Von: Melissa Alejandra Rincón Granados (M.A. Interdisziplinäre Lateinamerikastudien, FU Berlin)
Am 24. August 2016 hat die kolumbianische Regierung zusammen mit der größten Guerilla Gruppe Kolumbiens FARC („Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens“) einen 297 Seiten umfassenden endgültigen Friedensvertrages geschlossen. Trotz der neuerlichen Gelegenheit für eine Gestaltung von Wiedergutmachung und Versöhnung am Horizont, hat der Friedensabschluss die bestehende Realität struktureller Gewalt und großen Widerstand für einen Friedensaufbau in die Öffentlichkeit gezerrt. Der Waffenstillstand zwischen der linken Guerillabewegung und der kolumbianischen Regierung kann nach knapp 50 Jahren Bürgerkrieg sicherlich als ein historischer Schritt angesehen werden. Aber letzten Geschehnisse wie die Ablehnung des Plebiszits, die Ermordungen von soziale Aktivist*innen, die schwierige humanitäre Lage in den Übergangslagern für die Ex-Kombattant*innen, die großen Sicherheitslücken, sowie die aktuelle, starke Opposition gegenüber dem Friedensprozess, führen zu konstanten Herausforderungen, die den stabilen Frieden in Kolumbien in Frage stellen.
Zurzeit, d.h. 6 Monate nach dem Friedensabschluss, sind eine der größten Sorgen die Attentate, Drohungen und Ermordungen gegen verschiedenen Landrechts-, Friedens-, Umwelt- und LGTBI-Aktivist*innen, gleichermaßen gegen Gewerkschafter*innen, Journalist*innen und Sprecher*innen indigener, afrokolumbianischer und kleinbäuerlichen Gemeinden. Nach dem Centro Nacional de Memoria Histórica gab im Jahr 2016 389 Angriffe gegen Menschenrechtsverteidiger*innen. Bis jetzt sind es 120 Aktivist*innen, die seit 2016 ermordet wurden und die Zahl von weiteren Todesdrohungen seitens der illegal bewaffneten Akteure steigt weiter an. Der politische Genozid gegen die Unión Patriótica in den 80er Jahren spiegelt die aktuelle gewalttätige Systematik wider, die gerade gegen die sozialen Aktivist*innen in Kolumbien betrieben wird. Das Gefühl von Gesetzlosigkeit und brutale Einschüchterungsmethoden seitens der noch existierenden illegalen bewaffneten Akteure, die die kolumbianische Regierung nicht anerkennen möchte, führt zu einer Unsicherheitslage, bei der Frieden nicht mal fühlbar werden kann. Das verwunderliche daran liegt in der Antwort der kolumbianischen Regierung, die das Problem mit dem weiterhin bestehenden Paramilitarismus leugnet. Darüber hinaus betonte der Verteidigungsminister, Luis Carlos Villegas, dass die Ermordungen gegen Menschenrechtsverteidiger*innen nicht systematisch sind und es sich um Einzelfälle handelt. Warum reagiert die kolumbianische Regierung nicht gemäß an der Situation und wo bleiben die Sicherheitsgarantien, die in dem Friedensvertrag versprochen wurden?
