Kommentar von Charlotte Weber-Spanknebel (SoSe 2021)
Das Gedicht II (Dal deserto Rosso) führt gleich im ersten Vers scheinbar Unvereinbares zusammen: Es ist die Nähe, im „osservi“ (V. 1), und die Distanz, im „allontani“ (V. 2). Die zwei Verben stehen dicht beieinander, getrennt nur von „le persone“ (V. 2). Beide Verben tragen Doppelkonsonanten in sich, wirken dadurch erneut miteinander verbunden. Da ist ein lyrisches Du, das angesprochen wird, von einem lyrischen Ich, das zunächst nicht in Erscheinung tritt. In einem Asyndeton werden im Staccato drei Bilder visualisiert, einem Zoom gleich vom Großen ins Kleine: Da ist eine rote Wüste, eine Szene, ein Standbild (V. 2). Und gleichzeitig, mit jedem weiteren Schritt in das Gesamtbild, schiebt das lyrische Du ein Gefühl („allontani un sentimento“, V. 1) zur Seite. Weder „le persone“ noch „un sentimento“ scheinen greifbar. Die Diffusität wird mit einem einzigen Wort durchbrochen: „Oggi“ (V. 3). In formaler Korrespondenz mit dem ersten Wort „osservi“, eröffnet es ein neues Blickfeld, zunächst ein zeitliches, dann unter Hinzunahme des Himmels („il cielo“, V. 3) auch ein räumliches. Der Vergleich des Himmelblaus mit dem eines Freskos bringt das Suchen nach Worten, das hingegen dem Finden von Bildern weicht, zum Ausdruck. Gleichzeitig ist der Himmel für Borio einer, der verbindet: „Il cielo è la realtà delle connessioni, dei rapporti in cui milioni di persone si ritrovano ogni giorno, fisicamente o virtualmente“ (Comparini 2015). Erneut treffen Distanz und Nähe aufeinander: „La sintesi di Borio è una prospettiva che, come già intuito da Panofsky, mette tra l’uomo e le cose una distanza e al tempo stesso la abroga“ (Cittarelli 2021). Die vom lyrischen Ich beschriebene Entfremdung ruft ebenfalls Borios Konzept der Transparenz im Kontext des digitalen Zeitalters in Erinnerung: „Verificare la trasparenza come possibilità di custodire una reciprocità umana nello spazio liquido e informazionale del contemporaneo“ (Ebd.). Auch das lyrische Ich versucht auf transparente Art etwas noch Unbegreifliches aufzuzeigen, in Worte zu fassen. In der Luft vorm Supermarkt liegt ein Warten: kein kollektives, sondern eines „soli, in proporzioni, distanza e silenzio“ (V. 4), alles durchzogen von einem scharfen „z“.
Was ausnahmsweise greifbar scheint, ist die Stille: Kein Laut vermag in der Klimax des sechsten Vers das onomatopoetische „sgranare“, das Zermalmen eines Lapislazuli zu übertönen. Die Klimax selbst gipfelt, ausgehend von einem undefinierbarem Etwas, in einer Konkretisierung: einem kleinen blauen Stein, der fühlbar ist, in eine Hand passt. Das Pars pro Toto „le teste“ (V. 4) stellt bloß einen Ausschnitt des Gesamtbildes dar, erneut. Das lyrische Ich hat den Blick für das Ganze verloren.
