Autor: Manuel Góngora-Mera Post-doctoral Lecturer LAI/FU Berlin
Ein Jahr nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens mit der FARC ist der Stand der Umsetzung des Friedensvertrags prekär. Fortschritte wurden bis jetzt bei den Punkten, die vor allem die FARC (wie der Prozess der Demobilisierung und die Abgabe von Waffen) oder die Vereinten Nationen (Überprüfung der Waffenlieferung und Zerstörung von Kriegsmaterial) betreffen. Der Staat hat grundsätzlich bis jetzt die Verfassungsreform, die die Vereinbarungen des Friedensabkommens bewahrt, erfüllt und die politische Reintegration der FARC eingeleitet (mit der formalen Transformation der FARC in die politische Partei „Fuerza Alternativa Revolucionaria del Común“). Nichtsdestotrotz hat der Gesetzgebungsplan, der die normativen Pfade für die Implementierung der Friedensabkommen ermöglicht, einen bedeutenden Rückschlag erlitten, der nicht nur der widerstandsfähigen Opposition der Uribe Partei (Centro Democrático) und dem Zusammenbruch von Cambio Radical mit der Regierungskoalition (Unidad Nacional) zugeschrieben werden kann. Laut dem IV.-Bericht des Beobachtungszentrums für die Umsetzung des Friedensabkommens sind bis jetzt nur 18% der Richtlinien für die Umsetzung der Friedensverträge erzielt worden. Zwei entscheidende Punkte des Abkommens, die gerade in ländlichen Gebieten wirksam durchgearbeitet werden sollen, wo der bewaffnete Konflikt sich ausdauernd und intensiv gezeigt hat, weisen wenige Fortschritte auf: Zu nennen sind insbesondere Punkt 1 des Abkommens über Maßnahmen einer integralen landwirtschaftlichen Entwicklung und Punkt 2 zur Lösung des illegalen Drogenkonflikts. Zwei wesentliche Punkte, die den Kernteil der organisierten Gewalt in vielen Regionen ausmachen, in denen es schwierig bleibt, über eine „Post-Konflikt-Situation“ zu reden (wie es gewöhnlich die Regierung bezeichnet). Deswegen bevorzugen viele lokale Akteure den Begriff Post-acuerdo (Post-Abkommen) zu verwenden, um auf den anhaltenden Konflikt zu verweisen und darauf, dass bei diesem Konflikt die ländlichen Gemeinden vom Friedensprozess nicht profitieren.
Darüber hinaus kann zwischen den zwei folgenden Situationen unterschieden werden: 1) In einigen Regionen, in denen die FARC über eine unbestreitbare Kontrolle verfügten, hat sich ein auffälliger Rückgang der Gewaltlage nach der Entwaffnung der Guerilla gezeigt. Dies ist beispielsweise in einigen Gebieten von Arauca und Meta auffällig; 2) Regionen, in denen die FARC um die territoriale Kontrolle mit anderen, illegalen bewaffneten Akteuren (wie die ELN, Drogenkartellen, Paramilitärs usw.) konkurrierten, erfahren einen andauernden Kampf um die militärische Kontrolle in diesen Zonen (Splittergruppen/Dissidenten der FARC Guerilla sollen hierbei ebenfalls berücksichtig werden). Dies ist der Fall in mehreren Gebieten von Chocó, Nariño (Sogar in der Nähe von Demobilisierungszonen, wie Policarpa und Tumaco) und Caquetá. Dies lässt sich erklären durch die Tatsache, dass der kolumbianische bewaffnete Konflikt durch einen sehr partikulären und differenzierten Einfluss in Bezug auf Intensität und räumliche Betroffenheit gekennzeichnet ist (Salas Salazar 2015) und weil der bewaffnete Konflikt besonders in den peripheren Gebieten, anhaltend und gewalttätig zu erleben war. Infolgedessen wird der Konflikt als unscheinbar wahrgenommen und ist weniger bedeutsam für die politischen Eliten in Bogotá. Die Ursachen und Dynamiken des bewaffneten Konflikts haben sowohl nationale Muster (wie die extreme Konzentration des ländlichen Raums oder die politische Unterdrückung von Bürgerbewegungen und Minderheiten) als auch internationale Muster verfolgt (wie etwa der Kalte Krieg, die endlose Drogenbekämpfung oder der transnationale Extraktivismus). Doch zum großen Teil spiegeln diese Muster sich heterogen wieder, je nach derer prägenden lokalen Geschichte und den jeweiligen Umständen. Beispiele hierfür sind die Zyklen von Landenteignung, interner Vertreibung, der Einfluss von Drogenkartellen sowie die Auswirkungen von Anti-Drogen-Strategien und die Kriminalisierung von Kokabauern, der Kampf um natürliche Ressourcen, die unterschiedlichen Erscheinungsformen der verschiedenen bewaffneten Akteure, oder spezifische Formen von Exklusion von ethnischen Minderheiten und die Verfolgung von sozialen Aktivisten. Laut Daly (2012) sind Regionen, die unter ständigem Einfluss von organisierter Gewalt stehen, sechsmal anfälliger, neue Gewaltzyklen zu entwickeln als diejenigen, wo organisierte Gewalt als solche nicht konsolidiert wird. Aus diesem Grund erfordert die Umsetzung des Abkommens, je nach Region, differenzierte Strategien.
