2. Mai 2011 von Thomas Greven
Ein Artikel von Johannes Dudziak * und Thomas Greven
„All Politics Is Local“ ist ein politischer Aphorismus, geprägt vom langjährigen Sprecher des Repräsentantenhauses, Tip O’Neill, einem Demokraten aus Massachusetts. Die Idee, dass selbst nationale Kongresswahlen und innerstaatliche Wahlen in der eigenen Nachbarschaft entschieden werden, gilt in Amerika unter Politikern, Journalisten und Politikexperten als akzeptierte Weisheit. Die Wahlergebnisse 2010 ergaben jedoch ein gegensätzliches Bild, selbst bei Wahlen für lokale Ämter. Einer der Autoren konnte den Wahlkampf in Macomb County, den nordöstlichen Suburbs von Detroit, Michigan, von Anfang September bis zur Wahl am 2. November 2010 miterleben. Die harte Arbeit als Wahlhelfer im Büro des demokratischen Strategen Ed Bruley, der ein gutes Dutzend Demokratischer Wahlkämpfe für lokale Ämter in Macomb County und in ganz Michigan leitete, zahlte sich nicht aus, weil die Wähler Lokalpolitik und den lokalen Walkampf in ihrer Entscheidung ignorierten.
Präsident Barack Obama und seine Demokratische Partei erlitten eine verheerende Niederlage. Im Repräsentantenhaus verloren 63 Demokratische Abgeordnete ihren Sitz an Republikaner; dies war der größte Umschwung seit 1948. Nur vier Jahre hielt die Demokratische Mehrheit im Repräsentantenhaus. Dazu sechs Demokratische Gouverneure und sechs Senatoren weniger – Obamas Partei verlor auf der ganzen Linie.
Wie konnte dies geschehen, wo doch George W. Bush die Wähler zutiefst desillusioniert und das Ansehen der Republikaner ruiniert hatte? Noch wenige Tage vor dem Wahltag, dem 2. November 2010, lagen die Zustimmungswerte für die Republikaner insgesamt kellertief.[1] Nach der Wahl versicherten die Wähler allen Umfrageinstituten, dass die Wahl so vieler konservativer Kandidaten weniger als Wahl für Republikaner, sondern als Wahl gegen die Demokraten und gegen die Kultur in Washington zu verstehen sei. Welche Analyse des Wahlkampfes man auch zu Rate zieht – das Bild des desillusionierten Wählers, der nahezu alle Politiker in Washington für bodenlos korrupt hält, bleibt immer präsent, was sich am besten in den landesweiten Tea Parties ausdrückte. Die Tea-Party-Bewegung entstand in der Wirtschaftskrise 2008 als Ausdruck der tiefen Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen und politischen Lage und richtete sich vor allem gegen die von der Regierung Obama eingeführte Gesundheitsreform, den „bailout“ der Finanzinstitute und die staatliche Subvention der maroden Autoindustrie.
Neu sind das Misstrauen und die Enttäuschung der Wähler über die Politik in Washington keineswegs. Während von 1954 bis 1995 das Repräsentantenhaus fest in den Händen der Demokraten lag, wechselte in den letzten 16 Jahren die Mehrheit bereits zweimal. Auch die jüngsten Ergebnisse der Midterm-Wahlen leiten vermutlich keine neue Ära stabiler Republikanischer Dominanz ein. Ein Umfrage des Pew Research Center zeigt schon kurz nach der Wahl eine Verschiebung der Einstellung zu den beiden Parteien. Während vor der Wahl die Republikanische Partei leicht in den Bewertungsumfragen führte, hatten jetzt die Demokraten wieder die Oberhand. 42% der Befragten bewerten die Republikanische Partei als positiv, während 51% der Befragten die Republikaner negativ sahen. Die Demokraten hingegen wurden zu 48% als positiv bewertet und mit 45% als negativ.[2] Diese wechselhafte Stimmung, der weit verbreitete Verdruss der Wähler und die Polarisierung der Öffentlichkeit lassen auf weiterhin turbulente Zeiten in der amerikanischen Politik schließen.
