Die Vergangenheit wird die Zukunft bestimmen. Zur Bedeutung von geschichtlichem Lernen für den Übergang zum Frieden in Kolumbien

Quelle: Luis Enrique Sierra R.

Interview mit Dr. Mónika Contreras Saiz, Lateinamerika Institut, FU Berlin Interviewer_innen: Hannah Fürstenwerth und Timm Frumert

„Die Vergangenheit bestimmt die öffentliche Politik und viele Gesellschaftsbereiche. Sie bestimmt, wie diese Bereiche in der Zukunft funktionieren werden. Die Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft ist daher extrem wichtig für den kolumbianischen Friedensprozess.“

(Dr. Mónika Contreraz Saiz)

Das übergeordnete Ziel von Transitional Justice (TJ) besteht in der Aufarbeitung eines gewaltsamen Konflikts oder Regimes, um darauf aufbauend einen Übergang zu einer nachhaltigen friedlichen und demokratischen Gesellschaftsordnung zu ermöglichen. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden im Seminar “Transitional Justice im internationale Vergleich: Mechanismen, Kritik und aktuelle Herausforderungen am Bsp. Kolumbiens” am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin verschiedene Instrumente von TJ thematisiert. Unter anderem wurden die Aufarbeitung der Vergangenheit, die Art und Weise des Erinnerns von Taten und des Gedenkens der Opfer von Verbrechen diskutiert. Erinnerungspolitik soll zum Gelingen des Übergangs zu einer friedlichen Gesellschaftsordnung  beitragen. Von dem Passierten soll gelernt und ein Bewusstsein für das Vergangene geschaffen werden.

Im Interview mit Dr. Mónika Contreras Saiz (LAI, FU Berlin) diskutieren wir die Bedeutung von geschichtlichem Lernen in Transitional Justice Prozessen. Im Mittelpunkt steht die Frage nach dem Beitrag von Schulen für geschichtliches Lernen, als zentrale Bildungseinrichtungen einer Gesellschaft.

Mónika Contreras Saiz ist promovierte Historikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lateinamerika-Institut der FU Berlin. Im Rahmen des deutsch-kolumbianischen Friedensinstituts (Instituto CAPAZ) forscht sie zu Erinnerung und Geschichtsbewusstsein in Schule und Fernsehen in Kolumbien. Innerhalb dieses Projektes untersucht sie in Kooperation mit Prof. Dr. Tatjana Louis (Universidad de los Andes, Bogotá) geschichtliches Lernen und den Wandel des Geschichtsbewusstseins in Kolumbien.

Frage: Was ist geschichtliches Lernen?

„Geschichte wird an verschiedenen Orten und in verschiedenen gesellschaftlichen Bereich gelernt. Schule ist nur ein Ort von vielen. Wenn wir geschichtliches Lernen untersuchen, wollen wir wissen, inwiefern Menschen ein historisches Denken entwickeln können. Wenn wir in die Schule gehen und Daten erheben, schauen wir uns verschiedene Aspekte an, anhand derer wir geschichtliches Lernen erfassen und untersuchen wollen. Wir haben jetzt einen neuen Titel unseres Forschungsprojektes. Eine Übersetzung ins Deutsche wäre: Der Einfluss von Erinnerungsarbeit in der kolumbianischen Bildungsgemeinschaft: Zur Erforschung von Geschichtsbewusstsein. Dieses Projekt hat einen konkreten Ausgangspunkt. Das Centro Nacional de Memoria Histórica [1] hat 2012 eine Befragung gemacht zur Evaluation der eigenen Arbeit. Nur fünf Prozent der Menschen, die nicht direkt vom Konflikt betroffen sind, kennen die Arbeit des Centros. Das ist extrem niedrig. Unsere Forschung setzt hier an und möchte dazu beitragen herauszufinden, was die Ursachen für diesen Umstand sind. Wir möchten wissen, warum die Arbeit des ‚Centro Nacional de Memoria Histórica‘ nicht breit in der Gesellschaft verankert ist und konzentrieren uns dabei auf das Beispiel der öffentlichen und privaten Schulen. Zentral in unserer Forschung ist der Begriff des Geschichtsbewusstseins. Unter diesem Begriff verstehen wir allgemein die Einstellungen der Individuen zu ihrer Vergangenheit, was von dieser Vergangenheit signifikant für ihr aktuelles Leben ist und welche Auswirkungen diese Einstellungen auf ihre Interpretationen der Gegenwart haben und wie sich die Individuen dadurch in der Zukunft sehen.“

Frage: Welche unterschiedlichen Aspekte werden hinsichtlich des historischen Denkens an kolumbianischen Schulen innerhalb des Forschungsprojekts untersucht?