Die Situation im Departamento Nariño
Nariño gehört zum kolumbianischen Pazifikraum und grenzt an Ecuador. Diese geographische Lage macht Nariño zu einem strategischen Raum für den Waffen- und Drogenschmuggel (Einfuhr von Material und Ausfuhr von Kokain aus Caquetá und Putumayo durch Nutzung von unzähligen Flüssen als Transportkorridore, die in den Pazifischen Ozean münden; 80% des hergestellten Kokas im Land wird aus Tumaco exportiert), genauso wie für den Koka-Anbau. Zurzeit leben etwa 40 000 Familien ausschließlich von der Kokaproduktion ab, und im Jahr 2015 verfügte Nariño über die höchste Konzentration im Koka-Anbau, welche etwa 31% der Produktion des gesamten Landes entspricht. Allein in Tumaco rechnet man mit etwa 17 000 Hektar für den Koka-Anbau, demzufolge gilt heute Tumaco als die Koka-Hauptstadt in Kolumbien.
Die FARC-Guerilla begann ihre Präsenz in den 70er Jahren, während die südwestliche Front der ELN erst in den 80er Jahren sichtbar wurde. In den 90er Jahren verringerte sich die Bedeutung der Karibik-Route des Medellin-Kartells für den Drogenschmuggel zur Ost-Küste der Vereinigten Staaten und bestärkte somit die Pazifik-Route des Cali- und der Norte-del-Valle-Kartelle zur Westküste der Vereinigten Staaten. Folglich wandelte sich Nariño zu einem Interessensgebiet für Drogenhändler, nicht nur für den Koka- und Mohnanbau, sondern auch für den Drogenexport derjenigen Drogen, die in den internen Laboren im Land hergestellt werden. Zur Ankunft von Drogenhändlern, kam ebenfalls die Präsenz von paramilitärischen Streitkräften (seit 1999) hinzu, was zu einer deutlichen Eskalation der Gewalt führte, wobei sich die Nariño-Region zu einem der stärksten vom bewaffneten Konflikt betroffenen Gebiete bis hin zur Demobilisierung der Paramilitärs im Jahr 2005 in Taminango wandelte. Die Demobilisierung war jedoch nicht vollständig und es griffen sogar viele paramilitärische Gruppen wieder zu den Waffen, aber unter anderen Namen wie z.B. Autodefensas Campesinas de Nariño. Dazu wurden sie auch noch von anderen bewaffneten Gruppen rekrutiert, wie z.B. die Águilas Negras und die Rastrojos (eine Gruppe, die ursprünglich von dem Norte-del-Valle-Kartell stammte und die sich bis 2012 bemühten, den strategischen Hafen von Tumaco zu erobern, was jedoch wegen der Vormacht der FARC-Milizen in dieser Region scheiterte).
