Das Märkische Viertel – vom Bordstein zur Skyline?

Wir schreiben das Jahr 1963. Die erst 2 Jahre zuvor errichtete Berliner Mauer schnürte das Korsett um West-Berlin deutlich enger. Es mangelte an Wohnraum – das war und ist nichts Neues. Doch nun mangelte es auch an Platz. „Urbanität durch Dichte“ – war das städteplanerisch vorherrschende Leitbild, das der zeitgenössischen Wohnungsnot Abhilfe verschaffen sollte und zum Bau der ersten Großwohnsiedlung Berlins, dem Märkischen Viertel, führte.

16.400 Wohnung für 40.000 – 50.000 Einwohner sollten durch das ambitionierte Projekt des Senats unter Willy Brandt und Bausenator Rolf Schwedler am nord-östlichen Rande West-Berlins auf einem ehemaligen Notwohnungsgebiet zwischen Lübars, Wittenau und Waidmannslust entstehen. Die Planung für das Prestigeprojekt des westdeutschen sozialen Wohnungsbaus übernahmen die für Berlin auch später noch prägenden Architekten Werner Düttmann, Hans Christian Müller und Georg Heinrichs – die Ausführung die kommunale Gesellschaft für sozialen Wohnungsbau GESOBAU.

Galt der moderne Wohnungsbau mit seinen futuristischen und funktionalen Formen in Plattenbauweise zunächst noch als Ausdruck gesellschaftlichen Fortschritts, mehrten sich in den späten 1960-Jahren kritische Stimmen: zu hässlich, zu eintönig, zu anonym und einsam. Zudem bestätigten sich die zuvor diskutierten Bedenken: Statt wie geplant zu einer  Durchmischung und Annäherung verschiedener sozialer Schichten beizutragen, avancierte das Märkische Viertel schon Ende der 1960er zu einem Quartier der Arbeiterfamilien und sozial Schwachen,  „wo Kinder wieder wie auf Zille-Hinterhöfen spielen“, wie der Spiegel 1968 schrieb.  Insbesondere Problemfamilien wurden in den folgenden Jahren stellvertretend für das gesamte Märkische Viertel in zahlreichen Interviews, Studien und Dokumentation porträtiert und zementierten dadurch – auch über die Grenzen Berlins hinaus – das Bild eines Ghettos für die Randständigen der Gesellschaft. Eine Abwärtsspirale wurde geschaffen….

Und so lernte ich das „Märkwürdige Viertel“ auch damals als Kind in den 1990er Jahren kennen. Meine Mutter arbeitete dort viele Jahre in einem der zahlreichen Projekte für „die Asozialen“. 2004 kam Sido mit „Mein Block“ und die Coolen der Klasse fuhren für ein bisschen „street credibility” und billiges Gras wieder hin. Mit dem Bus versteht sich, denn auf die versprochene U-Bahn wartet man noch heute. Und so fuhr ich im Frühjahr 2021 für mein Fotoprojekt „Ästhetik des Plattenbaus“ wie immer nur bis zum U-Bhf. Wittenau und wartete dort geduldige auf einen der zahlreichen Busse. Mindestens 10 Jahre war ich nicht mehr hier gewesen, doch schon bei der Fahrt auf dem Wilhelmsruher Damm fiel mir auf: Das MV hat sich gemacht!

2001 zeigte ein von der Senatsverwaltung durchgeführtes Monitoring „Soziale Stadtentwicklung“ eine überdurchschnittliche Arbeitslosenquote und weiter zunehmende Sozialhilfedichte. 2009 wurde deshalb beschlossen das Märkische Viertel zu einem „Stadtumbau-Gebiet“ auszuweisen, was zu umfassenden energetischen und infrastrukturellen Sanierungen und Aufwertung des öffentlichen Raums geführt hat. Und das sieht man! Sogar neue Wohnblocks und ein 100m hoher Wohn-Tower sind in Planung. Die Platte lebt – und das MV wird fast 60 Jahre nach dem ersten Spatenstich wieder zum Vorzeigeprojekt einer ambitionierten Stadtplanung. Vielleicht sogar erneut zur Antwort auf die drängende Wohnungsknappheit? Trabantenstadt statt Mietpreisbremse?