Im Wahlkampf in Macomb County zeigte sich die Desillusionierung der Wähler. Macomb County gilt in der Literatur zu US-Wahlen als „bellweather district“, also als Wahlkreis, der nationale Trends spiegelt (Greenberg 1996: 29). Neben der tiefen Desillusionierung der Wähler war dort die zweite entscheidende Beobachtung, dass Lokalpolitik eine untergeordnete Rolle spielte, selbst in lokalen Wahlkämpfen.
„Wir wollen unser Land zurück!“ Tea Parties und die Nationalisierung der Kongress-Wahlen 2010
Zwar ist es seit den Kongresswahlen und insbesondere nach dem Anschlag auf die Abgeordnete Gabrielle Giffords in Arizona am 8. Januar 2011 merklich stiller geworden um die Tea Parties, die sich überall im Land gebildet haben. Doch ist ihr lautstarker Anti-Obama-Populismus ohne Zweifel charakteristisch für den nationalen Trend gegen die Demokraten. Die Tea Parties haben – entgegen der mit der versöhnlichen Rhetorik Obamas verbundenen Hoffnung auf ihre Überwindung – die gesellschaftliche Spaltung in den USA noch weiter verstärkt. Zudem hat diese ein hässliches Gesicht bekommen, ganz unabhängig von den Motiven des Attentäters von Arizona. Denn der Protest der Tea Parties hat irrationale Komponenten: Die Vorwürfe an Obama, gar kein Amerikaner zu sein, oder Hitler und/oder Stalin nacheifern zu wollen, haben etwas Hysterisches, ja Realitätsverweigerndes, oft auch Rassistisches. Das „paranoide“ Element der amerikanischen Politik, vom Historiker Richard Hofstadter bereits 1964 beschrieben, ist mit verschiedenen Ausprägungen wohl als Konstante einer staatsskeptischen, libertären politischen Kultur zu betrachten, die sich über Parteigrenzen hinweg als äußerst verschieden von der etatistischeren europäischen wahrnimmt und auf diese Verschiedenheit („American Exceptionalism“) auch stolz ist. In seiner Rede zur State of the Union betonte Obama, dass selbst der heftige, von manchen als „vergiftet“ bezeichnete politische Diskurs Grund für andere Nationen sei, die USA zu beneiden.
Mit den Tea Parties, als augenfälligstes Zeichen für einen nationalen Trend gegen die Demokraten, ist Bewegung in das Zweiparteiensystem der USA gekommen. Möglicherweise werden die Republikaner sich noch stärker als bisher jeglicher Kooperation verweigern, aus Angst davor, bei den nächsten Vorwahlen von radikalen Aktivisten herausgefordert zu werden. Sie wissen: Immer wieder sind Außenseiter in Wahlkämpfen erfolgreich, denn die Amerikaner sind seit langem davon überzeugt, dass die Macht im Allgemeinen und Washington im Besonderen ihre gewählten Politiker schnell korrumpiert. Vermutlich zu Recht, jedenfalls werden die Außenseiter von den Realitäten „inside the beltway“ stärker verändert als sie diese verändern können. Das politische System der USA ist institutionell auf Verhinderung von Wandel angelegt.
Allerdings wirken auch die Selbstreinigungskräfte des amerikanischen politischen Systems und sorgen meist dafür, dass völlig unqualifizierte, überforderte Amtsträger schnell wieder ausscheiden. Gerade der zweijährige Wahlrhythmus im Repräsentantenhaus ist darauf angelegt, dass sich der Unmut des Wahlvolks schnell ausdrücken kann. Und die beiden großen amerikanischen Parteien werden mit gutem Grund „big tents“ genannt, große Zelte. Sie haben wirkmächtige Minderheitenströmungen immer wieder aufsaugen und integrieren können. Es ist durchaus möglich, dass dies der „Grand Old Party“ (GOP) sehr schnell gelingt. Wesentliche Teile der Agenda der Tea Parties sind ohnehin Kernbestandteil Republikanischer Politik, nur war die fiskalische Verantwortung in den Bush-Jahren völlig vernachlässigt worden („Defizite spielen keine Rolle“). Insofern kann die Tea Party-Bewegung auch als innerrepublikanisches Korrektiv verstanden werden, ausgelöst allerdings durch einen Demokratischen Präsidenten, der durch die Krise ins Amt gekommen war, diese folgerichtig mit aktiver Regierungspolitik zu bekämpfen versuchte und dabei zwangsläufig die ohnehin schon massiven Schulden der USA vergrößern musste. Die fiskalkonservative Position der Republikaner und der Tea Parties ist angesichts der Vorgeschichten (Steuersenkungen und Krise) zwar heuchlerisch, genauso wie der Versuch, ausgerechnet gegen Obama mit traditionellen christlichen Werten zu punkten, dies verhindert ihren Erfolg aber bisher nicht.