Im Zuge der Friedensverhandlungen mit der FARC seit 2012 haben sich mehrere Dissidentengruppen der Guerilla gebildet, u.a. zu nennen sind: 1) „La Gente del Orden“, eine Gruppe von etwa 100 Dissidentensoldaten der FARC unter dem Kommando von „Don Y“ (ein ehemaliges Mitglied der Rastrojos, verantwortlich seit Mitte 2016 für zahlreiche Morde in Tumaco und der anscheinend nach der Ausgangskontrolle von Drogen bei Gebieten in der Nähe des Hafens aufrechtzuerhalten strebte, bis er im November 2016 bei einer Konfrontation mit Mitgliedern der FARC-Guerilla starb); 2) „Las Nuevas Guerillas Unidas del Pacífico“ (gegründet nach dem Tod von „Don Y“ von einigen Mitglieder von „Gente del Orden“, die in Tumaco und an der Grenze zu Ecuador unter dem Kommando von Aliasnamen „David“ operieren, offenbar in Zusammenarbeit mit dem Sinaloa-Kartell); und 3) in Policarpa und der Bajo Patía sind kleine Gruppen wie „la banda de Vaca“ entstanden, angeführt von einem Milizsoldat, der den Decknamen „Vaca“ trägt (und offenbar im Juli 2017 von Mitgliedern seiner eigenen Gruppe getötet wurde) und der Zugang zu den FARC-Waffenbuchten hatte, bevor die UNO sie zerstören konnte. Neben dem Auftreten solcher neuen bewaffneten Akteure, die sich vornehmlich aus FARC-Dissidenten rekrutieren, bleibt noch die Kontinuität der Präsenz der ELN-Guerilla, die Ankunft des Clan del Golfo und die Operation von Drogenbanden wie „Los Cucarachos“ zu erwähnen. Alle diese Gruppen streiten sich um die Kontrolle der größten Ausdehnung von Koka-Anbau im Land.
Dies führt zu dem zweiten Faktor, der die gegenwärtige Krise des Friedensprozesses in der Region bestimmt: die fehlende staatliche Umsetzung für die vereinbarten Richtlinien mit der FARC für die Substitution der illegalen Anbaukulturen. Die angewandten Strategien zur Beseitigung oder Reduzierung von illegalen Anbaukulturen in Kolumbien haben sich bisher wesentlich voneinander unterschieden: 1) Nationaler Rehabilitationsplan (1986-1990); 2) Plan Nacional de Desarrollo Alternativo, PLANTE (1994-2002), der sich auf die Generierung von legitimen, produktiven und profitablen Möglichkeiten für Bauern und für die indigene Bevölkerung fokussierte, der jedoch aufgrund der territorialen Kontrolle der illegalen bewaffneten Gruppen in dem Anbaubereich und durch Mangel an einer mittel- und langfristigen Finanzierung des Programms scheiterte (vgl. Giraldo/Lozada 2008); und 3) Plan Colombia (2000-2006). Der Plan konzentrierte sich auf die Beseitigung des Koka-Anbaus durch die Verwendung von Glyphosat und zusammen mit der Ausrüstung von Drogenbekämpfungsbataillonen durch Finanzierung der Vereinigten Staaten. Obwohl es eine deutliche Zerstörung des illegalen Drogenanbaus gab, scheiterte der Plan aufgrund des balloon Effect (Die konstanten Angriffe auf einem Gebiet forderten die Kokabauern heraus, sich in eine andere Region zu begeben, wie in der vorliegenden Fallanalyse die Kokaplantagen von der Putumayo- in die Nariño- Region, wodurch noch zusätzlich die sozioökonomischen Auswirkungen des Drogenhandels verbreitet wurden). Dies alles, ohne die negativen Auswirkungen auf die Gesundheit und Umwelt zu berücksichtigen. In Havanna einigten sich die Regierung und die FARC vorrangig auf eine Zusammenarbeit mit den Koka-Kleinbauern und die Verhandlung von entsprechenden freiwilligen Ersetzungsplänen zu setzen, um das Problem der illegalen Drogenkonflikte langfristig zu lösen. Dies soll durch technische Hilfe, Investitionen in die Infrastruktur zur Verbesserung der Produktion von Ersatzprodukten und monatliche Finanzhilfen für den Übergang zu anderen Kulturen erleichtert und unterstützt werden.
