Whistleblowing einer britischen Geheimdienstakte…

Ein Besuch im Zentrum Moderner Orient (ZMO), der nicht nur tiefe Einblicke in den reichen Nachlass des Orientforschers Dr. Gerhard Höpp ermöglichte, sondern gleichzeitig eine Einführung in die Arbeit mit Primärquellen bot. Was kann uns eine Quelle über historische Zusammenhänge verraten? Welche Details kommen dabei zum Vorschein und wie ist der Informationsgehalt solcher Quellen aus wissenschaftlicher Sicht einzuordnen?

von Peter Meßing, Jana Kannenberg, P. Lange, Svenja Borgschulte und Sarah Alsarayrah

Die Korrespondenz im Detail

Geheimdienst, allein der Titel der Akte „Weekly Summary of Intelligence Reports issued by MI 1c, Constantinople” löst Neugierde aus. Die Berichte beginnen in der Woche bis zum 15. April 1920. Die antinationalistische Bewegung erzielte unter der Führung von Ahmed Anzavur bedeutende Fortschritte. Anzavurs Truppen nahmen die Stadt Panderma (heutiges Bandırma) ein und verbreiteten ihren Einfluss bis nach Ada Bazar, wo am 9. April ein Aufstand ausbrach. Infolge des Aufstands musste Eshref Bey, der Anführer der Nationalisten, mit 30 Gefährten aus der Stadt fliehen. Eshref Bey, auch bekannt als Keushjk Zade Eshref Bey aus Smyrna (heutiges Izmir), war erst kürzlich aus der Haft in Malta entlassen worden.

Ein weiterer Bericht aus Izmit meldete, dass die Bevölkerung von Kandira am 5. April den Nationalisten unter Mustafa Kemal jede Unterstützung verweigerte. Laut Kechfi Bey, dem Gouverneur von Broussa (heutiges Bursa), wurden die Dörfer Karaja Bey und Kirmasti von Anzavurs Männern besetzt.

Ahmed Anzavur rief alle Tscherkessen in einem Manifest auf, sich ihm gegen die Nationalisten anzuschließen. Parallel plante die Entente Libérale Party, ein Propaganda-Büro einzurichten, um gegen die Nationalisten zu agitieren. Kemal Bey, ein ehemaliger Polizeihauptkommissar, sollte dieses Büro möglicherweise leiten.

Mr. Bentinck, der britische Botschafter in Athen, berichtete in einem Telegramm vom 21. April 1923, dass kretische und andere Gruppen von Piräus nach Anatolien unterwegs seien. Eine offizielle Stellungnahme wurde vom Politbüro angefordert. Trotz anfänglicher Leugnung versprach das Politbüro eine Untersuchung und bestätigte später die Organisation von Freiwilligen, um die griechische Armee in Thrakien zu verstärken und Flüchtlinge zu beschäftigen. Tscherkessen auf den Inseln wurden ebenfalls in Gruppen organisiert, um Raubzüge nach Anatolien zu verhindern. Eine offizielle Stellungnahme wurde vom Politbüro angefordert und die Organisation von Freiwilligen später bestätigt.

Die türkische Delegation nach der Unterzeichnung des Vertrags von Lausanne (1923). In der Mitte mit Zylinder İsmet Pasha (İnönü) sowie zu seiner Linken Rıza Nur ebenfalls mit Zylinder. (Quelle: wikimedia commons)

In einem weiteren Bericht vom 25. April 1923 wird über die Anwesenheit einer kleinen kretischen Bande in Athen berichtet, die gegen die Türken operieren sollte. Diese Männer, meist Kreter, wurden zur Bekämpfung bulgarischer und türkischer Banden in Thrakien und Mazedonien rekrutiert.

Am 28. April 1923 wurden weitere Informationen über griechische Militärvorbereitungen bekannt. Mindestens fünf Gruppen griechischer Freiwilliger, jeweils etwa 500 Mann stark, verließen die griechischen Inseln in Richtung Anatolien. Flugabwehrgeschütze wurden auf den Hügeln um Athen platziert und die Regierung begann heimlich in Athen Tiere für die Front zu pfänden. Die Freiwilligen umfassten scheinbar einige Tscherkessen.

