Mehr als 0815? Auf Exkursion in den Plattenbauvierteln Rostocks
„Plattenbau Rostock“ steht auf dem großen Graffito auf dem Weg von der S-Bahn und begrüßt uns FU-Studierende im Rostocker Stadtviertel Lütten Klein. Drei Stunden sind wir an diesen Morgen mit dem Regionalzug nach Rostock gefahren um nach einem Semester Beschäftigung mit der Ästhetik des Plattenbaus auch nochmal live ein paar Plattenbauten zu erleben. Und was bietet sich hier mehr an als ein Ausflug nach Rostock, zeigt sich doch in den Vierteln Lütten Klein, Lichtenhagen und Gross Klein exemplarisch die Geschichte des DDR-Plattenbaus seit den 60er-Jahren.
Unsere Tour startet vor einem architektonischen Highlight: Die in hyperbolischer Schalenform gestaltete Mehrzweckhalle von 1968. Auf den ersten Blick ist die typische Handschrift des DDR-Architekten Ulrich Müther erkennbar, der auch mit anderen futuristischen Bauten wie dem Sockel des Berliner Fernsehturms oder dem Restaurant Seerose in Potsdam einen belebenden Kontrast zur Plattenarchitektur der DDR setzte. Leider zeigt sich im Inneren, das man diese lichtdurchflutete Architektur auch zerstören kann: Der sich heute in der Mehrzweckhalle befindliche Supermarkt hat einfach eine Zwischendecke eingezogen, was den gesamten ursprünglich lichtdurchfluteten, offenen Bau kaputt macht. Und wieder wird deutlich, warum solche Bauten unter Denkmalschutz gestellt werden sollten.
Auch sonst hebt sich Lütten Klein architektonisch von anderen Ost-Plattenbauvierteln durch Highlights ab. Da sind etwa die drei „hakenkreuzförmigen“ Punkthochhäuser – die zwar baulich teuer waren, aber gleichzeitig die Silhouette des Viertels prägen. Durch die Hochhäuser entsteht ein Gefühl von Großstadt – obwohl gleich hinter dem Viertel die Felder liegen. In einem dieser Häuser ist auch einer der wohl bekanntesten Lütten Kleiner aufgewachsen: Der Soziologe Steffen Mau – der in dem Viertel exemplarisch die Transitionszeit in Ostdeutschland in den vergangenen 30 Jahren untersucht hat. Das gleichnamige Buch Lütten Klein hat das Viertel wohl deutschlandweit bekannt gemacht und wenn man hier so steht, fragt man sich schon, was wohl die Lütten Kleiner darüber denken.
Aber zurück zur Architektur: Anders als spätere Plattenbauviertel ist das zwischen 1965 und 1971 gebaute Lütten Klein noch in einer eindeutigen Zeilenbauweise errichtet mit Geschäften und Dienstleistungen im Zentrum. Zudem zeigt sich, dass die Architekten vielerorts durch Akzente wie rötliche Ziegelsteinkacheln versucht haben, Verbindungen zur lokalen norddeutschen Bautraditionen herzustellen. Auch die Wohnungsgestaltung ist zu nennen. Der Architekturhistoriker Roman Hillman schreibt hier von einer „ausgesprochen attraktiven Ausgestaltung“ mit Dachterrassen – auch hier fragen wir uns, was wohl die Anwohner:innen darüber denken. Zumindest fühlt es sich etwas komisch an, in der Sommerhitze durch die fast ausgestorbene Siedlung zu laufen. Nur auf einem Parkplatz sehen wir ein paar Lütten Kleiner:innen wie sie ihre Autos putzen.
Mehr Alteingesessene treffen wir zur Mittagspause im 0815 der Kiezkneipe von Lütten Klein, in der laut einer NDR-Dokumentation schon in den 70er-Jahren das Bier aus großen 10.000l-Tanks ausgeschenkt wurde. Und auch wenn das Bier inzwischen aus kleineren Fässern kommt, hat sich gefühlt nichts verändert. Der Wirt ist immer noch der gleiche und auch die Menschen – es sind alle nur etwas älter geworden. Für kleines Geld gibt es im 0815 Bockwurst mit Brot samt Gurkenscheiben. Das stärkt für den weiteren Weg.
