Fiat lux (2012)

Kommentar

Alumbramiento weist gleich auf den ersten Blick eine sowohl graphische als auch inhaltliche Trennung in zwei Teile auf. Der Einzug vom ersten, im Kursiv geschriebenen Teil ist im Vergleich zum zweiten Teil deutlich vergrößert und es werden keine Satzzeichen verwendet. Dies dient dazu sowohl das Aufeinanderfolgen von Erinnerungen und Gedanken graphisch darzustellen als auch eine zeitlich-räumliche Trennung zwischen beiden Teilen zu schaffen: was im ersten Abschnitt passiert, findet im „Kopf“ des lyrischen Ichs statt, während das Geschehen im zweiten Abschnitt in der bolivianischen Stadt Santa Cruz de la Sierra im Jahr 1941 stattfindet, wie der Titel des Gedichtes bestätigt.

Das Entstehen von Bildern aus verschiedenen Erinnerungen und Erzählungen („fábulas“, V.34) wird durch die „destellos“ (V.9) des im Gedichtband allgegenwärtigen „cerillo“ (V.1) ausgelöst. Auf jede Offenbarung („revelaciones“, V.11) folgt eine andere. Ein „vestido rojo“ (V. 12,13), ein Kleid in der Farbe des Frente Único Antifascista, in dem die Großmutter der Autorin Mitglied war, und auch ein Hinweis auf die osteuropäische, sozialistische Vergangenheit der Familie Lauff[1]. In „connubio extraño de tiempos y de dominios“ (V. 15,16) bezieht sich das Wort „tiempos“ auf die Zeitspanne von den 1920er bis zum Ende der 1980er Jahren, während derer sich die Familie Lauff in Brasilien etabliert hatte und Abramos Großeltern die Briefe, die als Vorlage für das Gedichtband dienen, geschrieben hatten[2]. Bei „dominios“ geht es um die transnationale Geschichte der Familie Abramo-Lauff, die in verschiedenen Ländern (Italien, das heutige Rumänien, Brasilien, Bolivien, Mexico) verschiedene Herrschaften (das Königreich Italien, der Faschismus in den 1930er Jahren, die Diktatur von Getúlio Vargas und die Militärdiktatur in Brasilien) erlebt und dagegen gekämpft hatten[3]. „Garimpeiro“ und „embaúbas“ (V. 18,19) stellen eine Verbindung zu Brasilien dar, da sie nicht ins Spanische von der Dichterin übersetzt worden sind; die Erinnerung kann also dem Ort, in dem sie entstanden ist, zugeteilt werden.

Das Wort bzw. das Verb, das das Hauptthema des Gedichtes (besonders des zweiten Teils) darlegt und einen Übergang zu dessen zweiten Teil schafft, ist „alumbramiento“/“alumbrar“ (V. 22,26,35,37), ein Homonym in dem sich das Licht des „cerillo“ („los cerillos alumbran“, V. 26) und die Entbindung von Anna Stefania Lauff („aquí mi abuela alumbra“, V. 36,37) vereinen. Dem Begriff wird gleich am Anfang des zweiten Teils das Wort/Verb „parto“/“parir“ hinzugefügt („Alumbramiento, parto“, V. 35, „alumbra: pare (…)“, V. 37), als Ankündigung und Verdeutlichung des kommenden Themas aber auch gleichzeitig kontrastiv und analog. Der Prozess der Entbindung wird hier auf allegorische Weise durch die Verwendung von Begriffen beschrieben, die aus der Seemannssprache stammen. So ist Abramos Großmutter „capitana de un barco” (V. 40), „capitana de un parto” (V. 45), ihr Schiff macht Wasser (“Y allí está el barco haciendo aguas”, V. 43) und sie tut ihr Bestes, um es zu retten, das Blut strömt aus ihrer Gebärmutter (“ordena, anuda, enarbola una bandera de sangre en las troneras más negras”, V. 47-49), bis sie endlich “abierta, roja como una granada a la deriva” (V. 53-55) liegen bleibt.

