Eine erweiterte Version dieses Beitrags ist im Debattenmagazin des DGB (Gegenblende) erschienen.
Thomas Greven, Juni 2015
Hillary Clinton gilt als unvermeidliche Präsidentschaftskandidatin der Demokraten für 2016 und die Experten sagen voraus, dass sie gute Chancen hat, Präsidentin zu werden. In den anstehenden Wahlkämpfen werden amerikanische Gewerkschaften wieder viele Millionen US-Dollar und viel Arbeit zugunsten Demokratischer Kandidaten einsetzen. Wird sich das auszahlen? Hillary Clinton will eine „champion for everyday Americans“ sein, Fürsprecherin für die gewöhnlichen Amerikaner. Das sind die US-Gewerkschaften auch. Eine natürliche Allianz also? Was hätten sie von einer Präsidentin Clinton wirklich zu erwarten?
Die traurige Antwort ist: Nicht viel. Die Erfahrung mit den Demokratischen Präsidenten der letzten Jahrzehnte zeigt, dass sie die Wahlkampfbemühungen der Gewerkschaften nicht zurückzahlen. Eher im Gegenteil: Barack Obama schaffte es trotz einer „filibuster-proof“ Demokratischen Mehrheit im Senat nicht, die von den Gewerkschaften seit Jahrzehnten geforderte Arbeitsrechtsreform durchzusetzen. Stattdessen verwendete er seine Kraft auf die Gesundheitsreform, die für Gewerkschaftsmitglieder zwiespältige Folgen hat. Bill Clinton präsidierte nicht nur über massive Kürzungen der ohnehin schon bescheidenen sozialstaatlichen Leistungen, sondern setzte mit aller Kraft und allen Tricks gegen seine eigenen Partei und die Sturm laufenden Gewerkschaften das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) durch, welches insbesondere mit seinen Regelungen für Investor-Staat-Schiedsgerichte Vorreiter für TTIP und TPP ist, für die Obama nun kämpft (und für die er, wiederum gegen die Gewerkschaften, nun das Verhandlungsmandat des Kongress bekommen hat). Unter Jimmy Carter begann in den 1970er Jahren die Deregulierungswelle, welche in vielen Branchen die Tarifstrukturen unter Druck setzte.
Wie lässt sich erklären, dass sich Demokratische Präsidenten, Abgeordnete und Senatoren frei fühlen, die Anliegen der Gewerkschaften weitgehend zu ignorieren? Ihre Zersplitterung in zwei Dachverbände (AFL-CIO und Change to Win) hindert die Gewerkschaften nicht daran, recht geschlossen die Demokraten zu unterstützen. Doch sicherlich stehen ihnen angesichts des seit Jahrzehnten andauerten Mitgliederrückgangs weniger Geldmittel zur Verfügung als früher, was umso schwerer ins Gewicht fällt, da der Oberste Gerichtshof der USA den Einsatz von Geldmitteln im Wahlkampf immer weiter liberalisiert hat. Aber ihre Spenden sind immer noch eine der wichtigsten Finanzquellen der Demokraten und sie vertreten weiterhin einen großen Teil der amerikanischen Bevölkerung, insbesondere wenn man in Betracht zieht, dass die Wahlentscheidung der ganzen Familie eines einzelnen Mitglieds statistisch relevant zugunsten der Demokraten getroffen wird („union families“) und dass die Wahlbeteiligung dieser Gruppe signifikant höher ist als die der nicht-gewerkschaftlich Organisierten. In den Worten des AFL-CIO-Vorsitzenden Richard Trumka: „We still punch far above our weight“. Den Gewerkschaften ist es in jüngerer Zeit gelungen, über Organisationen wie Working America auch nicht organisierte Beschäftigte und deren Familien zu erreichen.
