Nach der Silvesternacht 2015/16 erinnerte das Medienecho auf die Vorkommnisse in Köln an fast 100 Jahre zurückliegende Ereignisse. Männer hatten am Kölner Domplatz Gewalt gegenüber Frauen ausgeübt, die von verbalen Attacken bis hin zu Vergewaltigungen reichte. Medien benannten teilweise die Täter, eine Debatte um Frauen und ihre Rechte, Rassismus und die deutsche Politik gegenüber geflüchteten Menschen erregte die Öffentlichkeit. Am 21. Januar 2016 titelte die taz »Die Erfindung des Nordafrikaners« und setzte hinzu: »Als Menschentyp sind sie seit Silvester neu erfunden worden, weil die Opfer der zahlreichen Übergriffe in Köln die Täter als ›nordafrikanisch‹ oder ›arabisch‹ aussehend beschrieben.«
Diese »Erfindung des Nordafrikaners« war nicht neu. Sie liest sich wie die Aktualisierung einer Debatte, die in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg stattfand und Ausmaße einer Kampagne annahm: Die Kampagne gegen die sogenannte Schwarze Schmach. Am Ende des Ersten Weltkrieges initiierte ein Bündnis aus Einzelpersonen und Pressevertretungen mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes eine Pressekampagne, die internationale Ausmaße hatte. Medien hetzten populistisch und rassistisch gegen Schwarze Soldaten, die der französischen Armee angehörten und das Rheinland besetzten.
Medien und Politiker_innen interpretierten die in der Silvesternacht 2015/2016 ausgeübte Gewalt gegenüber Frauen als Angriff auf die Nation. In den Debatten um die Ereignisse von Köln Anfang 2016 wurde damit der Diskurs der Vergewaltigung der deutschen Nation reifiziert. Es wurden ähnliche ethnosexistische Stereotype verwendet, wie sie Anfang der 1920er Jahre weitverbreitet waren. Die Weiße Frau stand schon in der Propaganda nach dem Ersten Weltkrieg stellvertretend für das Rheinland und dieses wiederum stellvertretend für das gesamte Kaiserreich. Der Weißen Frau wurde das rassistische Stereotyp des Schwarzen Kolonialsoldaten gegenübergestellt.
Aischa Ahmed stellt diskursiv marginalisierte Lebensgeschichten ins Zentrum ihrer Untersuchung und gibt Einblick in den Alltag arabischen Lebens in Deutschland zwischen 1871 und 1933. So gelingt ihr, aus sensiblem historischen Quellenmaterial ein Narrativ arabisch-deutscher Geschichte zu erstellen, das eigensinnige Akteur*innen zeigt und belegt: Die Vorstellung einer homogenen deutschen Nation war bereits um 1900 hinfällig.
Zitat aus dem Klappentext
Vom Rheinland nach Nafristan
Der größte Teil der von Frankreich rekrutierten Kolonialsoldaten, die im Rheinland stationiert waren, kam aus Senegal und aus Nordafrika. Insgesamt kamen die Soldaten der sogenannten Besatzungsarmee aus verschiedenen Ländern, zum Beispiel aus Tunesien, Algerien, Marokko, Senegal, Vietnam. Das Stereotyp des »Nordafrikaners« als vermeintlich besonders gewalttätig festigte sich innerhalb der Kampagne. Obwohl nach dem Ersten Weltkrieg noch nicht so benannt, sondern als »Marokkaner« oder »Halbaraber« bezeichnet, war der »Nordafrikaner« spätestens seitdem innerhalb der deutschen Öffentlichkeit bekannt.
Ein gutes Jahr nach der Silvesternacht 2015/16 rekapitulierte die Autorin und Journalistin Mely Kiyak in einer Kolumne auf Zeit Online die Meldungen der Kölner Polizei und zitierte den Kölner Polizeipräsidenten, der über »nordafrikanisch beziehungsweise arabisch aussehende junge Männer« gesprochen hatte, die im Polizeijargon auch »Nafris« genannt wurden. Kiyak resümierte:
Die Polizei hat nun doch verraten, wie Nafris aussehen. Nämlich arabisch. Des Weiteren wurde bekannt gegeben, dass es sich bei den 2.000 registrierten Männern der Kölner Silvesternacht 2016 nicht nur um »Nafris« aus Nordafrika, sondern auch um »Nafris« aus dem Irak, Afghanistan und Syrien handelte, eine Art neues Nafristan.
Das stereotype Bild des »Arabers« lässt sich unter anderem auf die Präsenz der Kolonialsoldaten in der Zeit von 1918 bis circa 1929 in Deutschland zurückführen. Der »Nordafrikaner« diente auch in den Debatten 2016 »abendländischer Selbstaffirmation«. Das heißt, er funktionierte als das imaginierte sexistische und gewaltvolle Gegenüber, als arabischer Anderer, zur Weißen deutschen Männlichkeit.
„Arabische Präsenzen in Deutschland“
Die Aktualisierung der hier dargestellten Debatte berührt in mehrfacher Hinsicht den Inhalt meines Buches. Denn sie zeigt: Die Präsenz arabischer Menschen in Deutschland ist kein neues Phänomen. Im Fokus der Studie steht die historische Rekonstruktion dieser Präsenz arabischer und arabisch-deutscher Menschen während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Welche Aushandlungen und Auseinandersetzungen unternahmen Menschen arabischer Herkunft als Teil der deutschen Gesellschaft vor dem Hintergrund orientalistischer, geschlechterspezifischer und statusbezogener Grenzziehungen und Vorstellungswelten?
Zur Person: Aischa Ahmed ist Historikerin. Sie setzt ihre akademische Arbeit u.a. in der politischen und historischen Bildungsarbeit ein. Professionell ist sie im Rahmen der Stadtteilarbeit in Berlin tätig.
Aischa Ahmed: »Arabische Präsenzen in Deutschland um 1900. Biografische Interventionen in die deutsche Geschichte«. 978-3-8376-5411-0 PDF:978-3-8394-5411-4
transcript Verlag, Bielefeld 2020
Der Text ist der Einleitung des Werks (S. 7-9) entnommen. Die Wiederverwendung erfolgt mit freundlicher Genehmigung durch den transcript Verlag. Besten Dank!
Die Abbildungen entstammen dem Band Elisabeth Desta (Hg.): Illustrated (Hi)stories. Kolonialsoldaten im Ersten Weltkrieg. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2018.
Das Titelbild zeigt einen Askari (Kolonialsoldaten) mit der Flagge von Deutsch-Ostafrika 1914; Bildnachweis: Autor: Walther Dobbertin, beschnittene Version des Bundesarchivs, Bild 105-DOA6369, Wikimedia Commons, lizenziert unter Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported license. Bearbeitet von Alice Socal.