Darüberhinaus ist seit Mai 2017 das „Programa Integral de Sustitución de Cultivos“ (PNIS) implementiert worden. Nach mehreren Treffen mit den lokalen Gemeinden wurden 23 kollektive Vereinbarungen unterzeichnet, um die Substitution umzusetzen, doch die Auszahlungen seitens der Regierung haben nicht stattgefunden. Gleichzeitig auferlegte die Regierung das Ziel, 50 000 Hektar Kokafeldern zu ersetzen und weitere 50 000 Hektar durch Zwangsvernichtung in diesem Jahr zu beseitigen (von insgesamt 180 000 Hektar nach Schätzungen der US-Regierung oder 146 000 Hektar nach kolumbianischen Berechnungen). Unter großem Druck von Trumps Regierung, um einer Androhung einer potenziellen Dezertifizierung im Jahr 2018 zuvor zu kommen, setzte sich eine Reduzierung der illegalen Kulturen fort. Infolgedessen schickte die Regierung etwa 800 Soldaten nach Tumaco, die nach der Vizepräsidentschaft, bis zu 8000 Hektar illegale Kulturen im August 2017 zerstört haben. Als Antwort haben viele Streiks, Blockaden und Proteste seitens der Kokabauern (zum Teil unter Drohungen von Drogenhändlern) gegen die Beseitigung stattgefunden. Am vergangenen 5. Oktober sind bei einem Protest von Kokabauern neun Bauern im ländlichen Gebiet von Tumaco ermordet worden, anscheinend von der Anti-Drogen-Polizei. Die gleichzeitige Anwendung von zwei völlig entgegengesetzten Strategien in der Region wirkt kontraproduktiv: Es zerstört das Vertrauen in die Regierung (die für die Aushandlung einer freiwilligen Ersetzung wesentlich ist) und gibt den illegalen bewaffneten Gruppen Argumente an die Hand, sich als Verteidiger gegen die staatliche Repression, für die lokale Bevölkerung einzusetzen. Die Regierung hat die sozialen Aktivisten, die für eine freiwillige Substitution sind, im Stich gelassen. Sie unterliegen der Bedrohungsgefahr seitens verschiedener Drogenhändler und FARC-Dissidentengruppen, die aus offensichtlichen Gründen nicht den Anbauersatz fördern wollen. Aus diesem Grund zeigt der letzte Bericht von INDEPAZ eine logische Schlussfolgerung, wobei eine signifikante Korrelation zwischen den Morden an den sozialen Aktivisten und den Veränderungen in den Anbaugebieten zu erkennen ist.
Bei der Anwendung einer Substitutionsstrategie setzt die Regierung eine wesentliche Veränderung in der Ausrichtung in Bezug auf die Drogenproblematik voraus. Wenn es einen ehrlichen Zweck für die Umsetzung und Verwirklichung eines Friedensabkommens gibt, muss es ernsthafte Alternativen und Unterstützung für Tausende von Bauern, die von dem Koka-Anbau abhängen, durch eine starke, nachhaltige und langfristige Finanzierung geben. Das aktuelle Programm für Nariño besteht aus 300 Milliarden Pesos (85 Millionen Euro), benötigt aber mindestens eine Billion Pesos (280 Millionen Euro). Die Koka ist eine Pflanze, deren Blätter sich in einem viel kürzeren Zeitraum anbauen lassen (zwischen zwei und sechs Monaten, je nach Wetterlage), im Gegensatz zu meisten alternativen Kulturen (vgl. die erste Kakaoernte dauert ca. drei Jahre). Zur Errichtung einer notwendigen Infrastruktur, die den Aufbau und die Organisierung der legalen Kulturen und Vermarktungsketten sicherstellt, werden sicherlich mehr als drei Jahre benötigt. Währenddessen ist es erforderlich, dass der Staat temporäre und konsequente Mittel gegen solche Einschränkungen bereit stellt sowie die Intensität der Anti-Drogen-Operationen für die Zwangsbeseitigung gegen Kokabauern aussetzt oder einschränkt. Im Gegensatz soll der Einsatz öffentlicher Kräfte zur Bekämpfung der Drogenbanden, zum Schutz der Zivilbevölkerung und zur Verstärkung der Kontrollen in Grenzgebieten, um den Zutritt von Waffen und Material zur Herstellung von Kokain zu verhindern, erhöht werden. Andererseits besteht die Gefahr, dass die Regierung des „post-Konflikts“ die Bühne für den nächsten Gewaltzyklus in Nariño (mit alten Konflikten aber mit neuen Akteuren) bereitet.