Man muss in die Geschichte der amerikanischen Gewerkschaften schauen, um die grundlegenden Ursachen ihrer politischen Schwäche zu finden. In den USA hat sich nämlich nie eine auf breiter Basis sozialistische oder sozialdemokratische Gewerkschaftstradition entwickelt. Die Gewerkschaften machten den Schritt von Berufs- zu klassenbasierten Gewerkschaften nicht, sondern blieben dem berufsgewerkschaftlich geprägten ²business unionism² mit seinem weitgehend auf die Mitglieder beschränkten Solidaritätsverständnis verhaftet. Was Hillary Clinton ihre „everyday Americans“, sind den Gewerkschaften die „working families“; Klassenfragen werden hinter der gleichmacherischen Rhetorik einer allumfassenden Mittelklasse verborgen. Politisches Engagement der Gewerkschaften war lange verpönt; es sollte nach Meinung der Konservativen in Tarifverhandlungen nur um „bread and butter“ gehen bzw., in der betriebssyndikalistischen Variante, alle Konflikte sollten durch betriebliche Aktionen gelöst werden. Auch nachdem sich dies mit dem New Deal der 1930er Jahre änderte und die Gewerkschaften Teil der die politischen und wirtschaftlichen Reformen tragenden Wählerkoalition wurden, blieb es grundsätzlich bei der Beschränkung der Solidarität auf die organisierten Betriebe. Schlimmer noch: Die Exklusivität hatte lange Zeit sowohl nativistische als auch rassistische Elemente; Immigranten und Afroamerikaner wurden ausgegrenzt. Die gewerkschaftliche Organisierung des „alten Südens“, d.h. der ehemaligen Staaten der Konföderation, scheiterte weitgehend, und durch deren Industrialisierung entstand eine ganze Region gewerkschaftsfreier Konkurrenz.
Und auch wenn spätestens seit der Wiedervereinigung der beiden Dachverbände AFL und CIO 1955 das industriegewerkschaftliche Prinzip der berufsübergreifenden Organisierung dominant ist, ist es doch bis heute durch das Arbeitsrecht und die daraus folgende Organisierungspraxis betriebsbezogen angelegt. Die Betriebszentrierung, die Verrechtlichung der Streitschlichtung und vor allem die Verpflichtung, während der Laufzeit eines Tarifvertrages nicht zu streiken, wurden zum Problem, als der vom Kongress gegen das Veto von Präsident Truman durchgesetzte Labor-Management Relations Act (Taft-Hartley Act) von 1947 einige in den 1930er Jahren erfolgreiche Praktiken wie Solidaritätsstreiks verbot und den Einzelstaaten Einschränkungen der sogenannten „union security“-Klauseln erlaubte. Heute gibt es 25 sogenannte „right-to-work“-Staaten, vor allem im Süden und Westen der USA (aber auch die einstigen gewerkschaftlichen Hochburgen Michigan und Wisconsin gehören dazu), in denen Nichtmitglieder nicht von den Leistungen der Gewerkschaft ausgeschlossen werden dürfen. So ist nicht nur deren Schlagkraft eingeschränkt, sondern ihre schlichte Existenz permanent prekär, weil sie eine Mehrheit halten müssen.
Die 2009 angestrebte Gesetzesreform hätte das System der gewerkschaftlichen Anerkennung nicht einmal grundlegend geändert, sondern lediglich das für die Gewerkschaften günstigere „card check“-Verfahren besser verankert. Dennoch scheiterte die Reform, trotz Demokratischer Mehrheiten in beiden Kammern. Obama war nicht einmal willens, Druck auf Senatoren seiner eigenen Partei auszuüben. Warum also bleiben die Gewerkschaften den Demokraten treu? Immer wieder drohen sie den Demokraten mit Geldentzug – auch aktuell aufgrund der Debatte um die Freihandelsabkommen – ohne Wirkung. Andy Stern, ehemaliger Vorsitzender der großen Dienstleistungsgewerkschaft SEIU sagt: „Das was man tut, wenn rote Linien überschritten werden, bestimmt ob diese Linien ernstgenommen werden“. Am Ende haben die Gewerkschaften nämlich schlicht keine Wahl. Der Rahmen des amerikanischen Wahlsystems (relative Mehrheitswahl) und der amerikanischen politischen Geschichte und Kultur lässt jenseits der Demokraten und Republikaner kaum Raum für „dritte“ Parteien; eine wirkmächtige sozialdemokratische oder Arbeiterpartei gibt es folglich nicht. Und es ist auch nicht so, dass es keinen Unterschied machte, ob Demokraten oder Republikaner regieren. Republikanische Präsidenten und Mehrheiten im Kongress richten aus Sicht der Gewerkschaften und bezüglich der Belange der „working families“ den deutlich größeren Schaden an. Erhöhungen des Mindestlohns z.B. sind nicht etwa an steigende Lebenshaltungskosten gekoppelt oder einer unabhängigen Kommission überantwortet, sondern politisiert – und so haben die Demokraten immer ein praktisches Mobilisierungsthema.
