Mein Vater ist in den 70er-Jahren in der Gropiusstadt aufgewachsen. Nun ist er das erste Mal seit fast 40 Jahren zurückgekehrt.
„Was diese Bruchbude steht unter Denkmalschutz!?“, sagt der Mann in orangener Arbeitskluft. „Aber fotografieren sie ruhig nur.“ Eigentlich sind wir da schon am Ende unserer Tour durch die Gropiusstadt und wollten nur den Weg zum U-Bahnhof Zwickauer Damm wissen. Doch dann kommen wir mit dem Stadtreinigungs-Mitarbeiter mit dem imposanten Bart ins Gespräch. Er lebt hier in der Gropiusstadt und wundert sich, warum sich Menschen für sein Viertel interessieren. Eher beschwert er sich mit Berliner Schnauze über die Wohnungsverwaltung. „Also Sie seh‘n ja nich‘ wie das drinnen aussieht. Seit 30 Jahr‘n nüscht jemacht.“
Kann das eine Bilanz eine Bilanz unserer Fahrradtour durch die Gropiusstadt sein? Die in den 60er- und 70er-Jahren im Süden Neuköllns gebaute Vorzeigesiedlung rottet innen vor sich hin?
Zwei Stunden zuvor treffe ich meinen Vater vor den Gropius-Passagen am U-Bahnhof Johannisthaler Chaussee. „Ich hab gehört du willst in die Gropiusstadt“, sagt er bei einem (alkoholfreien) Hefeweizen in einem nahegelegenen Café. Ich erzähle ihm von unserem Seminar zur Ästhetik des Plattenbaus und er sagt mir, er hat von seinem Bruder eine Liste bekommen an Orten, die wir uns ansehen müssen.
Vorbild Hufeisensiedlung
Wir radeln los: Unsere erste Station ist auch gleich eines der ältesten Teile der Gropiusstadt: Die Gegend um den Otto-Wels-Ring, die Anfang der 60er-Jahre entstand. Die ersten Pläne für die Gropiusstadt oder die Siedlung Berlin-Buckow-Rudow wie sie damals noch hieß gab es in den 50er-Jahren. Die Wohnungsbaugesellschaft Gehag wollte mit ihr das in der Weimarer Republik durch Bruno Tauts Hufeisensiedlung begonnene Wohnband Britz fortführen. Hier wurde das erste Mal im West-Berlin der Nachkriegszeit in großem Maßstab gedacht: Wohnungen für 30.000 bis 50.000 Menschen sollten entstehen. Dabei sollte nach dem Motto Urbanität durch Dichte nicht nur auf kleine Bebauung gesetzt werden, sondern auch auf große in Plattenbauweise errichtete Wohnblöcke. Beauftragt wurde ein Team um den Stararchitekten und langjährigen Leiter des Bauhauses, Walter Gropius. Dass die Gropiusstadt ein von seinem Büro The Architects Collaborative entwickeltes ganzheitliches städtebauliches Konzept hat, ist schnell ersichtlich und auch unsere Tour schlängelt sich immer entlang der U-Bahnlinie U7, um deren unterirdische Trasse die Gebäude angeordnet sind.
Weiter gehts über den Löwensteinring. Mein Vater ist beeindruckt von den knallig grünen Balkongestaltungen, die wohl erst in den vergangenen Jahren hinzugekommen sind. Doch ein Anwohner sieht das ein bisschen anders. Zunächst fragt er uns mit kritischen Unterton, warum wir hier fotografieren. „Ich muss Ihnen das nicht sagen, aber ich sage es Ihnen gerne“, sagt mein Vater. Und ich stelle dem Mann unser Uniseminar vor. Der ist nun deutlich lockerer und erzählt offen, dass die Hausverwaltung nicht viel an den Häusern gemacht hat: „Also ich wohne jetzt hier seit 38 Jahren und die Fassaden haben Sie vielleicht hübsch gemacht aber in den Wohnungen ist nichts passiert“, sagt er und deutet auf eine Rollstuhlrampe vor dem Hauseingang. „Hier haben sie eine Rampe eingebaut, aber barrierefrei sind die Wohnungen nicht wirklich.“
Eine Oase im Plattenbauviertel
Wir fahren weiter in den Gaudigweg und das erste, was meinem Vater auffällt ist, dass dort wo früher ein Parkplatz war, heute ein Spielplatz ist. Wir kommen mit einer Anwohnerin ins Gespräch. „Hier bin ich aufgewachsen“, sagt mein Vater und deutet auf die einstöckigen weißen Wohnbungalows die das Areal am Gaudigweg prägen. Sie fallen heraus aus der übrigen Bebauung der Gropiusstadt mit ihren großen Wohnblöcken – quasi eine Oase im Plattenbauviertel.
