Dal deserto rosso (2021)

Kommentar von Polina Atasanova (SoSe 2021)

Das Gedicht Un millennio di primavera – verfasst von der italienischen Lyrikerin Maria Borio – ist Teil der Sammlung Dal deserto rosso, erschienen 2021. Dal deserto rosso (enthalten in dem gleichnamigen Buch) und Un millennio di primavera wurden während des ersten Covid19-Lockdowns in Italien von der Autorin entworfen. Auf diesem Wege sind zwei Gedichten entstanden, die während der Isolation geschrieben worden sind und von Isolation handeln.

Eigentlich lässt der positive Titel des Gedichtes nicht vermuten, dass es in dem Text um Einsamkeit und Unbehagen gehen wird, weil wenn man die ersten vier Versen betrachtet und sich von der märchenhaften Stimmung und von der Leichtigkeit der Natur mitreißen und bezaubern lässt, ist die Vorstellung von einer düsteren Fortsetzung des Gedichtes nicht möglich. Doch der „romantische“ Frühling – das dominierende Thema in Un millennio di primavera – kann auch anderen Gesichter zeigen.

Un millennio di primavera besteht aus insgesamt 16 Strophen, von denen die ersten beiden und die letzten beiden jeweils vier Verse und die mittleren acht Strophen fünf Verse aufweisen. Das Gedicht gliedert sich also in 58 Versen, weist kein Reimschema auf, und seine Struktur ist etwas ungewöhnlich, weil sich die Strophen in 2 Quartetten, 12 Quintetten und 2 Quartetten aufteilen. Maria Borios Metrik scheint eine streng grammatische und mathematische Anordnung zu folgen, die an der „räumlichen“ Metrik von Amelia Rosselli erinnert.

Das erste was in Un millennio di primavera auffällt, sind die zahlreiche Enjambements, mit denen die Lyrikerin spielt. Dies verstärkt das Gefühl von Isolation und zwingt der Leser seinen Rhythmus zu reduzieren und langsamer und bewusster zu lesen. In dem zweiten Vers findet man sofort eine Alliteration („i segreti si sentono“) und in der fünften Strophe kann man ein Vergleich erkennen. („come il Santo Sepolcro dalla peste del Trecento“, V. 21)

Die Gedichte Dal deserto rosso und Un millennio di primavera von Maria Borio klingen sehr biographisch und unterscheiden sich deutlich von ihren vorhergehenden Werken, die auf der Suche nach einer Form waren und sich mit Themen wie z.B. Geometrie, Durchsichtigkeit, Bildschirme, Perspektiven, Architektur, Materie oder Technologie befasst haben. Die Relation zwischen Realität und Virtualität tritt bei den neuen Gedichten in den Hintergrund, und es wird nicht mehr über die Auswirkungen der digitalen Welt auf unser Leben berichtet. In Un millennio di primavera geht es vielmehr darum zu hinterfragen wo wir in Zeiten von erzwungenen Isolationen wirklich stehen („La nostra specie, l’unica, crede alle macchine e al destino, fermi, vuoti, per la prima volta“, V.19 – 20).

Was ist unsere Rolle, was sind unseren Bedürfnissen? Verstärkt sich denn unsere Wahrnehmung in solchen Zeiten?

Das lyrische Ich wendet sich entweder an sich selbst oder an den Leser und fängt aus einem privaten und intimen Ort zu erzählen („Oggi vedo cos’è la primavera“, V.1 ) der sich zunächst ausbreitet („li guardi nel cielo su zattere di pino“, V.3) und schließlich kollektiver wird („Vediamo, desideriamo“, V.5).

Im Mittelpunkt steht auch die Frage der Authentizität („Ma come sono belle le persone, autentiche“, V. 24), die ein sehr wichtiges Thema für Maria Borio darstellt.

Für Maria Borio bedeutet das Wort „Authentizität“ naturgemäßes Handeln und Dal deserto rosso ist genau mit dieser Botschaft zur Welt gekommen. „Deserto“ steht nicht für Wüste, sondern für Wurzeln. In einem sehr interessanten Online-Treffen vom 23.06.2021, organisiert vom Italienzentrum der Freien Universität Berlin, hatte Maria Borio folgendes zu der Bedeutung des Titels Dal deserto rosso gesagt: „Deserto rosso ist ein Zustand des Seins, ein notwendiger Zustand, in dem wir mit unserer eigenen Authentizität zurechtkommen müssen“.

In Un millennio di primavera werden unendlich viele Fragen geworfen. Was sehen wir? Was wünschen wir? (V. 5); Wer zieht seinen Pyjama aus? (V. 9); Wessen Wünsche werden nicht gesehen? (V.13); Was vergessen die Turteltauben? (V. 17)?

Es wird den Eindruck vermittelt, dass nur das lyrische Ich versteht was damit gemeint ist. Wir als Leser haben keinen Zugang zu seiner Welt und tun uns deshalb schwer diese Aussagen zu entschlüsseln. Was man allerdings dekodieren kann ist die Symbolik, die sich hinter dem Text versteckt. Das lyrische Ich spricht von dem Weißdorn (V. 4 und V. 8) und von den Turteltauben. (Strophen 3 und 4). Der Weißdorn wirkt positiv aufs Herz und lindert Angstzustände und steht für Ruhe. Genauso positiv ist die Deutung der Turteltauben, die Liebe, Treue und Familie repräsentieren. An diesem Thema schließt sich perfekt der Vers 7 an „paura non del futuro, dell’amore“.

Wir haben keine Angst vor der Zukunft, aber haben Angst vor der Liebe und sind unfähig geworden zu lieben. Auch in dem mittleren Teil des Gedichtes lassen sich Zustände wie Müdigkeit und Sehnsucht erkennen. Zudem kann man auch eine Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit beobachten. (Der Mann, die Frau und die Königin von England Elisabeth II, V. 15, V. 26 und V.33 versus Cäsar und Napoleon V. 31)

Was haben diese drei Figuren gemeinsam? Cäsar und Napoleon waren Diktatoren, aber was ist mit der Königin Elisabeth II? Ist sie indirekt auch eine Diktatorin?

Noch interessanter ist der Kontrast, der zwischen den Sätzen in den Strophen 5 (V. 22 und 23) und 7 (V. 30 und 31) entsteht: „Ciò che è, è – se non è, non sono stato, non sono, non sarò?“ vs „Ciò che è, è – se non è, sono stato, sono, sarò?”

Ist das ein klarer Hinweis für eine Art Hoffnung, die noch möglich ist? Wenn nicht, dann wie kann man sich die Abwesenheit der Negation in der siebten Strophe erklären?

All diese Rätseln bleiben ungelöst. Aus dem letzten Vers „lei è solo una persona, e contempla i poteri“ lässt sich schließen, dass wir Letzen Endes nur passive Beobachter sind, die nichts anders können als zu betrachten was mit uns selbst und der Welt passiert, doch mit ein bisschen Mut („Il biancospino, per coglierlo, bisogna pungersi“, V. 8) können wir einen Ausweg aus dieser Phase des „irreversiblen“ Ausdörren finden und endlich authentisch werden.