Die „Schlange“

Eckdaten:

Schlangenbader Straße Überbauung der Stadtautobahn
Schlangenbader Straße 1-10
14197 Berlin Wilmersdorf

Planung und Bau 1971–80

Architekten: Georg Heinrichs, Gerhard & Klaus D. Krebs 1977

Landschaftsplanung: Paul-Heinz Gischow, Walter Rossow

Bauherren: Heinz Mosch KG (1971–74); degewo – Deutsche Gesellschaft zur Förderung des Wohnungsbaues (ab 1974)

Grundstücksfläche ca. 103.100 m² Bebaute Fläche 48.100 m²

Terrassenwohnungen: 1.064 Gemeinschaftseinrichtungen: 118 Hobbyräume, 4 Gästewohnungen, 12 Gemeinschaftsräume, 2 Garagendecks mit 760 Stellplätzen

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„Wenn der Teufel dieser Stadt etwas Böses antun will, lässt er noch einmal so etwas wie die Schlange bauen.“ (Richard von Weizsäcker)

Mit meinem Projekt wollte ich vor allem die ästhetischen Aspekte und Details dieses Baus in den Vordergrund stellen. Ich habe die Schlange nicht nur als ästhetisch, sondern auch als atmosphärisch sehr reich wahrgenommen. Grafik und Farbgebung der äußeren Hülle, die die Autobahn in sich birgt, ergänzen sich. Trotz der durch Staub mittlerweile ergrauten weißen Paneelen, die die Wände nach Außen ergeben, wirkt die Schlange nicht farblos. Das leuchtende Gelb und Blau einzelner Elemente wie Fenster oder anderer Details in den Grünflächen und die individuelle Balkongestaltung brechen die Eintönigkeit auf.

Abbildung 1: Schlangenbader Straße, Umgebung; Quelle: Veronika Haluch
Soundimpression 1: Schlangenbader Straße, Aufgang

Das hat mich dazu inspiriert die Stimmung in Form von Tonaufnahmen und Bilder aufzufangen. Die Aufnahmen beschränken sich dabei auf alle öffentlich zugänglichen Abschnitte, denn ein Eintreten in die Flure der Wohneinheiten ist nur mit Schlüssel möglich. Die nach Innen gerichtete Planung der Gemeinschaftlichkeit und Verdichtung ist Außenstehenden (Nicht-Bewohnern) nicht erfahrbar und begrenzt sich auf die Geschäfte, Grünflächen und Spielplätze der Randbebauung. Doch da sich in den Lokalitäten vor allem Bewohner des Hauses aufhalten, kann man auch als Außenstehende etwas von der Gemeinschaftlichkeit der Hausgemeinschaft spüren.

Idee

Am Anfang der Idee der Autobahnüberbauung stand das Problem der zunehmenden Baulandverknappung in Westberlin. Zudem war die Ausrichtung von Großprojekten an den Autoverkehr seit der Ummantelung des Stadtzentrums durch einen Autobahnring in den Flächenwidmungsplänen Westberlins der 1950er-Jahren unumgänglich. Diesen Aspekt berücksichtigend sollte die Zerschneidung eines vorhandenen intakten Wohngebiets durch eine Autobahntrasse in Hochlage vermieden werden. Mehrfachnutzungen von Verkehrsflächen, Umweltschutz, Reduzierung der Lärmemissionen und die Kontrolle der Emissionen sollten ebenso berücksichtig werden.

Soundimpression 2: Schlangenbader Straße, Vor der Verbindungsbrücke

Planung und Gestaltung

An der Entwicklung des Projekts beteiligt waren die Heinz Mosch AG als Finanzgeber und besonders die Architekten Georg Heinrichs und Gerhard Krebs sowie Experten für Verkehrswesen, Schallschutz und Aerodynamik, unterstützt durch politische Entscheidungsträger. Georg Heinrichs knüpfte an die Moderne der 1920er-Jahre an, Gerhard Krebs untersuchte seit 1970 zusammen mit anderen Experten als Bürgerinitiative Arbeitskreis 6 (AKS 6) die Möglichkeiten einer Überbauung innerstädtischer Verkehrsachsen. Im Arbeitskreis kamen Fachleuten aus Schall, Verkehr, Wohnungswirtschaft sowie Stadtplaner, Architekten und Journalisten zusammen, die sich dem Thema der Mehrfachnutzung von Verkehrsflächen zuwandten, um der durch die Berliner Mauer verwehrten Expansion nach außen entgegenzuwirken.