Sein Vater, der damals als Bibliotheksdirektor in West-Berlin arbeitete, hatte von dem großen Neubauprojekt im Berliner Südosten gehört und auch dass dort Familienbungalows entstehen sollten. 1969 zog die Familie in die noch im Bau befindliche Gropiusstadt. „Für uns Kinder war das natürlich ein riesiger Abenteuerspielplatz“, sagt mein Vater und erinnert sich, wie er damals im Winter mit Freund:innen große Plastikpanels für Fassaden von der Baustelle geklaut hat und damit gerodelt hat. „Die lagen halt überall rum“, erzählt er. Wir stehen vor dem Weg, der zum Haus Gaudwigweg 16 führt, wo mein Vater gelebt hat. Weil das wie früher alles immer noch Privatbesitz ist, können wir nicht weiter. Mein Vater erzählt mir von den Umbauten, die sein Vater am Haus vorgenommen hat: „Hinter der Garage war so eine Abstellkammer, die hat er dann erweitert und in so eine Wandnische ein Bett integriert – das war dann mein Zimmer“, sagt er. „Ganz legal war das natürlich nicht, weil neben Garagen keine Wohnräume sein dürfen, aber irgendwie hat er das damals durchbekommen.“
Als nächstes erreichen wir die Walter-Gropius-Schule, wo der Bruder meines Vaters, also mein Onkel zur Schule gegangen ist. Ein Schulbau nach amerikanischen Vorbild: Mehrere kleine Pavillonbauten sind durch überdachte Wege miteinander verbunden. Ich frage meinen Vater was das denn damals so für Leute waren, die ihre Kinder an diese Schule schickten. „Ganz normale Angestellte“, sagt er, aber mehr weiß er auch nicht mehr. „Wir hatten kaum Kontakt zu den Nachbarn, nur einmal in den 70ern gab es ein Nachbarschaftsfest, aber richtig kann ich mich auch nicht mehr daran erinnern.“
„Das ist gewaltig“, ruft mein Vater als wir über den Wildmeisterdamm radeln. „Damals als wir hier eingezogen waren die Bäume frisch aus der Baumschule. Heute ist das eine Wahnsinnsallee geworden.“ Der Wildmeisterdamm ist eines der zentralen Wege durch die Gropiusstadt – früher fuhren hier noch Autos erzählt mein Vater, doch jetzt sind hier nur Fahrräder und Fußgänger:innen erlaubt. Wenige Meter unter uns fährt die U-Bahn und so wie sie erreichen wir als nächstes die Lipschitzallee. Hier am Bat-Yam-Platz (nach einer Stadt in Israel benannt) ist eines der Stadtteilzentren in der Gropiusstadt mit Läden und Cafés. Hier befindet sich zudem die katholische St. Dominicus-Kirche und ein Gemeinschaftshaus mit Stadtteilbibliothek. Eine Schautafel weist auf Veranstaltungen hin, während auf dem Boden des Bat-Yam-Platzes mehrere Tafeln über die Geschichte der Gropiusstadt informieren. An Orten wie diesen zeigt sich wieder, wie durchdacht die Gropiusstadt ist: Wie eine Perlenkette durchquert die U7 das Viertel, das durch die Bahnhöfe Johannisthaler Chaussee, Lipschitzallee, Wutzkyallee und Zwickauer Damm angeschlossen ist. Die U-Bahn wurden damals zusammen mit dem Bau der Siedlung errichtet und jeweils an den Stationen befinden sich wichtige Einrichtungen des täglichen Bedarfs und soziale Treffpunkte. Und dieses Konzept funktioniert bis heute: Vor den Dönerbuden sitzen größere Menschenmengen und schauen zusammen Fußball. Gerade läuft das EM-Spiel Deutschland gegen England.