Die Midterm-Wahlen 2010: Erfahrungen in Macomb County
Macomb County gilt als klassischer Bellweather-Distrikt in den Vereinigten Staaten. Ein Bellweather ist eine Region, durch deren Analyse nationale Trends vorhergesagt werden können. Als traditioneller „white-working-class“ Vorort, in den seit etwa 2000 von Jahr zu Jahr immer mehr Schwarze und Hispanics zuwandern, spiegelte Macomb County entscheidende politischen Entwicklungen in den USA. In der Präsidentschaftswahl 1960 war Macomb das demokratischste Vorstadtgebiet Amerikas: John F. Kennedy erhielt 63 % der Stimmen. Vier Jahre später stimmten die Bürger von Macomb sogar mit 74 Prozent für den neuen Demokratischen Präsidenten, Lyndon Baines Johnson. Doch schon kurz danach ging es bergab mit den Demokraten in Macomb: Aus der Demokratischen Festung wurde die Wiege der sogenannten Reagan Democrats. Ein Teil der weißen Mittelschicht fühlte sich verlassen von der Partei und warf ihr vor, über all den Kämpfen zugunsten von Minderheiten die entscheidenden Themen der Mittelschicht, wie bezahlbare Hypotheken, Bildung oder den Kampf gegen Kriminalität zu vernachlässigen. Während sie zunächst noch ihre vertrauten Demokratischen Abgeordneten, Senatoren, Sheriffs etc. wählten, begannen sie ab den 1980er Jahren in großer Zahl für die Republikanischen Präsidentschaftskandidaten zu stimmen (Greenberg 1996: 29). Die Zeit der Demokratischen Vorherrschaft in Macomb war damit beendet. Nach den beiden Reagan-Präsidentschaften wählten Macombs Bürger abwechselnd, mal für Republikaner, mal für Demokraten: erst zweimal für George H. W. Bush, 1988, aber auch 1992, dann für Bill Clinton 1996, 2000 allerdings für Al Gore, danach 2004 für George W. Bush und 2008 für Obama. Die Wähler von Macomb County haben damit fast immer auf den Sieger gesetzt.
Im Wahlkampf 2010 war die Organisation von Ed Bruley, dem Vorsitzenden der Democratic Party von Macomb County, deutlich stärker als die gegnerische Republikanische.[3] Das Büro hatte acht Angestellte, die den Wahlkampf von zwölf Kandidaten handhabten.[4] Zusätzlich unterstützten auch die Kandidaten selbst die Wahlkämpfe ihrer Kollegen.
Die Wahlkampfarbeit bestand aus drei Hauptsäulen. Zunächst ging es um die Planung und Durchführung von Veranstaltungen zur Spendenbeschaffung. Die zweite Säule bildete die Kontaktaufnahme mit den Wählern. Diese wurde erreicht, indem Kandidaten in ihrem Wahlbezirk an den Haustüren klopften oder durch das Verteilen von Wahlkampfbriefen, Einladungen zu Wahlkampfveranstaltungen, Flaggen oder kleinen Tannenbäumen.[5] In der letzten Säule ging es darum, Wahlkampfliteratur und mediale Werbung zu erstellen und zu realisieren. Dabei wurde sehr viel Zeit auf Wahlkampfbriefe verwendet, die von rund 60 freiwilligen Wahlhelfern frankiert und dann von Mitarbeitern aus dem Büro an die jeweiligen Poststellen gebracht wurden.