Abbildung 2: Schlangenbader Straße, Umgebung; Quelle: Veronika Haluch
Soundimpression 3: Schlangenbader Straße, Anbau Grünanlage

Ein Mitglied des AKS 6 stellte den Kontakt zur Berliner Niederlassung von Heinz Mosch her, dessen Firma ein Grundstück in der Schlangenbader Straße, in unmittelbarer Nachbarschaft einer geplanten Autobahntrasse besaß. Der Autobahnabzweig war als Damm bereits aufgeschüttet, als der AKS 6 den Vorschlag der Überbauung der Autobahntrasse und den Abbau des Damms zur Wohnbebauung einreichte. Es wurde eine Architektengemeinschaft zwischen Georg Heinrichs und Gerhard und Klaus D. Krebs begründet, die dieses Projekt unter Mitwirkung von Alessandro Carlini und Wolf Bertelsmann  gemeinsam in Angriff nahm. Als der Bauträger in finanzielle Schwierigkeiten geriet, sprang die öffentliche Hand ein: die landeseigene degewo (Deutsche Gesellschaft zur Förderung des Wohnungsbaues in Berlin) führte das Projekt als Demonstrativ-Bauvorhaben des Bundes im Rahmen des geförderten sozialen Wohnbaus weiter. Diese Übernahme durch die öffentliche Hand führte zu einer stärkeren sozialen Ausrichtung hinsichtlich der Mietpreise, der Folgeeinrichtungen und der Grün- und Freiraumgestaltung. Das vorhandene Wohngebiet wurde vor einer Zerschneidung durch eine Autobahn bewahrt und der Wohnwert blieb erhalten. Trotz der enormen technischen Herausforderungen, wachsenden öffentlichen Gegenwinds und deutlicher Kostenüberschreitung wurde die Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße Ende 1979 fertiggestellt.

Details

Die eigentliche Autobahnüberbauung ist 600 Meter lang und hat 1064 Wohnungen. Dazu kommen 694 Wohnungen als Randbebauung. Die vierspurige Autobahn 104 wird durch zwei statisch und akustisch vom übrigen Bauwerk getrennte Tunnel durch den ersten und dritten Stock geführt, es verkehren täglich 54000 Autos hierdurch. Schotten im Abstand von 6,40 Metern definieren die Wohnungsbreiten. Die Wohnungen in der Überbauung werden oberhalb des Tunnels über Mittelgänge erschlossen. Im fünften Obergeschoss liegen in der Gebäudemitte den Wohnungen zugeordnete Einlagerungsräume.

Abbildung 3: Schlangenbader Straße, Fassadenansicht; Quelle: Veronika Haluch
Soundimpression 4: Schlangenbader Straße, Spielplatz

Die Hälfte der Wohnungen verfügt über Terrassen mit einer durchschnittlichen Größe von 15 Quadratmetern. Die Wohnungen der oberen, nicht terrassierten Geschosse sind mit Loggien ausgestattet. In den beiden obersten Geschossen liegen Maisonetten mit Terrassen nach Westen und Osten. Dreißig Prozent der Wohnungen sind Maisonetten. Über Eck gehende Verglasungen zu den Terrassen, Fensterbänder und teilweise Oberlichten sorgen für Belichtung. Es gibt Wohnküchen oder Barküchen. Faltwände gewähren Flexibilität. Bad und WC sind getrennt, das Bad vielfach direkt vom Schlafraum erreichbar. Den Schlafzimmern sind in den größeren Wohnungen Schrankräume zugeschaltet. Diese Wohnungen sind in einem Rundgang begehbar. Foyers und Treppenhäuser sind farblich, haptisch und formal einheitlich durchgestaltet und direkt belichtet.

