Historiae (2018)

Kommentar von Simona Balistreri (SoSe 2021)

V. 1: Finalsatz „per non svegliare“ verrät die Absicht der figura acutoris, niemanden aufwecken zu wollen.

V.2-3: „lascio che una torcia…mi guidi“: Struktur des Verben „lasciare“, (lassen) zeigt Passivität des Agens in der Handlung. Die Taschenlampe, die sie normalerweise neben dem Bett hat, führt sie durch den Korridor.

V. 5: „con la coda dell’occhio“: Katachrese: Eine Art Metapher, eine Ersatzbenennung, die auftritt, wenn ein Begriff aus einem anderen semantischen Feld entlehnt wird. „Coda“, wortwörtlich „Schwanz“ wird über die Grenzen seiner eigentlichen Bedeutung hinausgedehnt. Hier „Aus dem Augenwinkel“.

V. 7: Isotopiegruppe der Natur: dazu gehören die Begriffe „cielo, nubi, schiarire“.

V. 11: Metapher „con un barlume di poesia“ im übertragenem Sinne deutet „Barlume“ einen Schimmer, eine Spur von etwas.

V. 15: Verben des menschlischen Wahrnehmen: ascoltare, als einer der fünften Sinnen.V. 16 Isotopiegruppe des Klanges: Dazu gehören die Begriffe „ascolto, russare, suono, orchestra“.

Antonella Aneddas Schreiben ist geprägt von der Beobachtung, vom geduldigen Beobachten der Momente des täglichen Lebens. Die Realität wird in einer immanenten Dimension dargestellt.

In Aneddas Versen wechseln sich Prosa und Lyrik innerhalb desselben Gedichts ab: Es gibt eine starke strophische Freiheit und viele intertextuelle Bezüge.

Antonella Aneddas sechste Gedichtsammlung Historiae ist ein Beweis dafür, dass die alte Geschichte noch immer durch uns spricht. Tacitus und sein Latein sind heute mehr als aktuell und werden durch eine Mischung aus Italienisch und Sardisch – der persönlichen poetischen Sprache der Autorin – ans Licht gebracht. Das Italienische ist im Buch gegenüber dem Sardischen oft zweitrangig. Historiae spricht von uns, von unserem täglichen Leben, unserer Trauer, unseren Fehlern. Es spricht von unserem Land und unserem Meer. Elemente aus der Natur sind in den Versen fast immer vorhanden. Krankheit, Tod und Heilung sind wiederkehrende Themen in dem introspektiven Teil der Sammlung. Das erste und das letzte Kapitel, die den eher politischen Kern des Buches bilden, sind Landschaften gewidmet, die zugleich konkret und metaphysisch sind. Diese Kapitel sind außerdem den Gebeinen der Toten gewidmet, die uns daran erinnern, dass wir zur steinernen Natur des Universums gehören.

Insbesondere in dem Gedicht Perlustrazione II, das 2018 entstand, erkundet Antonella Anedda unsere menschliche Dimension und beschreibt sie.

Wie schon der Titel verrät, handelt es sich in diesen Versen um eine “Perlustrazione”, eine Erkundung in dem Schicksal des Menschen. Die Dichterin ist durch ihre Wahrnehmungsfähigkeit in der Lage, Figuren des Unsichtbaren zu beleuchten, Abwesenheiten und Mängel zu evozieren. Es entstehen Bilder, die mit unserem Alltag verbunden sind und uns einen Blick auf die Verarbeitung der persönlichen Trauer der Dichterin geben. Als ob es keinen Unterschied zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten gäbe und alle Ängste eins wären, zeigt uns Anedda die Welt durch ihre Brille.

In Anedda findet ein Perspektivwechsel von der aristokratischen Sichtweise des römischen Redners, Senators sowie Historikers Tacitus zur der der Autorin statt.

In diesen neuen Historiae sind die Protagonisten diejenigen, die am Rande der Gesellschaft leben, in den Außenbezirken von Rom, offensichtlich eine symbolische Stadt für Anedda.

Durch die Beobachtung der einfachen Gesten (v. 5 „bevo“ und v. 15 „ascolto il tuo russare“), die sich wiederholen, wird sich Anedda der Alltäglichkeit des Lebens bewusst.