Um die Veränderungen im Märkischen Viertel vom Fall und Aufstieg, vom Bordstein zur Skyline, fernab von persönlichen Erfahrungen, Emotionen und Vorurteilen zu dokumentieren, habe ich einen objektiv-künstlerischen Zugang gewählt: Fotos von damals, als das MV medial in Verruf geriet (1968-1972) und heute, die exakt den gleichen Ausschnitt zeigen. Der Betrachter:in bleibt somit selbst überlassen zu entscheiden was sich (nicht) verändert hat. Viel Spaß dabei!

Mia Ender


Abbildung 1: Eichhorster Weg / Wilhelmsruher Damm ca. 1968; Welte, Christian, gefunden auf https://west.berlin/fotoaufruf?page=13
Abbildung 2: Dannenwalder Weg / Treuenbrietzener Straße im Februar 1971; Mit freundlicher Genehmigung durch EPHA PHOTOGRAPHY / http://epha.berlin/
Abbildung 3: Dannenwalder Weg 1970; Staatsarchiv Freiburg W 134 Nr. 092250 / Fotograf: Willy Pragher
Abbildung 4: Treuenbrietzener Straße im Februar 1971; Mit freundlicher Genehmigung durch EPHA PHOTOGRAPHY / http://epha.berlin/
Abbildung 5: Wilhelmsruher Damm 1973; Urban, Rudolf, gefunden auf https://nl.pinterest.com/pin/322359285820597384/

Literaturhinweise

Aufsätze:

Reinecke, C. (2014): Am Rande der Gesellschaft? Das Märkische Viertel – eine West-Berliner Großsiedlung und ihre Darstellung als urbane Problemzone. In: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, 11, 2014, S. 212–234.

Rink, D. (2020): Wohnen. Lange Wege der Deutschen Einheit. Bundeszentrale für politische Bildung. Abgerufen am 31.07.2021 von https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-einheit/lange-wege-der-deutschen-einheit/47280/wohnen

Artikel:

Das Fördergebiet Märkisches Viertel (2021, Mai). Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt. Abgerufen am 31.07.2021 von https://www.stadtentwicklung.berlin.de/nachhaltige-erneuerung/maerkisches-viertel

Märkisches Viertel. Bezirksamt Reinickendorf von Berlin. Abgerufen am 31.07.2021 von https://www.berlin.de/ba-reinickendorf/ueber-den-bezirk/ortsteile/maerkisches-viertel/artikel.85001.php

Slums verschoben (1968, 08. September). Der Spiegel. Ausgabe Nr.37. Abgerufen am 31.07.2021 von https://www.spiegel.de/kultur/slums-verschoben-a-dd4b3f2f-0002-0001-0000-000046477769?context=issue

Stadtumbau im Märkischen Viertel (2016). Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt. Abgerufen am 31.07.2021 von https://www.stadtentwicklung.berlin.de/nachhaltige-erneuerung/fileadmin/user_upload/Dokumentation/Projektdokumentation/Reinickendorf/FG_Maerkisches_Viertel/PDF/Ausstellungstafeln2016.pdf

Vom Märkischen Viertel zur IBA. Zum Tod von Hans Christian Müller(2010, 12. August).  BauNetz. Abgerufen am 31.07.2021 von https://www.baunetz.de/meldungen/Meldungen-Zum_Tod_von_Hans_Christian_Mueller_1154617.html

Wo das Märkische Viertel aufgewertet wird (2021, 07. Mai). Berliner Abendblatt. Abgerufen am 31.07.2021 von https://abendblatt-berlin.de/2021/05/07/wo-das-maerkische-viertel-aufgewertet-wird/