Das Leitbild der gemischten Stadt, besonders in sozialer Hinsicht ist für die Schlangenbader Straße ausschlaggebend: mit ihr wurde das vorhandene Quartier durch Sozialwohnungen ergänzt, in der eine möglichst vielfältige Bewohnerschaft von annähernd viertausend Menschen einzog. Die Diversität der Ausrichtung des Wohnraums bot dabei Hilfe: dreißig Prozent der Wohnungen waren Alleinlebenden zugedacht, dreißig Prozent Paaren und vierzig Prozent Familien. Achtzig Wohnungen wurden speziell für Senioren geplant. Die Schlange konnte sich als eigener Kiez entwickeln. Mit den Einkaufs- und Freizeitmöglichkeiten in und um das Haus sind Orte der Begegnung für die Mieter entstanden.

Abbildung 4: Schlangenbader Straße, Innenansicht; Quelle: Veronika Haluch
Soundimpression 5: Schlangenbader Straße, Backshop

Doch erlebte dieser Mikrokosmos auf der Autobahn auch Veränderungen: lange galt sie als krimineller Hort und die eigentlich für die Gemeinschaftlichkeit geplanten Elemente wie die offen zugänglichen Flure wurden schließlich mit Türen abgetrennt, ebenso wurde eine einzigartige Müllabsaugekonstruktion 2015 trotz Protesten der Mietergemeinschaft abgebaut. Gerade ältere Mieter, die bereits lange im Haus wohnen, erleben die Veränderungen ambivalent. Im Jahr 2017 wurde der Wohnmaschine Schlangenbader Straße als einem einmaligen Projekt und Zeugnis der Megastrukturen, die in den 1960er und 1970er die internationale Stadtplanung bestimmten, der Denkmalschutz zugesprochen. Damit einher gehen hohe Kosten für Sanierung und Erneuerung der Bausubstanz.

Soundimpression 6: Schlangenbader Straße, Unter der Autobahn

Ich bin überzeugt, dass mit einer voranschreitenden Diversifizierung der Bewohnerschaft und anhaltendem Engagement die Schlange dank der vorhandenen Strukturen weiterhin beispielhaft Potenziale für gemeinschaftliches Wohnen und die aktive Einbindung von Bewohnern in ihr Wohnumfeld aufzeigen wird.

Veronika Haluch

Literaturhinweise

Literaturverzeichnis

Fiedler, Maria, „Schlangenbader Straße in Wilmersdorf: Verdruss in der Wohnmaschine: Es gab Zeiten, da war die „Schlange“ ein Musterstück von einer Siedlung. Doch inzwischen sind einige Bewohner mit dem Vermieter Degewo tief zerstritten.“ Tagesspiegel, 16. September 2015. https://www.tagesspiegel.de/berlin/bezirke/charlottenburg-wilmersdorf/schlangenbader-strasse-in-wilmersdorf-verdruss-in-der-wohnmaschine/12315048.html (letzter Zugriff: 29. Juli 2021).

Leiß, Birgit, „Wohnen in außergewöhnlichen Häusern – Die Autobahn im Haus.“ MieterMagazin, 14. Oktober 2019. https://www.berliner-mieterverein.de/magazin/online/mm1117/wohnkomplex-schlangenbader-strasse-die-autobahn-im-haus-111724.htm?hilite=%27Schlangenbader%27 (letzter Zugriff: 22. Juli 2021).

Steixner, Gerhard und Maria Welzig, Hrsg., Luxus fuer alle: Meilensteine im europaeischen terrassenwohnbau. Boston: Birkhauser, 2020.

Unternehmensgruppe Krebs GmbH & Co. KG, „Schlangenbader Straße: Mehrfachnutzung von Verkehrsflächen mit nachhaltigem Umweltschutzaspekt.“. https://ugk-berlin.de/projekte/schlangenbader-strasse/ (letzter Zugriff: 30. Juli 2021).

Welzig, Maria, „Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße, Berlin. Georg Heinrichs, Gerhard Krebs, Klaus Krebs 1971–80: Terrassenwohnungen als Autobahneinhausung. Das Berliner Wagnis Schlangenbader Straße.“ In Luxus fuer alle: Meilensteine im europaeischen terrassenwohnbau, hrsg. von Gerhard Steixner und Maria Welzig, 292–317. Boston: Birkhauser, 2020.

Kabel Eins „Die Berliner Schlange: Früher kriminell – heute ein Familienblock“ Abenteuer Leben, Upload: 09.04.2019, 30:52, https://www.youtube.com/watch?v=tjfYxaMvePA.