Gropiusstadt berühmteste Einwohnerin
Wir radeln durch einen dichten Wald weiter, dessen Bäume wohl schon älter als die Gropiusstadt sind und der ein Vogelschutzgebiet ist. Und dann schält sich aus den Blättern das U-förmige Gropiushaus heraus – eines der architektonischen Highlights der Gropiusstadt. Mit seiner runden Form ist es eindeutig eine Anspielung auf die Hufeisensiedlung. Ursprünglich wollte Gropius vier solche runden Hochhäuser bauen, doch wurde das so nicht genehmigt, sodass es schließlich bei diesem einen blieb. Es ist ein komisches Gefühl, sich durch den Innenhof dieses runden Baus zu bewegen. Aus all den Wohnungen dringen unterschiedlichste Geräusche: Kinderschreien, das Brutzeln von Fett in der Pfanne, das Fußballspiel im Fernsehen, der Song Despacito. Auf einmal sind Böller zu hören, ein Hund bellt. Und die Vögel zwitschern im Hintergrund. Direkt neben dem Gropiushaus befindet sich mit dem Ideal-Hochhaus ein weiteres architektonisches Highlight. Es ist etwas mehr als 90 Meter hoch und damit eines der höchsten deutschen Wohngebäude. Wer hier früher wohnte, konnte über die Mauer in die DDR sehen. Denn die Gropiusstadt wurde direkt an den Rand West-Berlins. Nur wenige Meter durch das Vogelwäldchen und man steht auf dem ehemaligen Mauerstreifen und dann kommen schon die Felder. Doch mein Vater sagt, man hätte das damals nicht gespürt: „Das merkst du nicht, sie ist da und da ist Ende.“
Mit dem U-Bahnhof Wutzkyallee erreichen wir ein weiteres Stadtteilzentrum mit einem Einkaufscenter. Auf dem Rotraut-Richter-Platz spielen Jugendliche Fußball, obwohl auf einem Schild „Ball spielen verboten“ steht, doch niemand schert sich drum. Auch hier sitzt die ganze Nachbarschaft vor einem türkischen Imbiss und schaut Fußball: Jüngere und ältere, Deutsche und augenscheinlich zugezogene, einige mit Bier und andere mit Wasser. Das unbeschwerte Gefühl gemeinschaftlichen Zusammenseins nach Monaten des Lockdowns liegt in der Luft. Mein Vater spricht den türkischen Ladeninhaber an, der auch uns einen Tisch anbieten will und erzählt ihm, wie das früher hier aussah, doch dieser sagt nur: „Ich wohne seit drei Jahren hier, ich weiß nicht, wie das früher aussah. Zeiten ändern sich.“
In der Nähe des U-Bahnhofs Wutzkyallee, im Joachim-Gottschalk-Weg wohnte in den 70er-Jahren auch die wohl berühmteste Einwohnerin der Gropiusstadt: Christiane F. Durch ihr Buch Wir Kinder vom Bahnhof Zoo wurde das Viertel schlagartig deutschlandweit bekannt – doch eher im negativen Sinne als Problemsiedlung. „Überall nur Pisse und Kacke“, schrieb F. damals über ihre Heimatsiedlung.„Ich fand das Buch damals schon leicht erschreckend“, erzählt mein Vater. „Und mein Mutter sagte: Wir sind in die Gropiusstadt gezogen, lauter Asoziale, was haben wir da für eine Scheiße gebaut.“ Doch trotz des sozialen Umfelds war ein Wegzug keine Option: „Das hätte ja bedeutet, Hütte verkaufen.“ Viele andere haben es anders gehalten – in den 80er-Jahren kippt das Viertel, viele Wohnungen stehen leer. Lebten anfangs ungewöhnlich viele Beamt:innen und Angestellte in der Gropiusstadt, sind es jetzt vor allem Menschen mit Migrationshintergrund. Für meinen Vater ist das die größte Veränderung die er nach 30 Jahren wahrnimmt: „Auf einmal ist alles türkisch. Der große türkische Lebensmittelladen am Bat-Yam-Platz, das war früher ein ganz normaler Supermarkt.“
Anfang der 80er-Jahre verließ mein Vater die Gropiusstadt und zog in seine erste eigene Wohnung in Rixdorf. Umso spannender war es nun für ihn zurückzukehren: „Wie das alles schön geworden ist. Es ist grün geworden ohne Ende.“ Als wir am Ende unsere Fahrräder am Zwickauer Damm in die U-Bahn schieben, wissen wir, dass hinter den Fassaden der Gropiusstadt zwar einiges im Argen ist, doch das Viertel ist mehr als nur die graue Plattenbauhochburg, für die es viele halten.
Johann Stephanowitz
Literaturhinweis:
Hofmeister, Burkhard (1990): Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West). Berlin (West) – Eine geographische Strukturanalyse der zwölf westlichen Bezirke. Haack Verlag, Gotha. S.274–281