Das Ergebnis für die Demokraten in Macomb war düster. Von den zwölf im Büro gemanagten Wahlkämpfen konnten nur die vier Kandidaten gewinnen, deren Wahlkreise dank demographischer Begebenheiten in sicherer Demokratischer Hand lagen. Die anderen acht Wahlen wurden klar verloren. Ed Bruley selbst versuchte einen Posten im Vorstand einer der drei großen staatlichen Universitäten in Michigan, Wayne State University, zu gewinnen. Darüber wurde im ganzen Bundesstaat abgestimmt. Bruley konnte jedoch nicht mal im heimatlichen Macomb County über den dritten Patz hinauskommen. Die zwei anderen vom Büro geführten Wahlkämpfe für Ämter im ganzen Bundesstaat verliefen ähnlich schlecht: Paul Gieleghem kandidierte als State Senator und Sarah Roberts stellte sich zur Wiederwahl im Michigan House of Representatives. Beide verloren deutlich. Die zwei Kandidaten für Richterämter im Circuit Court, die von der demokratischen Partei offiziell empfohlen und von Ed Bruleys Büro unterstützt wurden, verloren kläglich: ein Kandidat verlor mit 18 Prozent Abstand, die andere Kandidatin mit 13 Prozent. Lediglich in Macombs Legislative, der County Commission, konnten drei Sitze verteidigt und einer hinzugewonnen werden. Diese vier Rennen wurden aufgrund der vielen Demokratischen Anhänger im jeweiligen Wahlkreis als sicher betrachtet. Dennoch gingen zwei davon knapp aus.[6] Im Wahlkampfbüro wurde kaum für diese vier Rennen gearbeitet. Das Büro beschäftigte sich hauptsächlich mit den Wahlkämpfen von State Senate Kandidat Paul Gieleghem, State Representative Sarah Roberts, den Kandidaten für den Circuit Judge und zwei Wahlen für die County Commissioner Brian Brdak und Jeffrey Sprys. In diesen zwei lokalen Wahlkämpfen ging es um Stimmen im Norden von Macomb County, der Republikanischer als Macombs Süden ist. [7]
Die Demokraten gaben in Macomb die Themen vor und hatten als Mehrheit in der Kommission viele Erfolge vorzuweisen: Die Kommission (mit County Commissioner Brdak als Vorsitzendem des Finanzausschusses) hatte den Haushalt ausgeglichen, die Anzahl der Kommissionssitze von 26 auf 13 halbiert, eine Exekutive in Macomb County geschaffen und ihre eigenen Gehälter zweimal gekürzt. Dazu suchten ihre Kandidaten deutlich mehr Kontakt mit den Wählern als die Republikaner. Dennoch zeigte der lokale Wahlkampf keine Wirkung. Hätte der lokale Wahlkampf nicht stattgefunden, es hätte keinen Unterschied gemacht. Der nationale Missmut über die staatlichen Rettungsaktionen der Finanzindustrie, die Gesundheitsreform und die Ohnmacht der Politik, das Land aus der wirtschaftlichen Krise und insbesondere aus der Arbeitslosigkeit zu führen – all das überwog bei weitem die lokalen Themen.[8]
Die unten stehenden Grafiken von Andrew Gelman verdeutlichen, dass die Beobachtungen in Macomb dem nationalen Trend entsprechen. [9] Gelmans Grafiken zeigen anhand von Quartilsabständen, wie die Wähler in allen 50 Bundesstaaten (Grafik I.) und 3.000 Counties (Grafik II.) immer mehr für Kandidaten einer Partei stimmen. [10] Wenn Wähler sich für einen Republikanischen oder Demokratischen Präsidentschaftskandidaten entscheiden, ist es zunehmend wahrscheinlich, dass die Wähler für Kandidaten der gleichen Partei in Kongress- und lokalen Wahlen stimmen. Stimmen für Kandidaten dritter Parteien sind von den Grafiken ausgenommen. [11]
Die Grafiken zeigen zusammengenommen den stetigen Rückgang der Abweichungen zwischen Counties und Bundesstaaten: Wähler orientieren sich zunehmend an den nationalen Kandidaten und der nationalen Stimmung. „All Politics is local“ spiegelt die aktuelle politische Realität in den USA nicht länger.
