Zur Radikalität Martin Luthers

Manchmal scheint es, als sei Martin Luther der Inbegriff der Reformation. Das stimmt historisch sicherlich nicht, gab es doch viel andere, noch würde Luther sich selbst so sehen. Als 1517 mit einem Brief und 95 Thesen gegen den Ablasshandel bei Bischöfen und Theologenkollegen für Aufruhr sorgte, hatte er mitnichten im Sinn, die Kirche, das Papsttum oder gar die bestehende Ordnung in Frage zu stellen. Ihn als „Wutbürger“ zu bezeichnen, stellt ihn in eine Tradition, mit der er wohl eher nichts zu tun haben wollen würde. Trotzdem beeinflusste er das europäische Denken und auch die europäische Geschichte mit seinen Ideen wie kaum ein anderer.

Titel des Spiegel 44/2016

Titel des Spiegel 44/2016

Sein zentrales Anliegen ist ein Theologisches – das Verhältnis des Menschen zu Gott. Das ist es auch, was ihn am Ablasshandel so stört. Für ihn wird hier eine künstliche Barriere zwischen Gott und den Menschen errichtet, indem die Vergebung Gottes als nur durch die Institution der Kirche mediiert konstruiert wird. Martin Luther sieht das anders. Vergebung ist eine Gnade, die von Gott kommt und nicht durch die Zugehörigkeit zu Institutionen, den Gehorsam gegenüber geistlichen Autoritäten oder den Kauf eines Ablasses erreicht werden kann. Nun könnte man vordergründig darauf verweisen, dass die Motivation für den Ablasshandel wohl weniger Motivation für den Ablasshandel war, als Einkommen für die Kirche zu generieren.

Aber das ist genau das bemerkenswerte an Ideen – dass sie manchmal Wirkung über die unmittelbare Debatte zu der sie gehören hinaus entfalten. Wenn ihre Zeit gekommen ist. Und das 16. Jahrhundert war eine solche Zeit, voller  radikaler Umbrüche und neuer Ideen. Luthers oben beschriebene Grundidee birgt mindestens 3 sprengkräftige politische Implikationen.

  • Wenn jeder Mensch eine individuelle Beziehung zu Gott hat, dann ist das Individuum und nicht die Familie, die Gemeinschaft oder die Kirche die Grundlage der Gesellschaft. Diese Idee ist schwerlich Luther allein zuzuordnen, Machiavelli und andere haben ähnlich gedacht und geschrieben. Es war eine Idee, die in der Luft lag, wenn man so möchte. In Luthers Fall wurde sie direkt in einen politischen Konflikt eingebracht, der die Kirche letztlich zerissen hat. Sie bekam eine Prominenz, die ihr vielleicht sonst er später und jedenfalls sehr anders zuteil geworden wäre.
  • Wenn das geistliche Heil Gnade ist, und nicht von der Kirche vermittelt, dann kann es geistliches Heil auch unabhängig von der Kirche geben. Und also auch einen (weltlichen) Bereich, in dem andere Regeln gelten können. Weltliches und geistliches Heil müssen nicht den gleichen Regeln folgen. Luther enfaltet diese Idee – die in moderner Interpretation auch Zwei-Reiche-Lehre genannt wird – in vielen seiner Schriften, unter anderem in „Von weltlicher Obrigkeit…“ (unser Text für Freitag). Luther war nicht der erste, der diese Idee präsentierte. Bereits Augustinus vertrat 1000 Jahre zuvor ähnliche Ideen. Doch mit Luther und in Verbindung mit der beginnenden Neuzeit entwickelte sich eine neue Dynamik.
  • Die dritte Implikation soll im Mittelpunkt unserer Sitzung am Freitag stehen, in der um die Gehorsamspflicht der Christenmenschen gehen wird. Wann und gegenüber wem ist man zum Gehorsam verpflichtet? Und warum?

Der Text für die kommende Sitzung ist eine 1523 erschienene Flugschrift – mit einer Widmung an Johann I., Herzog von Sachsen, der Luther in dieser Frage um Rat gebeten hatte. Flugschriften waren in dieser Zeit ein beliebtes Instrument der politischenn Debatte, enthielten oft Polemiken und versuchten in den politischen Konflikten der Zeit Einfluss zu nehmen. Der Buchdruck hatte sie möglich gemacht – ähnlich wie heute das Internet neue Formen politischer Auseinandersetzung ermöglicht. So ist auch Luthers Text dialogisch gehalten, es geht um die Klarheit des Arguments. Diesem wollen wir am Freitag nachspüren.

Literaturempfehlung

Dieter Korsch 2007: Martin Luther : eine Einführung. Tübingen : Mohr Siebeck.

Aus Krankheitsgründen erscheint dieser Text verspätet – ich bitte um Nachsicht und hoffe, es haben ihn dennoch einige gelesen.

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Der Beitrag wurde am Donnerstag, den 3. November 2016 um 15:16 Uhr von Ulrike veröffentlicht und wurde unter Inhaltliches abgelegt. Sie können die Kommentare zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können einen Kommentar schreiben, oder einen Trackback auf Ihrer Seite einrichten.

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