Andererseits haben die Republikaner leichtes Spiel, gegen die Gewerkschaften Stimmung zu machen, insbesondere im Kontext wirtschaftlicher Krisen. Die durch das betriebsbezogene Organisierungs- und Tarifvertragssystem weitgehend auf die Mitglieder begrenzte Solidarität hat nämlich in guten Zeiten dazu geführt, dass eine Art „privater Wohlfahrtsstaat“ entstanden ist: Hohe Löhne, gute Arbeitsbedingungen, soziale Absicherung im Krankheitsfall, bei kurzfristiger Arbeitslosigkeit und im Alter. Diese sogenannte „union premium“ macht es für Beschäftigte attraktiv, einen Betrieb gewerkschaftlich zu organisieren. Gleichzeitig stellt er für die Unternehmen den größten Anreiz dar, Betriebe gewerkschaftsfrei zu halten – was die heftig ausgetragenen Organisierungskonflikte erklärt. Waren es in den 1980er Jahren die gewerkschaftlich organisierten Industriearbeiter, die in ihrem Kampf gegen De-Industrialisierung und Globalisierung keine gesellschaftlichen Bündnispartner fanden, weil es ihnen angeblich auf ihren Wohlstandsinseln immer noch zu gut ging (und sie sich ja vorher auch nicht um die anderen geschert hätten), so sind es heute die organisierten Beschäftigten im öffentlichen Dienst, die angesichts der Staatsverschuldung unter Druck stehen und sich ebenfalls alleingelassen fühlen. Derweil nutzen Republikanische Hoffnungsträger wie der Gouverneur von Wisconsin, Scott Walker, das schlechte Image der Gewerkschaften dazu, sich Richtung Präsidentschaftswahlkampf als toughe Kämpfer gegen Besitzstandwahrer zu profilieren: „Wenn ich mit 100.000 Demonstranten klarkomme, kann ich das auch überall auf der Welt“. Den impliziten Vergleich von Gewerkschaftern und Terroristen empfand nicht nur Richard Trumka vom AFL-CIO als “beleidigend für jeden amerikanischen Beschäftigten”.
Gibt es überhaupt einen Hoffnungsschimmer? Die von den Gewerkschaften unterstützten streikenden Beschäftigten in der Fast food-Branche, die selbst noch keine Gewerkschaften haben, machen Eindruck, die außerhalb der Gewerkschaften mit ihrer Hilfe entstandenen “worker centers” ebenso, und in den sozialen Medien bemühen sich Aktivisten, das Ansehen der Gewerkschaften zu verbessern (z.B. bei upworthy.com).Es gibt eine aktuelle Diskussion darum, sich vom etablierten System der gewerkschaftlichen Organisierung ganz zu entfernen und, wie fast der ganze Rest der Welt, auf freiwillige Mitgliedschaft zu setzen. Thomas Geoghegan, der u.a. dies in seinem Buch „Only One Thing Can Save Us“ vorschlägt, ist vor allem vom deutschen sozialpartnerschaftlichen Beispiel inspiriert (welches er allerdings arg idealisiert).
Und Hillary? Nun, die war schon einmal die unvermeidliche Kandidatin. Und dann kam Barack Obama. Vielleicht gibt es noch Kandidaten im Vorwahlkampf die sie wenigstens inhaltlich etwas herausfordern können, insbesondere Senator Bernie Sanders aus Vermont. Doch leider ist es wohl so: Selbst wenn eine Präsidentin Clinton wirklich die „champion“ der „everyday Americans“ sein wollte, sie wäre nicht ohne weiteres dazu in der Lage. Nicht nur der Verpflichtungen wegen, die aus all den Unternehmensspenden entstehen. Sondern auch angesichts der voraussichtlichen Machtverteilung in der amerikanischen Politik, die den Amerikanern weiter eine Republikanische Mehrheit im Repräsentantenhaus bescheren wird, mit einem hohen Anteil von kompromissunfähigen Tea Party-Republikanern. Gewählt vor allem von der nicht-gewerkschaftlich organisierten Mehrheit der weißen Wähler ohne College-Abschluss. Genau: von „everyday Americans“.