Ein Ausblick
Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass die Tea Parties die Republikaner mit ihren radikal und kompromissunwillig vorgetragenen Forderungen in Geiselhaft nehmen können, die Republikaner werden sich sicherlich unter dem Eindruck dieser Herausforderung und der Wählerdemographie verändern. Angesichts eines schwarzen Präsidenten wächst nämlich die Angst vieler Weißer davor, dass ihnen „das Land weggenommen wird“. Befeuert wird dies durch einen demographischen Trend, der die Weißen tatsächlich zu einer von vielen Minderheiten im Land machen könnte – was an immer mehr Orten konkret sicht- und fühlbar wird. Diese „weiße Angst“ wird von den Tea Parties und von den Republikanern konsequent instrumentalisiert. Damit droht die GOP vollständig zur „Partei der Weißen“ zu werden. Kurzfristig könnte eine zur Interessenvertretung der weißen Amerikaner mutierte GOP stärker als je zuvor von den spezifischen institutionellen Arrangements des Landes profitieren; schließlich geben diese den bevölkerungsarmen (und weiterhin von Weißen dominierten) Staaten sowohl im Senat als auch bei der Präsidentschaftswahl ein besonderes Gewicht.
Langfristig ist die absehbare, möglicherweise exklusiv „weiße“ Radikalisierung der Republikaner eine Tragödie – und zwar nicht „nur“ für die Republikanische Partei, sondern für die Vereinigten Staaten insgesamt. Alles spricht dafür, dass die nähere Zukunft der amerikanischen Politik vor allem zu einem Kampf um die weißen Wähler wird. Diese sind für Populismus, Nativismus und Rassismus ansprechbar, aber eben durchaus auch für „working-class politics“.
Die zunehmende Nationalisierung der amerikanischen Politik, die sich in Wahlen ebenso zeigt wie im parlamentsähnlichen Verhalten der GOP im Kongress, läuft auf eine Präsidentschaftswahl 2012 hinaus, die ein Referendum über die Rolle des Staates in Gesellschaft und vor allem Wirtschaft der USA sein wird. Obama und noch mehr die GOP üben sich im „Brinkmanship“, d.h. die Problemlösung tritt hinter die „politics“ der für die Wahlen vorteilhaften Position zurück. Die Republikaner sind dabei von wirtschaftlichen (Steuersenkungs-)Interessen und von Ideologie getrieben, während die Demokraten keinerlei Vision jenseits des Wahlsiegs mehr eint; sie verteidigen weiterhin lediglich Restbestände des New Deal und der Great Society. Dennoch können sie darauf hoffen, dass die Wähler 2012 noch einmal die verbliebenen Gemeinwohlorientierungen (Social Security, Medicare) höher bewerten als das Steuersenkungsversprechen der Republikaner. Dabei kommt es u.a. auf die Rentnerinnen und Rentner an, aber vielleicht entdecken die Amerikaner auch die Notwendigkeit von Gewerkschaften wieder, jetzt wo in einigen Staaten das unsinnige, weil krisenverschärfende Sparenmüssen die Gouverneure zum Generalangriff auf die Tarifverträge und Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes führt. Allerdings übersehen die Medien bisher recht konsequent die wachsende Protestbewegung von links; die Tea Parties sind medial präsenter.
M.a.W., je stärker die Republikaner und insbesondere die Tea Parties ihr antistaatliches Spiel überreizen, desto größer sind die Chancen der Demokraten und insbesondere Obamas, die Wahlen zu gewinnen. Mangels eines überzeugenden Programms für die zukünftige Gestaltung der USA jenseits der Abfederung globalisierungsinduzierter sozialpolitischer Grausamkeiten bleiben sie dennoch in dem konzeptionellen Gefängnis eines von den Republikanern dominierten politischen Diskurses.
