinausläuft, dass zu wenige Ressourcen bereitgestellt wurden, und dass es einige selbstschützende Bemerkungen gibt, sprich Warnungen vor zu hohen Erwartungen in Bezug auf Mitgliederwachstum: „Organizing ist sicher nicht das Allheilmittel der numerischen Mitgliederfrage“ (Niemann-Findeisen u.a. 2013: 89; Dribbusch 2013: 111). Auch die strategische Recherche sichert sich ab; sie ist kein Zaubermittel gegen feindliche Unternehmen (Schwetz 2013: 212).

Überwiegend werden allerdings die Potenziale der neuen Strategien betont. Kampagnen müssen z.B. nicht immer groß und teuer sein, es gibt eine Bandbreite von Maßnahmen und Hebeln (Leverage), um das „Machtungleichgewicht zwischen der Belegschaft und dem Unternehmen auszugleichen“ (ebd.: 200f). So kann den neuen Unternehmensstrategien, die mit Zuckerbrot und Peitsche auf die Verhinderung von Betriebsratswahlen bzw. gewerkschaftlichen Mehrheiten abzielen, begegnet werden, in dem der Blick für die Schwächen der Unternehmen geöffnet wird, die für Druckmaßnahmen genutzt werden können. Noch wird dieses Element im Kontext der deutschen Sozialpartnerschaft kritisch gesehen, aber es ist wohl unausweichlich, dass die Gewerkschaften ihr kämpferisches Repertoire gegen die deutsche Form von „union busting“ erweitern (vgl. Greven 2009).

US-inspirierte Autoren und Strategen, die in Deutschland und anderswo in Europa tätig sind, nehmen den Burn-out der Organizer in Kauf und haben die Balance von Institutionalisierung und Mobilisierung nicht ausreichend im Blick (Crosby 2013). Dort wo Organizing amerikanisch angeleitet und/oder verstanden wird, herrscht ein romantisches Bild von Kämpfern für Gerechtigkeit vor, deren eigenen Belange zurückgestellt werden müssen. Sprich: Wohnen im Motel statt Zeit mit der Familie. Dies führt zwangsläufig zu Burnout-Phänomenen wie man sie seit langem aus den USA kennt. Angesichts dieser Haltung überrascht dann auch eine Art „Vertreter-Sprache“ fast nicht mehr: „Ebenso wichtig ist, dass sehr viele Hauptamtliche auf die Kampagne [von UNITE in Großbritannien] großartig reagierten. Sie waren einfach leidenschaftlich gern erfolgreich“ (ebd.: 256). Am Ende bleibt jedoch wichtig und richtig, dass Organizing und Kampagnen als „Vorläufer einer anderen Art von Gewerkschaft“ gesehen werden müssen (ebd.: 258), auch wenn diese noch nicht im Detail zu erkennen ist.

 

Literatur

Boewe, Jörn; Johannes Schulten, 2013: Eine erfolgreiche Zumutung. Organizing in der Windkraftindustrie: Die Innenperspektive der IG Metall, in: Detlef Wetzel (Hrsg.), 2013: Organizing. Die Veränderung der gewerkschaftlichen Praxis durch das Prinzip Beteiligung, Hamburg: VSA, S. 119-126.

Crosby, Michael, 2013: Hoffnungsschimmer in Europa. Anzeichen gewerkschaftlicher Veränderungen in der alten Welt, in: Detlef Wetzel (Hrsg.), 2013: Organizing. Die Veränderung der gewerkschaftlichen Praxis durch das Prinzip Beteiligung, Hamburg: VSA, S. 225-259.

Dribbusch, Heiner, 2013: Nachhaltig erneuern. Aufbau gewerkschaftlicher Interessenvertretung im Windanlagenbau, in: Detlef Wetzel (Hrsg.), 2013: Organizing. Die Veränderung der gewerkschaftlichen Praxis durch das Prinzip Beteiligung, Hamburg: VSA, S. 92-118.

Greven, Thomas, 2009: Strategische Druckkampagnen in Deutschland: Anpassungsprobleme und Potentiale, Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, Vol. 22, No. 4, S. 67-78.

Greven, Thomas, 2011: Die Regeln ändern! Bedingungen gewerkschaftlicher Solidarität unter globalem Konkurrenzdruck, in F. Gerlach, T. Greven, U. Mückenberger und E. Schmidt (Hrsg.), Solidarität über Grenzen: Gewerkschaften vor neuer Standortkonkurrenz, Berlin: Edition Sigma, S. 35-49

Niemann-Findeisen, Sören; Jonas Berthe, Susanne Kim, 2013: Organizing in der IG Metall. Eine Begriffsbestimmung, in: Detlef Wetzel (Hrsg.), 2013: Organizing. Die Veränderung der gewerkschaftlichen Praxis durch das Prinzip Beteiligung, Hamburg: VSA, S. 67-91.

Schwetz, Wilfried, 2013: Strategische Recherche. Die unverzichtbare Basis für strategische Kampagnen, in: Detlef Wetzel (Hrsg.), 2013: Organizing. Die Veränderung der gewerkschaftlichen Praxis durch das Prinzip Beteiligung, Hamburg: VSA, S. 195-215.

Wetzel, Detlef, 2013: Für eine neue gewerkschaftliche Agenda, in: Detlef Wetzel (Hrsg.), 2013: Organizing. Die Veränderung der gewerkschaftlichen Praxis durch das Prinzip Beteiligung, Hamburg: VSA, S. 13-29.

Wetzel, Detlef; Jörg Weigand, Sören Niemann-Findeisen, Torsten Lankau, 2013: Organizing. Die mitgliederorientierte Offensivstrategie für die IG Metall, in: Detlef Wetzel (Hrsg.), 2013: Organizing. Die Veränderung der gewerkschaftlichen Praxis durch das Prinzip Beteiligung, Hamburg: VSA, S. 47-63.

 

Der Beitrag wurde am Montag, den 2. Juni 2014 um 15:40 Uhr von Thomas Greven veröffentlicht und wurde unter Arbeitsmarkt und Soziales, The State of the Union: Gewerkschaften in den USA abgelegt. Sie können die Kommentare zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. Kommentare und Pings sind derzeit nicht erlaubt.

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