Im ersten Teil unseres Besuches im Dokumentationszentrum „Flucht, Vertreibung, Versöhnung” sind wir vor einer Kinderzeichnung aus dem Jemen stehengeblieben. Da ist aber auch die eines syrischen Kindes, Osama, das seinen Fluchtweg von Syrien bis Deutschland aufgemalt hat. Bomben, Polizei, tote und ertrinkende Menschen sind mit Wachsmalstiften in Schwarz, Rot und Blau aufgemalt. Es lässt sich nur erahnen, was das Kind auf seiner Flucht über die Türkei, das Mittelmeer, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn und Österreich bis nach Deutschland hinter sich bringen und mit ansehen musste, um endlich in Sicherheit zu sein.
Die Einbindung solcher Quellen verleiht der Ausstellung eine besondere Eindringlichkeit, da sie das Erlebte direkter vermitteln, ohne den Filter oder mögliche Verzerrungen durch die Perspektive von Historiker*innen. Trotzdem muss man sich bewusst sein, dass selbst die Auswahl dieser Exponate bereits eine bewusste Lenkung des Blicks impliziert und zwangsläufig einem bestimmten Narrativ folgt.
Arabische Spuren in Europa
So gewährt eine interaktive Karte einen Einblick in den Lageralltag der etwa 80.000 meist syrischen Flüchtlinge im jordanischen Flüchtlingscamp Zaatari. Ein Foto von schlafenden syrischen Kindern in Beirut stellt exemplarisch das Leben von Kindern auf der Flucht dar. Die beiden Kinder, 7 und 13, liegen zusammengekauert auf einem mit Pappe ausgelegten Gehweg. Beide tragen Winterjacken, eines Ballerina, das andere Gummistiefel. Decken haben sie keine. In einer Vitrine liegt das weiße Blatt eines Quittungsblocks, das lediglich eine Handvoll arabische Zeichen enthält: أبو رواء – Abu Rawāʾ. Es ist der Name eines Schleppers und gilt gegen die Zahlung von 1.000 Euro als Ticket für eine Person für die Überfahrt von der türkischen Küste nach Lesbos. Daneben ein 2016 zurückgelassener Schuh einer unbekannten Person auf einem Rettungsboot der SOS Mediterranee. Viel zu Wenige können gerettet werden, viel zu Viele sterben und zerschellen an der Festung Europa – ob im Wasser oder an Land.
Europäische Spuren in arabischen Staaten
Ein Museum macht meist die Vergangenheit erleb-, zumindest erfahrbar. Die Ausstellung „Eine europäische Geschichte der Zwangsmigration” lässt gleichzeitig – mutmaßlich unbewusst – einen Blick in die Zukunft zu. Im Themenbereich „Wege und Lager” wird ein Iris-Scan-Projekt vorgestellt, das bereits seit 2016 in jordanischen Flüchtlingscamps läuft. Syrische Flüchtlinge müssen hier in einem Camp umgeben von Wüste mehr oder minder freiwillig ihre Iris scannen lassen, um am Bezahlsystem des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP) teilnehmen zu können. Es ist die einzige Möglichkeit für die Menschen an Lebensmittel zu gelangen. Dieses Beispiel zeigt deutlich, wie die Notlage von Menschen für experimentelle Zwecke ausgenutzt wird und wirft einen düsteren Schatten auf die Zukunft voraus.
Denn auch wenn der Besuch im Dokumentationszentrum endet und das hektische Treiben der Berliner Großstadt bereits wartet, ist die Auseinandersetzung mit der Thematik noch nicht vorbei. Diese einzigartige Verbindung aus sachlicher Dokumentation und das Selbstsprechen Betroffener lässt die Besucher*innen nicht unberührt. Es ist auch nicht vorbei für die Betroffenen, deren Geschichten hier miterzählt wurden. Und es ist nicht vorbei für diejenigen, deren Geschichten in 20, 50, 100 Jahren in einer Ausstellung zu finden sein werden. Für sie hat es vielleicht noch gar nicht angefangen. Umso wichtiger sind Ausstellungen wie diese, um ein Bewusstsein zu schaffen und um die Zukunft für so viele Menschen wie möglich doch noch besser gestalten zu können. Wir möchten sie allen ans Herz legen.
Sehr berührender Beitrag. Er erinnert mich an einen Kurzfilm aus dem Jahr 2019, der von den verlorenen Kindern auf der Flucht handelt. https://kuenstler-ohne-grenzen.eu/traces-of-litte-feet