Historiae (2018)

Kommentar von Rahel Jung (SoSe 2021)

Perlustrazione II ist Teil eines Gedichtszyklus, den Antonella Anedda 2018 unter dem Titel Historiae veröffentlicht hat. Zentrale Themen in dieser Sammlung an Gedichten sind zum einen das Schreiben von Lyrik an sich, dem sich besonders die Gedichte Pelle, polvere und im Kontext der Digitalisierung auch Nuvole, io, widmen. Zum anderen ist der Tod einer – ihrer? – Mutter von großer Bedeutung. Ganz eindeutig wird dieser in Perlustrazione 1 geschildert, und auch nur auf Grund dessen, dass dieses Gedicht Perlustrazione II vorangeht, lässt sich lesen, dass es auch in letzterem um die Beschreibung einer im Sterben liegenden Frau geht. Insofern ist es sehr spannend es im Kontext dieser Gedichtreihe zu betrachten, denn es ermöglicht einem es sehr viel konkreter und inhaltlich fundierter analysieren zu können.

Zu Beginn gilt allgemein zu erwähnen, dass das vorliegende Gedicht ganz im Sinne zeitgenössischer Poesie in prosaischer Form verfasst ist. Ein striktes Metrum ist aufgelöst und es lässt sich auch kein Reimschema klar erkennen. Diese Abkehr herkömmlicher Formen ist der postmodernen Literatur eigen und so liest sich auch Perlustrazione II, wenn man möchte, wie ein Fließtext. Dennoch ist das Gedicht voller Stilmittel.

So lassen sich ganz zu Beginn mit „la luce lascio“ und „torcia tenuta“ zwei Alliterationen erkennen, die vom Lautklang her kontrastieren und durch diese Gegensätzlichkeit auf eine Weise ihre Zusammengehörigkeit manifestieren. Im Folgenden findet sich eine Assonanz durch die auffällige Häufung des Vokals „o“ und mit „dove bevo“ eine Form von Chiasmus. Auf das letzte Wort der Parenthese „cerchiato dalle nubi” lässt sich mit „tubi“ der erste eindeutige Reim finden. Im zweiten Satz endet jeder Vers auf ein „a“, dieser Endreim ist sehr auffällig; ebenso wie der grammatikalische Parallelismus von „con un barlume“ und „su un foglio“. Spannend sind die konjugierten Verben ab „torno“ – es handelt sich in dieser Reihenfolge um „guardo“, „ascolto“ und „resto“. Man könnte es als eine Art Klimax beschreiben, bei dem das lyrische Ich aus der Bewegung heraus über die Sinneserfahrung in die Ruhe kehrt. Synästhesie spielt hier also auch eine Rolle. Mit „russare“ (husten) handelt es sich um Lautmalerei, also Onomatopoesie. Auch eine Metapher lässt sich finden und zwar mit „il corpo orchestra“, denn, auch wenn der Körper Töne hervorbringt wird er „normalerweise“ nicht als Orchester verstanden, evoziert aber die Vorstellung einer Gruppe an Musiker*innen mit verschiedenen Instrumenten, die unterschiedliche Töne spielen.

In diesem Gedicht lassen sich weniger Themenschwerpunkte finden, viel eher handelt es sich um die Beschreibung einer Situation. Das Alltägliche einer Phase kommt zum Ausdruck. Nur im Kontext des Gedichtszyklus lässt sich begreifen, dass das lyrische Ich sich um seine/ihre kranke Mutter kümmert und es auch diese ist, direkt adressiert, die neben dem lyrischen Ich im Bett liegt und betrachtet wird. Das Gedicht lässt sich meines Erachtens nach in drei, wenn man so will, Strophen unterteilen. In der ersten wird der – sicherlich für alle aufgrund eigener Erfahrungen nachempfindbare – nächtliche Streifzug durch eine Wohnung beschrieben. Spannend dabei finde ich, wie sich das lyrische Ich von der Taschenlampe leiten lässt, der Lichtschein ihm oder ihr den Weg weißt, beziehungsweise ihn fast schon vorzugeben scheint. Das Trinken eines Glas Wassers ist auch sehr archetypisch. Dass nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen wird, wie sich der Himmel aufklart, spielt auf den Zustand des Halbwachens an, in dem der Raum des Wahrgenommenen deutlich verengt ist. Was ebenfalls dazu beiträgt ist die indirekte Wahrnehmung dessen – es findet kein direkter Blick aus dem Fenster statt, sondern nur durch die Reflektion in den Rohren, die sich innerhalb der Wohnung, des geschützten Raumes, in dem sich die Handlung abspielt, befinden, wird diese gesehen. Dabei fällt auf, dass innerhalb des Raumes keine Bewegung stattfindet, draussen hingegen sich die Wolken jagen. Diese alltägliche Situation wird als `nicht viel, aber dennoch ausreichend` erachtet, um ein Gedicht – oder aber eben „qualcosa“ – zu schreiben, und sei es nur in „Eile“. Diese vier Verse bilden für mich die zweite Strophe.

In der letzten geht es um das Beobachten der Mutter. Hervorstechend ist dabei der Kontrast zwischen den Zuständen von Wachheit und Schlaf – jeweils dem ich und dem du zugeordnet. Vorerst bin ich über das Kindliche im Profil gestolpert, bei längerem Nachdenken, erscheint es mir jedoch plausibel, dass im Alter und besonders bei Krankheit etwas Kindliches eintritt. Auch in der Kunst ist es ein rekurrierendes Sujet, das „dritte Alter“ wieder dem Kindlichen zuzuschreiben. Ferner rückt der Körper in den Fokus, derjenige, der von der Krankheit zerfressen wird und den Menschen sterben lässt. Die Krankheit der Mutter als solche wird jedoch nicht thematisiert, wie bereits gesagt, lässt sich von dieser auch nur durch den Kontext anderer Gedichte erfahren. Viel eher handelt es sich hier um Kuriosität, um das Erfahren-Wollen des Körpers und das Erforschen seiner – in diesem Fall – Geräusche. In diesem Sinne lässt sich auch der Titel Perlustrazione erfassen; einer Sache nachgehen, sie erfahren wollen. Begleitet von einem hypothetischen „forse“, das den Charakter des Überlegens dahinter betont. In den letzten drei Versen gewinnt das Gedicht in meinen Augen noch einmal eine andere Dimension, ein ganz generelles Thema wird aufgemacht, das davor nicht zwingend so zu erwarten war. Doch durch das Beobachten wird ein Gedanke angestoßen, der die Grundlage für eine Form menschlichen Zusammenlebens bilden könnte – und zwar das Urteilsfreie.