Weiter gehts in das Rostocker Plattenbauviertel, das deutschlandweit am bekanntesten ist, wenn auch eher im negativen: Lichtenhagen – gebaut zwischen 1971 und 1976. Hier lobt der DDR-Architekturführer die „interessante Raumbildung und die günstige Einordnung gesellschaftl. Einrichtungen als Ecklösungen“. Naja, wir halten sie eher für wenig gelungen und fragen uns, für welche Automassen eigentlich die extrem breiten Straßen zwischen den Häuserblöcken angelegt worden sind. Diese zum Teil extrem massiven Blöcke schwanken architektonisch zwischen Billighotels an der italienischen Küste und Bettenhäusern von Krankenhäusern – je nachdem von welcher Seite man sie betrachtet. Einer dieser massiven Häuserblöcke ist das bekannte Sonnenblumenhaus.
Es hat seinen Namen von einem auf der Ostseite angebrachten Sonnenblumenmosaik. Die ikonische Fassade hat es zu trauriger Bekanntheit gebracht, war doch eine im Sonnenblumenhaus befindliche Asybewerberaufnahmestelle und ein Heim von vietnamesischen Vertragsarbeiter:innen im August 1992 Ziel von rechtsextremen Ausschreitungen. Tausende Anwohner:innen jubelten damals, während Rechtsextreme Teile des Sonnenblumenhauses in Brand steckten. Nur knapp gab es damals keine Toten. Heute erinnert ein Denkmal an die Geschehnisse von damals, doch dieses zu finden ist gar nicht so leicht. Schließlich finden wir die unauffälige Marmorstele hinter dem Haus neben den Mülltonnen. Von weitem könnte man denken, dass es sich um einen Stromkasten handelt. Eine Infotafel oder weitere Informationen zu den damaligen Geschehnissen suchen wir vergeblich. Und die künstlerische Gestaltung des Denkmals mit einer Vertiefung lädt anscheinend viele dazu ein, es als Aschenbecher zu nutzen. Wir fragen uns schon, warum ausgerechnet dieser Ort für das Denkmal ausgewählt wurde und was das über den lokalen Umgang mit den damaligen Ereignissen aussagt.
Letzte Station unserer kleinen Tour ist das Viertel Gross Klein – auf der anderen Seite der Stadtautobahn und S-Bahn und historisch das jüngste der Rostocker Plattenbauviertel (gebaut zwischen 1979 und 1983). Hier dominieren lange Häuserbänder mit wechselnder Etagenzahl das Bild. Diese knicken voneinander ab, sodass begrünte Innenhöfe mit vereinzelten Spielgeräten entstehen. Leider ist das gesamte Viertel ähnlich wie Lichtenhagen etwas tot. Das einzige Geschäft ist ein Rewe mit großem Parkplatz. Cafés, Restaurants oder auch nur eine einladend gestaltete Springbrunnenanlage, die das Viertel und die Innenhöfe etwas beleben würden, suchen wir vergebens. Es zeigt sich, dass eben doch stellenweise das gewisse Quartiersmanagement fehlt um die Plattenbauviertel zu einer wirklich attraktiven Wohnlage zu machen und nicht bloß zu einer reinen Schlafstadt.
Zum Abschluss des Tages geht es dann nach Warnemünde und wer Badesachen dabei hat, kann sogar noch in die Ostsee springen.
Johann Stephanowitz
Literaturhinweise:
Bauakademie der DDR (Hg.) (1977): Architekturführer DDR. Bezirk Rostock. VEB Verlag für Bauwesen, Berlin.
Hillmann, Roman (2018): Für Varianz im Zentralismus. Wie Rostock die Berliner Plattenbauserien weiterentwickelte. In: Landesamt für Kultur und Denkmalpflege Mecklenburg-Vorpommern (Hg.) (2018): Alles Platte? Architektur im Norden der DDR als kulturelles Erbe. Christoph Links Verlag, Berlin. S.82–94
Mau, Steffen (2019): Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Suhrkamp, Berlin.
Palutzki, Joachim (2001): Der standardisierte Wohnungsbau. Zur Entwicklung der Wohnungsbauprogramme der 1960er und 1970er Jahre in der DDR. In: Lichtnau, Bernfried (Hg.): Architektur und Städtebau im südlichen Ostseeraum zwischen 1936 und 1980Beiträge der kunsthistorischen Tagung in Greifswald 2001. Lukas Verlag, Berlin. S.409-433.
Schneider, Steffen (Autor), Keunecke, Frederik (Produktion) (2020): Zurück in die Platte. Norddeutscher Rundfunk, Hamburg. https://www.ndr.de/fernsehen/programm/epg/Zurueck-in-die-Platte-Eine-Zeitreise-nach-Rostock-Luetten-Klein,sendung1081434.html (02.08.2021).