Auch die „local politics“ sind noch nicht passé. Wie Gelman es formuliert: „All politics are local — if you’re Tip O’Neill and represent an ironclad Democratic seat in Congress”. Viele Kongresssitze bleiben dank demographischer Gegebenheiten in fester Hand einer der Parteien. Daran wird auch die zunehmende Nationalisierung der innerstaatlichen Wahlen nichts ändern. Auch die Kandidaten, die in hart umworbenen Wahlkreisen antreten, sollten sich jedoch darauf einstellen, dass die Regierungspolitik eine bedeutende Rolle in ihrem Wahlkampf spielen wird.
* Johannes Dudziak ist B.A. Absolvent des JFK Instituts. Während den Midterms 2010 hat er in Macomb vor Ort gearbeitet. Im Bundestagswahlkampf 2009 war er für das Team Frank-Walter Steinmeier tätig. Ab Herbst ist er Masterstudent an der LSE.
Bibliographie:
Gelman, Andrew: All Politics Is Local? The Debate and the Graphs, 03.01.2011, https://fivethirtyeight.blogs.nytimes.com/2011/01/03/all-politics-is-local-the-debate-and-the-graphs/
Greenberg, Stanley: Middle Class Dreams, The Politics and Power of the New American Majority. New Haven Connecticut, 1996.
Republicans Hampered by Low Approval Ratings, October 5, 2010, https://www.cbsnews.com/8301-503544_162-20018651-503544.html
[1] In einem National Journal Poll vom 5. Oktober 2010 hatten die Republikaner eine Zustimmungsrate von 24 Prozent, die Demokraten von 30 Prozent (CBS NEWS, 05.10.2010, Republicans Hampered by Low Approval Ratings).
[2] Pew Research Umfrage, veröffentlicht am 23. März 2011: Obama Tests Well at Start of Reelection Run.
No Frontrunner in Slow-Starting GOP Race. https://people-press.org/2011/03/23/obama-tests-well-at-start-of-reelection-run/
[3] Ed Bruley ist der Vorsitzende der Democratic Party in Macomb. Er war von 1977 bis 2002 der Büroleiter von David Bonior, von 1977 bis 2001 Abgeordneter Michigans im US House of Representatives. Die gegnerische Republikanische Organisation hat kein eigenes Büro mit Festangestellten. Die lokalen Kandidaten machen ihren Wahlkampf alleine mit finanzieller Hilfe der Michigan Republican Party.
[4] Das Wahlkampfbüro ging aus dem Büro des US-Kongressabgeordneten David Bonior hervor.
[5] Die Tannenbaumsetzlinge wurden im ersten Kongresswahlkampf David Boniors 1976 eingeführt. Damals hatte ein Sturm viele Bäume entwurzelt und Bonior, einer der ersten umweltbewussten Kandidaten der Demokratischen Partei, wollte ein „grünes“ und nachbarschaftliches Zeichen setzen. Die „Bonior Trees“ wurden zum Markenzeichen.
[6] County Commissioner David Flynn gewann mit 2,6 Prozent Vorsprung gegenüber seinem Gegner, Ron Albers. Der Kandidat Fred Miller gewann bloß mit 6,8 Prozent in der demokratischen Hochburg Clinton Township und Süd-Mount Clemens gegen eine Kandidatin, von der das demokratische Büro überhaupt keine Wahlkampfaktivität beobachten konnte.
[7] Der Süden grenzt an Detroit. Dort wohnen mehr Gewerkschaftsmitglieder und ethnische Minderheiten.
[8] Selbst der Bailout der Automobilindustrie, die in der Region wichtigste Branche, sorgte durchaus bei einigen Bürgern für Unmut, wie die Wahlkampfhelfer täglich feststellen mussten.
[9] Andrew Gelman ist Professor für Statistik und Politikwissenschaften am Applied Statistics Center der Columbia University in New York.
[10] Mithilfe von Quartilsabständen lassen sich Messreihen miteinander vergleichen. Ein Wert heißt oberes Quartil, wenn mindestens ein Viertel aller Werte größer ist, als dieser Wert. Der Quartilsabstand ist die Differenz aus dem oberen und unteren Quartil.
[11] Gelman sagt Drittparteienwähler sind vernachlässigbar, weil Sie von den Wählern der beiden Parteien und den Nichtwählern kommen.