Analyse
Die lange kolumbianische Tradition im Umgang mit sozialer und politischer Gewalt, sowie die ungerechte Verteilung des landwirtschaftlichen Territoriums und die Art der Landnutzung gehören zu den Hauptkonfliktursachen für die Entstehung der Guerilla-Gruppen in Kolumbien. Die Divergenz der politischen Ideale in Kolumbien reicht bis in das 19. Jahrhundert zurück. Die zwei stark dominierenden Parteiblöcke, die Liberalen und die Konservativen, haben besonders ab den 40er Jahren zu einer Zuspitzung der Gewalt beigetragen, die sich letzten Endes in einer Phase der so genannten „Violencia“ (ca. von 1946-1957) entlud (Oquist 1980). Seit der Phase der „Violencia“ Attentate gegen Präsidentschaftskandidaten wie am 9. April 1948 gegen Jorge Eliécer Gaitán, 1987 gegen Jaime Pardo Leal, 1989 gegen Luis Carlos Galán, 1990 gegen Carlos Pizarro Leongómez und in dem selben Jahr gegen Bernardo Jaramillo Ossa sind einige Spuren, die die politische Gewalt in Kolumbien hinterlassen hat. Man sollte auch nicht die Erpressung und Einschüchterungsversuche seitens der paramilitärischen Gruppen vergessen, die dazu beigetragen haben, eine Unterstützung für die politischen Kandidaten, besonders rechtsgerichtete Politiker, in den Wahlen zukommen zu lassen. Weiterhin verstärkte der existente Drogenkonflikt, vor allem in den 80er und 90er Jahren, die Gewaltpraktiken im Land noch weiter. Dies führte zu politischen Genoziden, wie im Fall der UP (Unión Patriotica), wo zwei Präsidentschaftskandidaten, 8 Kongressmitglieder, 13 Abgeordnete, 70 Stadträte, 11 Bürgermeister und rund 4000 seiner Aktivisten in den 80er und 90er Jahren durch paramilitärische Gruppen und Drogenkartelle ermordet wurden. Dies konstatiert eine „geübte“ kulturelle Handlung der politischen Gewalt, die leider noch unter den jüngsten Ermordungen von Menschenrechtsaktivist*innen immer wieder zu Tage tritt.
Es wird daran deutlich gemacht, dass Unterdrückungen und Erpressungen immer noch für die Entwicklung gesellschaftlicher Konflikte in Kolumbien verantwortlich sind, die gleichzeitig nicht die Möglichkeit für eine gerechte und pluralistische politische Teilhabe in Kolumbien zulassen. Infolgedessen war es notwendig, eine Einigung der politischen Teilhabe in dem Friedensvertrag mit der FARC-Guerilla zu ermöglichen. Die Relation zwischen Politik und Waffengewalt muss zweifellos bekämpft werden, wobei die kolumbianische Regierung Garantien für die Betätigung von politischen Oppositionen, mit Sicherheitsgarantien und durch die Implementierung von einem „integrierten Sicherheitssystem“, in den Friedensgesprächen zugesichert haben. Weiterhin soll ein Anreiz für eine verstärkte Bürger*innen Beteiligung geschaffen werden und die Bereitstellung von Strukturen für die Bildung neuer politischer Parteien erfolgen. Warum gehen trotz der Friedensvereinbarungen die Morde jedoch weiter?
Die Besonderheit in Kolumbien liegt darin, dass immer noch illegal bewaffnete Akteure existieren. In vielen Regionen des Landes wurde ein Machtvakuum von der FARC-Guerilla hinterlassen. Dies führt dazu, dass andere bewaffneten Akteuren, wie die paramilitärischen Gruppen oder ELN-Guerilla, gewaltsam diese Lücken nach ihren persönlichen Interessen füllen. Die neue Kontrolle über rohstoffreiches und fruchtbares Land sorgt für erweitere territoriale und ökonomische Macht, die sie damit erzielen. Weiterhin stecken dahinter auch die Interessen der kolumbianischen Elite. Die Möglichkeit, neue Landesreformen in Kolumbien durchzuführen, Opferschutz zu garantieren und Rechenschaftslegung auf nationaler und internationaler Ebene im Sinne von Strafverfolgung durchzusetzen, würde nicht nur verschiedenen Machtallianzen zwischen illegalen bewaffnete Akteur*innen, Politiker*innen und private Unternehmen verraten. Dies entspricht auch den unzähligen ökonomischen Verlusten und Strafverfolgungen für die verschiedenen beteiligten Akteur*innen. Nachfolgend steht die Korruption in Kolumbien als eine der Hauptprobleme in diesem Paradox. Paramilitärische Gruppen könnten nicht funktionieren, wenn die Beamt*innen in der Justiz, den Sicherheitskräften und die Politiker*innen durch Korruption zur Verfügung stehen würden. Der Zugang zu Operationen und ihre durchgeführten illegalen Tätigkeiten finden durch Korruption und die gemeinsame Allianz von Machtakteuren in Kolumbien statt. Weiterhin ermuntern die Straflosigkeitsquoten, die über 95 Prozent bei fast allen schweren Gewaltverbrechen in Kolumbien liegen, die Gestaltung solcher Angriffe. Die heutigen Angriffe gegen Menschenrechtsverteidiger*innen können nicht deshalb als Einzelfälle gekennzeichnet werden. Bewusste Versuche bestimmte soziale Aktivist*innen gezielt zum Schweigen zu bringen, weil sie Ansprüche auf ländliche Gebiete haben oder, weil sie ihr Gemeinland vor Ausbeutung verteidigen wollen, können nicht als Zufälle eingeordnet werden.