Das Gedicht besteht aus insgesamt sieben Strophen, alle mit freien Versen. Es zeigen sich wenig Reime, wie zum Beispiel die rima imperfecta bei „distancias“ und „cosas“ (V. 2,3). Dadurch, dass es im Vers 4 keine Satzzeichen gibt, ergibt sich eine Antithese zwischen „oposiciones“ und „simetrías“, um das zeitgleiche Vorhandensein von Licht und Schatten darzustellen. Es sind auch zwei Chiasmen vorhanden: in den Versen 5 bis 8 durch die kreuzweise Stellung Verb/Substantiv („era“, „negro“) und Substantiv/Verb („negro“, „vuelve“) und auf analoge Weise in den Versen 31 bis 33 („cuerpo“/“asienta“, „asentado“/“cuerpo“); sie erzielen ein Gefühl von Dynamik: im ersten Fall, das Gefühl der Bewegung des Lichtes von einem Objekt zum anderen und die konsekutive Entstehung von Schatten, wenn das Objekt nicht mehr erleuchtet wird; im zweiten Fall, der Prozess des „zum Stillstand kommen“ des Körpers. Zugleich ist in den Versen 5 und 7 eine Epipher des Wortes „negro“ und in den Versen 31 und 32 die Anapher von „donde“ zu erkennen. Mit „muchos semejantes mínimos destellos“ (V. 9) wird ein Anti-Klimax geschaffen, indem die Eigenschaften der „destellos“ immer weiter eingegrenzt werden. Dadurch wird das Bild der Auslösung von Funken beim Anzünden des Streichholzes geschaffen. Im Vers 30 taucht das Wort „cajita“ durch Symploke am Anfang und am Ende des Verses auf, die Wiederholung des Wortes verstärkt das Gesagte und legt den Fokus auf die Schachtel, als Ort der eigenen Geschichte des lyrischen Ichs. In den Versen 35 und 37 sind gleichzeitig ein Polyptoton und eine Tautologie vorhanden: die Wörter werden in verschiedenen Beugungsformen wiederholt („alumbramiento“/ „alumbra“, „parto“/ „pare“) und sind auch sinnverwandt. Die Redewendung „fuentes partidas“ ist eine Katachrese, da hier das Platzen der Fruchtblase gemeint ist, wohingegen die „aufgebrochenen Quellen“ als sprachliches Bild (das in den allgemeinen Sprachgebrauch des Spanischen übergegangen ist) abgehandelt werden.

[1] “Mi abuelo Fúlvio fue uno de los primeros trotskistas brasileños (…) relataba su papel como uno de los líderes del Frente Único Antifascista (…) „la que llevó las armas fue mi mujer, Anna””; “Quise también recuperar la historia de mi abuela Anna Stefania Lauff (…) Ella era una migrante nacida en lo que hoy es Rumanía, hija de un albañil que llegó a ser miembro del Ejército Rojo y a recorrer el frente junto con Trotsky durante la Guerra Civil Rusa en el famoso tren blindado.”. Abramo, Paula, Sobre la escritura de “Fiat lux”, Ciudad de México, marzo de 2021.
[2] “Ella [Anna Stefania Lauff] y su familia llegaron a Brasil en los años 20 y se incorporaron enseguida como mano de obra al mercado de trabajo.”, “Ya por aquí se ve que las fuentes del libro son anécdotas, entrevistas e investigaciones sobre temas específicos, pero también hay que mencionar que una parte sustancial del material que lo nutrió son las cartas que mi abuelo escribió a lo largo de las décadas de 1930 y 1940.”, “(…) fue descrito por Anna Stefania en términos muy distintos, en una carta fechada en 1987”. Abramo, Paula, Sobre la escritura de “Fiat lux”, Ciudad de México, marzo de 2021.
[3] „São filhos de dois imigrantes italianos, Vincenzo Abramo (1869-1949) e Afra Yole Scarmagnan (1882-1966) (…) Yole era filha de Bortolo Scarmagnan (1848-1932), padeiro italiano especialista em panettones e amaretti e veterano de lutas anarquistas”, Paulo Moreira. Fiat Lux. Caracol (São Paulo, Brazil) 1.7 (2014): S. 338 “(…) dispersó por la vía de las armas una manifestación de la Acción Integralista Brasileña (fascista). El episodio, que terminó con la victoria del Frente Único y la desbandada de los integralistas, se conoce en la historia brasileña como la „Batalla de la plaza de Sé“ o, más popularmente, „la desbandada de las gallinas verdes“”, “El conjunto de cartas cubre un arco temporal que pasa por los encarcelamientos que sufrió mi abuelo debido a la persecución a comunistas emprendida por Getúlio Vargas, por su partida al exilio en Bolivia (…)”, “En esa misma carta, Anna se lamenta de la falta de memoria histórica. Refiriéndose a la dictadura militar brasileña, que se extendió de 1964 a 1965”, Abramo, Paula, Sobre la escritura de “Fiat lux”, Ciudad de México, marzo de 2021.