„Zunächst geht es darum, welche Ereignisse aus der Vergangenheit für Menschen wichtig sind, also was die historische Bedeutung ist. Es geht uns dabei darum, inwiefern die Wichtigkeit, die bestimmten geschichtlichen Ereignissen zugeschrieben wird, durch mich selbst oder durch Außen festgelegt wird und warum Menschen dies als wichtig ansehen. Darüber hinaus wollen wir wissen, ob sie Beweise dafür kennen. Drittens schauen wir uns an, wo und inwiefern es Veränderungen in der Vergangenheit gibt. Wo sprechen wir von Kontinuität und wo sehen wir Veränderungen? Es geht uns bei diesem Punkt folglich darum, wie Menschen die Geschichte periodisieren. Wo setzen sie Grenzen, an denen ein Abschnitt aufhört und ein anderer anfängt und warum? Das ‚Centro Nacional de Memoria Histórica‘ setzt gewisse Periodisierungen, die Bevölkerung setzt teilweise ganz andere. Zum Beispiel sind wir bereits zu ein paar Schulen gegangen und haben gefragt, ob die Schüler_innen eine Zeichnung von ihrer Vergangenheit machen können und durch den Friedensvertrag haben alle schon angefangen Periodisierungen anhand des Friedensvertrages zu machen. Nämlich vor und nach dem Friedensvertrag. Das finden wir spannend, wie diese Einteilung vollzogen wird und wie die Leute das nennen. Viertens schauen wir uns historische Perspektiven an: wie können Menschen die Vergangenheit durch den Blickwinkel von Menschen aus der Vergangenheit anschauen? Denn Geschichte ist immer in der Gegenwart produziert. Beim geschichtlichem Lernen bzw. historischen Denken geht es aber vor allem darum, zu verstehen, wie die Menschen damals zu der Zeit gedacht haben. Es geht um die Fähigkeit, dass ich unterscheiden kann, dass ich die Vergangenheit heute, mit meiner Perspektive der Gegenwart, anders sehe als die Menschen, die damals gelebt haben. Das ist eine der großen Herausforderungen, wenn Geschichte unterrichtet wird: Verstehe die Leute von damals und wie sie zu der Zeit gedacht haben und an Dinge herangetreten sind in ihrem damaligen Kontext. Hier wird die Interaktion zwischen Geschichte und Erinnerungen deutlich. Die Erinnerungen kritisieren die Geschichte und die Geschichte kritisiert die Erinnerungen. Der letzte Punkt ist die ethische Dimension. Wenn du geschichtlich lernst, dann hast du das Bewusstsein, dass du Teil von dieser Geschichte bist. Es liegt in deinen Händen, bestimmte Möglichkeiten wahrzunehmen und die Geschichte bzw. bestimmte Momente zu verändern. Jeder Mensch, der das macht, hat auch eine Verantwortung für das, was passiert. Von diesen Aspekten sind der Aspekt der ethischen Dimension und der des Beweises am schwierigsten. Denn natürlich kann ich sagen, du weist viel über Geschichte, aber das bedeutet noch lange nicht, dass du hier und jetzt auch Geschichte verändern kannst. Das passiert nicht sofort und ist super kompliziert.“

Frage: Was sind aktuell die zentralen Herausforderungen für eine progressive Geschichts- und Erinnerungsarbeit im kolumbianischen Bildungssektor?

„Es gibt eine Vielzahl von Institutionen, sowohl internationaler, nationaler, regionaler als auch lokaler Art, die sich mit der Geschichts- und Erinnerungsarbeit in Kolumbien beschäftigen. Es besteht jedoch wenig Kommunikation zwischen diesen Institutionen. Von daher ist es eine große Herausforderung für den Bildungssektor eine gelingende Koordination zwischen den verschiedenen Institutionen zu erreichen und den Austausch zwischen ihnen zu fördern und Räume zu schaffen für ‚Unwahrscheinliche Begegnungen‘ (Ariel Sánchez Meertens)[2], zum Beispiel zwischen Akteur_innen des kolumbianischen Militärs und des ‚Centro Nacional de Memoria y Histórica‘. Und somit die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteuren zu stärken und das Gemeinsame in den Fokus zu rücken.

Eine weitere Herausforderung ist das schwierige Zusammenleben zwischen den Menschen der kolumbianischen Gesellschaft, das oftmals beispielsweise von Gewaltbereitschaft geprägt ist. Die Schulen Kolumbiens spiegeln diesbezüglich die Realität des Landes wider. Diese großen Probleme des Zusammenlebens erschweren das Schaffen einer gemeinsamen Erinnerungskultur. Daher ist es momentan sehr wichtig an den Schulen Kompetenzen für ein Zusammenleben zu vermitteln und zu fördern, um dadurch eine empathische, verständnisvolle Erinnerungsarbeit an den Schulen zu ermöglichen.“

Das Interview entstand im Rahmen des Kurses “Transitional Justice im internationale Vergleich: Mechanismen, Kritik und aktuelle Herausforderungen am Bsp. Kolumbiens” unter der Leitung von Dr. Kristina Dietz am Lateinamerika Institut der FU Berlin. Wir haben es am 01.02.2018 in Berlin geführt. Die hier veröffentlichte Version ist ein Ausschnitt des gesamten Interviews.

[1]Das Centro Nacional de Memoria Histórica wurde durch das Gesetz ‚Ley de Víctimas‘ (Ley 1448 de 2011) ins Leben gerufen.. Es koordiniert verschiedene Forschungsprojekte, die den bewaffneten Konflikt in Kolumbien rekonstruieren sollen und dabei die Erfahrung der Opfer hervorheben (vgl.: Centro Nacional de Memoria Histórica 2018).

[2] Diese Formulierung von Herrn Sánchez Meertens entstammt einer Konferenz. Mehr Informationen über diese Konferenz unter: https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7528?language=de