Schlussfolgerung
Die laufenden Übergriffe auf die Zivilbevölkerung können einem Bruch des Friedens in Kolumbien entsprechen. Die bestehenden Schutzprogramme der kolumbianischen Regierung bleiben in vielen Fällen offensichtlich wirkungslos. Die Regierung soll deshalb Maßnahmen gegen die Übergriffe so unmittelbar wie möglich ergreifen. Die Anerkennung von organisierten illegal bewaffneten Gruppen und organisierter Kriminalität im Post-Konflikt ist dafür notwendig. Darüber hinaus soll der Korruption und Straflosigkeit in den nächsten Jahren kräftig entgegengewirkt werden.
Zu guter Letzt sollte man auch einen Blick auf die kommenden Präsidentschaftswahlen werfen. Im August 2018 wird sich ein/e neue/r Präsident*in in Kolumbien positionieren. Große Meinungsverschiedenheiten gegenüber dem Friedensprozess mit der FARC-Guerilla machen diese Wahlen besonders. Die Implementierung der Übergangsjustiz bringt die Gefahr vieler Machtinteressen in Kolumbien. Eine erfolgreiche Durchsetzung der Friedensverträge würde eine Menge von Kausalketten an Korruption und organisierte Kriminalität offenbaren, die die Opposition auf alle Fälle verhindern möchte. Darüber hinaus wird sich eine sehr starke Opposition in den kommenden Wahlen erheben, die große Chancen hat, zu gewinnen.
Jetzt liegt die größte Verantwortlichkeit der Regierung darin, eine Grundbasis des Friedensvertrags soweit wie möglich zu etablieren. Egal ob es sich um die Landreform, die politische Teilhabe oder die Einsetzung der Übergangsjustiz handelt. Die kolumbianische Regierung muss Gesetze auf den Weg bringen, um den Ex-Kombattant*innen und den bedürftigsten Opfern des Krieges, wie die internen Vertriebenen, verschiedene Instrumente zur Verfügung stellen können, um ihnen einen geschützten Ort in der Gesellschaft zu ermöglichen. Die Tatsache, dass eine Person für die Rechte anderer kämpft und in Gefahr gerät, kann nicht mehr zugelassen werden. Eine friedliche Demokratie muss in Kolumbien etabliert werden, damit ein langfristiger Frieden realisiert werden kann. Dringende Sicherheitsgarantien und Schutzmaßnahmen sollten von dem kolumbianischen Staat ernst genommen werden, da andernfalls, wenn weitere Attentate stattfinden, der sogenannte „friedliche Übergangsprozess“ als ein weiterer Fehlversuch in die kolumbianische Geschichte eingehen wird.
Literaturverzeichnis
Bushnell, David (1994): Colombia una nación a pesar de sí misma. De los tiempos precolombinos a nuestros días, Bogotá D.C.: Editorial Planeta Colombia S.A.
Oquist, Paul (1980): Violence, Conflict, and Politics in Colombia, New York: Academic Press, Inc.