Ein Telegramm von Mr. Bentinck aus Athen, datiert auf den 29. April 1923, berichtete über die Ausbildung von Tscherkessen auf der Insel Mytilene. Diese Aktivitäten wurden dem Politbüro in Übereinstimmung mit einem vorherigen Telegramm des Außenministeriums gemeldet. Die Nachricht wurde nach Konstantinopel und Lausanne, Dreh- und Angelpunkt für politische Beziehungen, weitergeleitet.

Am 3. Mai 1923 landeten etwa achtzig kretische Zivilisten in Volo und reisten nach Thessaloniki weiter, wo sie bewaffnet und zu Banden formiert werden sollten. Die griechische Regierung wurde kritisiert, da diese Aktionen Griechenlands moralische Position schwächten und Vergeltungsmaßnahmen riskierten.

Ebenfalls am 3. Mai 1923 erklärte Mr. Politis, Leiter des Politbüros des Außenministeriums, Mr. Bentinck gegenüber in einem Telegramm, dass die Organisation von freiwilligen Personen zur Verstärkung der Armee in Thrakien genehmigt wurde, aber noch keine Banden nach Westthrakien entsandt wurden. Ein griechischer Zerstörer hatte entgegen den Anweisungen der Marine Flüchtlinge an Bord genommen, was als humanitäre Aktion verteidigt wurde.

Fazit

Die Quelle lässt uns hinter verschlossene Türen schauen. Sie bietet Erkenntnisse über die Verflechtungen politischer Beziehungen zur Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und über die Machtgefälle innerhalb dieser Beziehungen. Die Tatsache, dass ein griechischer Diplomat Rechenschaft vor britischen Vertretern abliefern muss und gleichzeitig seine Taten nicht unbedingt mit dem Gesagten übereinstimmen  müssen, zeigt wie sich Diplomatie und politisches Handeln bedingen und trotzdem umgangen werden können. Sie lässt uns die Hintergründe eines Friedensvertrags erkennen und liefert damit wichtige Erkenntnisse über historische Prozesse während eines bedeutenden politischen Umbruchs. Gleichzeitig ist sie als eine Perspektive innerhalb dieses Geschehens einzuordnen. Die Quelle ist als eine unwillkürliche Quelle einzuordnen. Ihr Inhalt ist somit als authentisch zu betrachten, jedoch spiegelt sie eine Seite innerhalb kriegerischer Auseinandersetzungen  und machtpolitischer Interessen wider. Die Informationen, die ihr zu entnehmen sind, müssen daher unter Berücksichtigung möglicher Absichten der Verfasser ausgewertet werden.

3 Gedanken zu „Whistleblowing einer britischen Geheimdienstakte…“

  1. Sehr spannend geschriebener Artikel! Ein paar Details bleiben unklar: Wer oder was sind die Tscherkessen, von denen immer wieder die Rede ist? Warum unterstützten die Briten offenbar die Kräfte gegen Mustafa Kemal? Und wofür kämpften diese Kräfte wie beispielsweise Ahmed Anzavur genau?
    Ein paar Infos dazu könnten den Kontext noch erhellen.

    1. Guter Punkt! Die Tscherkessen sind eine ethnische Gruppe aus dem Kaukasus, die im 19. Jahrhundert vor dem russischen Kaukasuskrieg ins Osmanische Reich geflohen war. In der Anfangsphase der türkischen Unabhängigkeitsbewegung unterstützten sie überwiegend Atatürk, in der Hoffnung auf einen Nationalstaat, unter dem sich alle Ethien und Kulturen wiederfinden und frei leben können. Doch bereits kurz nach der Unabhängigkeitserklärung im Jahr 1923 untersagte Atatürk den Tscherkessen jegliche kulturelle Betätigung.

    2. Die Briten sahen ihre Felle davonschwimmen und versuchten sich ihre Macht weiterhin zu sichern. Deshalb kollaborierten sie mit diversen Gruppierungen und Kräften, die sich gegen die Gründung eines starken, unabhängigen türkischen Staates wandten. Die Briten wollten selbst die Kontrolle über das geschwächte Osmanische Reich behalten. Das hätte ihnen weiterhin den Zugriff zu wichtigen Ressourcen wie Öl garantiert. Außerdem wollten sie einen direkter Zugang auf die wichtigste Wasserstraße für den internationalen Handel, den Suezkanal. Deshalb versorgten sie Gegenspieler der türkischen Nationalbewegung, wie beispielsweise den osmanischen Offizier tscherkessischer Abstammung Anzavur und seine Truppen, mit Waffen, Munition und finanziellen Mitteln. Geholfen hat es ihnen am Ende nicht.

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