Von manchen bleibt nur ein Schuh – Teil 1

Über Geflüchtete und Vertriebene wird viel gesprochen, selten kommen sie selbst zu Wort. In der Ausstellung „Eine europäische Geschichte der Zwangsmigration” bekommen sie Raum, um ihre Geschichten selbst zu erzählen – als lebensgroße Projektionen oder durch ihre persönlichen Hinterlassenschaften. Ein Rundgang.

Von Svenja Borgschulte, Jana Kannenberg, Isabel Alwan

Auf ein weißes Blatt Papier hat ein Kind mit Bleistift ein Haus mit spitzem Ziegeldach, einer Tür und zwei Fenstern gemalt. Aus dem Schornstein des Hauses steigt Rauch auf, im Garten wachsen ein Rosenstrauch und zwei Bäume, einer trägt Früchte. Im Rahmen eines Kinderschutzprogrammes sollten Kinder aus einem UN-Flüchtlingslager im Jemen ihre Gefühle in Bilder fassen, erklärt ein kleines Schild mit der Nummer 16, die unter dem kleinen Bild angebracht ist, damit die Exponate richtig zuzuordnen sind. Im wolkenlosen Himmel thront keine strahlende Sonne, sondern ein Flugzeug, das vier Bomben aus seinem dicken Bauch abwirft. Es ist die Visualisierung eines Stephen King-Romans durch Kinderhand. Horror, der in den beschaulichen Alltag einbricht, nur, dass dieser Horror echt ist. Und für viele Menschen in vielen Regionen bis heute anhält oder gerade erst begonnen hat.

Die Ausstellung „Eine europäische Geschichte der Zwangsmigration” bringt den Horror, der mit Vertreibung und Flucht einhergeht und für viele Menschen Alltag ist, eindringlich zum Ausdruck. Das in Berlin am Anhalter Bahnhof gelegene Dokumentationszentrum „Flucht, Vertreibung, Versöhnung” hat mit der Ausstellung einen Lern- und Erinnerungsort geschaffen, an dem Betroffene erzählen. Die Ursachen, Dimensionen und Folgen ihrer Entwurzelung und Zwangssituation werden hier dokumentiert und analysiert.

Wie riecht Heimat?

Die Erzählungen Betroffener lassen erahnen, welches Leid sie durchlebt haben, welche Gefühlsebenen von Flucht und Vertreibung betroffen sind. Die Ausstellung schafft es, Gefühle wie Sehnsucht, Angst und Trauer in Exponaten zu konservieren: Wie sich Heimweh anfühlt und Heimat riecht, darauf versucht ein Stück Holz eine Antwort zu geben.

Auf einfühlsame Weise zusammengestellt erzeugen die Exponate, darunter Fotografien und Bilder wie auch Ton- und Filmaufnahmen, einen tiefen und umfassenden Eindruck von Vertreibung, Flucht und Zwangsmigration und lassen die Einzelschicksale deutlich werden. Interviews mit geflohenen Personen, die auf Bildschirmen in Lebensgröße gezeigt werden und uns dadurch ein Stück näherkommen, bekräftigen dies. Interaktive Karten und Screens, neben den zahlreichen Medienstationen, lockern die textreichen Bereiche auf und wecken Neugier, sich mit Schriftquellen wie Zeitdokumenten zu befassen. Diese bieten Eindrücke über die Hintergründe von Flucht und Vertreibung, die eng mit der europäischen Geschichte verwoben sind. Hinter jeder Schublade, jedem Knopf scheint eine unterhaltsame, wenn auch traurige Information zu stecken. Wir werden zu Mitfühlenden und gleichzeitig zu Forschenden. 

Wie geht Versöhnung?

2016 auf einem Rettungsboot der SOS Mediterranee zurückgelassener Schuh einer unbekannten Person – mehr dazu in Teil 2 des Rundgangs (c) Jana Kannenberg

An einer Stelle hängt eine Liste. Sie ist sehr lang und umfasst viele Seiten. Es sind Todeslisten von 33.293 Asylsuchenden, Geflüchteten und Migrant*innen. 33.293 Menschen, die aufgrund der restriktiven Politik der Festung Europas allein zwischen 1993 und 2017 auf der Flucht vor Krieg, Armut und Unterdrückung aus ihren Heimatländern ums Leben kamen. Sie waren diejenigen, die es nicht geschafft haben, die nicht gerettet wurden, von denen am Ende wirklich nicht mehr als ein Schuh bleibt, von vielen nicht einmal ihr Name.

Seite an Seite mit Betroffenen, durch die europäische Geschichte geführt stellt sich am Ende die Frage nach der eigenen Verantwortung. Ein wesentlicher Bestandteil dieses Rundgangs, denn nicht umsonst trägt das Dokumentationszentrum den Namen „Flucht, Vertreibung, Versöhnung”.  Politische Aufarbeitung, aber auch das Bewusstsein der Individuen über die Ursachen von Flucht, Vertreibung und Zwangsmigration scheinen heute wichtiger denn je. Ein Mangel dieses Bewusstseins lässt sich schließlich am zunehmenden politischen Rechtsruck erkennen. Die verschiedenen Faktoren, die für Flucht und Vertreibung verantwortlich sind, anzuerkennen sowie die Hilflosigkeit und Schicksale der Betroffenen, ist die Basis für eine Versöhnung, die auf Verständnis und Menschlichkeit beruhen sollte.

Fortsetzung folgt…

Ein Gedanke zu „Von manchen bleibt nur ein Schuh – Teil 1“

  1. Ein schön geschriebener, sehr nahegehender und berührender Beitrag.
    Ihr schreibt von „Flucht und Vertreibung, die eng mit der europäischen Geschichte verwoben sind und von „der Festung Europa“.
    Hattet ihr das Gefühl, dass die Paradoxität der Politik Europas / des Westens, einerseits als Auslöserin und Verantwortlichen für Flucht und Leid und andererseits durch ihre mangelnde Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, indem sie sich immer mehr abschotten und die Bedingungen für Geflüchtete zunehmend erschweren, in der Ausstellung ausreichend beleuchtet wird?
    Bietet die Austellung neben politischer Aufarbeitung und der Anerkennung von Fluchtursachen und den prekären Situationen von geflüchteten weitere Lösungsansätze?

    Leider habe ich den Zusammenhang des Holzgeruches und Heimat leider nicht verstanden. Was ist damit gemeint?

    Ich wollte außerdem noch auf ein Buch hinweisen, an das ich beim Lesen denken musste. Das haben wir damals in der Oberstufe gelesen. „Krieg stell dir vor er wäre hier“ von Janne Teller.
    Ein fiktiver Roman der die Realität einmal umdreht. Krieg in Europa und wir müssen in den nahen Osten fliehen um dort in Sicherheit leben zu können.

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