Vor uns ein beiger Karton gefüllt mit Archivmaterial. Die verschiedenen Materialien, die sich nach dem Öffnen vor uns ausbreiten, sind von ganz unterschiedlicher Sorte. Originale Flugblätter, die bei unsachgemäßer Behandlung auseinanderzufallen drohen, sowie stapelweise Sekundärliteratur, deren Gemeinsamkeiten die Schlagwörter „Islam” und „Erster Weltkrieg” zu sein scheinen.
Nachdem wir uns einen groben Überblick verschafft haben, mündet unser Interesse in einem britischen Geheimdienstbericht , neunzehn Seiten lang, bestehend aus Telegrammen, auf denen die Datierungsstempel und unterschiedlichen Aktennummern für Verwirrung sorgen. Die Telegram-Schrift erinnert an den Schrifttyp Courier New, typisch für einen mit Schreibmaschine verfassten Bericht, so wie man es aus Spionage-Thrillern kennt. Schwer zu entziffern dagegen die handschriftlichen Passagen, welche einigen Akten beigefügt wurden.
Nach dem gemeinsamen Lesen der ersten Seite, haben wir einen ersten Eindruck, worum es wohl gehen wird. Wir notieren uns die genannten Namen, die vermutlich eine bedeutende Rolle innehaben (darunter Ahmed Anzavur – oben im Bild – und Mustafa Kemal, der spätere Gründer der Türkischen Republik, dessen Name allen ein Begriff ist) und die erwähnten Ortsnamen sowie das Datum, an dem das Telegramm verfasst bzw. empfangen wurde. All das, so hoffen wir, wird uns helfen, das Dokument in einen historischen Kontext einbetten zu können.
Einordnung in den historischen Kontext
Der Titel der Akte im Online-Archiv lautet „Tscherkessen gegen Mustafa Kemal”, die Autoren werden an dieser Stelle auch schon genannt: C.H. Bentinck und F. Hadkinson.
Die weiterführende Recherche ergibt, dass es sich in der Akte um diplomatische Korrespondenzen handeln muss, welche zwischen Vertretern der britischen und griechischen Seite im Rahmen des Griechisch-Türkischen Kriegs (1919-1922) stattgefunden haben. Sie dokumentieren die Inkenntnissetzung des britischen Funktionärs Marquess Curzon of Kedleston (zum damaligen Zeitpunkt Secretary of State for Foreign, Commonwealth and Development Affairs) über militärische und politische Aktivitäten von antinationalistischen Akteuren und ihren tscherkessischen Unterstützern – darunter Ahmed Anzavur und seine Truppen – sowie über Aktionen der türkischen Nationalisten, welche unter Mustafa Kemal agierten.
Eine zentrale Rolle spielt C.H. Bentinck, ein britischer Diplomat, der von Athen aus als Drehscheibe von Informationen fungiert. Dies wird auch deutlich, als ein vermeintliches Missverständnis innerhalb dieses (Dreieck-)Schriftverkehrs droht, die laufenden Friedensverhandlungen von Lausanne zu stören.
Die griechischen Verbündeten der Briten, die dazu angehalten waren, während der Friedensverhandlungen keine weiteren militärischen Operationen durchzuführen, hatten sich nicht daran gehalten und ein Militärschiff mit dem Namen ASPIS, „Zerstörer”, Kurs auf das anatolische Festland nehmen lassen. Der Kapitän wurde daraufhin von griechischer und dann wiederum von britischer Seite zur Stellungnahme aufgefordert. Es zeigt sich an diesem Beispiel, wie die Hierarchie an Hand von Rechenschaftsablieferungen geregelt war.
Sehr spannend geschriebener Artikel! Ein paar Details bleiben unklar: Wer oder was sind die Tscherkessen, von denen immer wieder die Rede ist? Warum unterstützten die Briten offenbar die Kräfte gegen Mustafa Kemal? Und wofür kämpften diese Kräfte wie beispielsweise Ahmed Anzavur genau?
Ein paar Infos dazu könnten den Kontext noch erhellen.
Guter Punkt! Die Tscherkessen sind eine ethnische Gruppe aus dem Kaukasus, die im 19. Jahrhundert vor dem russischen Kaukasuskrieg ins Osmanische Reich geflohen war. In der Anfangsphase der türkischen Unabhängigkeitsbewegung unterstützten sie überwiegend Atatürk, in der Hoffnung auf einen Nationalstaat, unter dem sich alle Ethien und Kulturen wiederfinden und frei leben können. Doch bereits kurz nach der Unabhängigkeitserklärung im Jahr 1923 untersagte Atatürk den Tscherkessen jegliche kulturelle Betätigung.
Die Briten sahen ihre Felle davonschwimmen und versuchten sich ihre Macht weiterhin zu sichern. Deshalb kollaborierten sie mit diversen Gruppierungen und Kräften, die sich gegen die Gründung eines starken, unabhängigen türkischen Staates wandten. Die Briten wollten selbst die Kontrolle über das geschwächte Osmanische Reich behalten. Das hätte ihnen weiterhin den Zugriff zu wichtigen Ressourcen wie Öl garantiert. Außerdem wollten sie einen direkter Zugang auf die wichtigste Wasserstraße für den internationalen Handel, den Suezkanal. Deshalb versorgten sie Gegenspieler der türkischen Nationalbewegung, wie beispielsweise den osmanischen Offizier tscherkessischer Abstammung Anzavur und seine Truppen, mit Waffen, Munition und finanziellen Mitteln. Geholfen hat es ihnen am Ende nicht.