Die zwei aufeinanderfolgenden rhetorischen Fragen bringen eine erste lebendige Regung in die zuvor beschriebe Situation des betäubten Wartens. Das lyrische Ich sieht sich weniger vor die Frage gestellt, ob sich etwas auflöst, sondern eher was sich auflöst. Mit der Frage „Ma il senso?“ (V. 7), die eher einem Ausruf gleicht, scheint alles zuvor beschriebene in den Raum und somit auch in Frage gestellt zu werden. Der Sinn ist nicht zu finden. Die Fragen werden nicht beantwortet. An dieser Stelle tritt die Zeit in den Vordergrund. Während das erste Wort „osservi“ noch im Präsens steht, reiht sich in Verbindung mit der temporalen Zeitbestimmung „oggi“ ein Imperfekt ein. Es tut sich eine Distanz auf, die den Eindruck vermittelt, das lyrische Ich habe das Gefühl für die Zeit verloren oder aber befindet sich paradoxerweise weit entfernt vom Jetzt und Heute. Es ist nicht nur ein Stillstehen der wartenden Köpfe, es ist ebenfalls ein Stillstand der Zeit, ein Freeze-Moment inmitten der Szene, die einzig einzubetten ist in eine rote weite Wüste, ein Stillleben, ohne jeglichen Fixpunkt. Die Anapher „così ha detto, così ho spinto“ (V. 8) zeugt von einem Parallelismus, der sich im jeweiligen Prädikat und Person unterscheidet. Die grammatischen Formen der ersten und dritten Person vom Verb avere (ha – ho) sind leicht zu verwechseln, ebenfalls scheinen „la polizia e tutti“ (V. 8) miteinander zu verschwimmen. So werden alle „persone“ ‚in einen Topf‘ geworfen, wer was wo ist, wer was sagt, wer was vor sich herschiebt, bleibt unklar. Vielleicht ist es ein Gefühl, das weggeschoben wird, vielleicht ein Einkaufswagen.
Erneut sind es bloß Körperteile in Form vom Pars pro Toto, die Erwähnung finden: „[M]ani nel lattice, bocca nel cotone“ (V. 9). Ebenfalls nur teilweise beleuchtet sind die Materialien selbst, „lattice“ und „cotone“, die dem Körper als Behälter dienen: Zwei natürliche, pflanzliche Stoffe, die sich neu verortet wiederfinden in einem bis dahin fremden Kontext. Der Supermarkt, so wundert sich auch das lyrische Ich, soll nun ein Ort sein, an dem Handschuhe und Mundmasken als vorbeugende Schutzmaßnahmen vor der Korrosion des Himmels dienen? – „Ma il senso?“ (V. 7). Dazu eine Uniform, die den Menschen erneut als Ganzen versteckt, verhüllt. Wo ist der Mensch? Das lyrische Ich erlebt Entfremdung auf allen Ebenen. Diese Entfremdung wiederum kollidiert mit der Suche nach dem Konkreten. Finger, die durch Latexhandschuhe nur noch die Hälfte dessen fühlen, was sie berühren. Münder, die durch Baumwollmasken nur noch die Hälfte dessen sagen können, eher pressen müssen, was sie bewegt. Die Distanz zwischen dem lyrischen Ich, der Welt und dem lyrischen Du ist groß und wird nicht kleiner. „Corrosione“ (V. 11), das kann die geologische Korrosion und gleichzeitig die chemische Verätzung sein. Während die Handschuhe für das eine sinnvoll sind, verlieren sie für das andere an Bedeutung. Selbst das Problem ist nicht konkret, zweideutig, ambivalent. Eines aber wird deutlich: Himmel und Erde scheinen brüchig, in Gefahr. Die „divisa da restauro“ (V. 10) verbildlicht die Herausforderung, vor der die Menschheit steht: Himmel und Erde sind renovierungsbedürftig. Während die Zeit still zu stehen scheint, und die Menschen sich in einem Zustand des stummen Wartens befinden, kommen Geräusche und Bewegung aus unerwarteten Reihen: Es sind Personifikationen, die das Essen im Einkaufswagen herumspringen (V. 12), die das Plastik in seinem Ächzen zu Wort kommen lassen (V. 12). Vielleicht sind die Produkte in den Regalen und im Einkaufswagen die einzigen Dinge, die das lyrischen Ich momentan als greifbar erfährt. Die Worte in Vers 13 bestechen mit einer wiederkehrenden Lauthäufung von „e – o – s“ und scheinen damit zugehörig zueinander; der Vers als solcher wird zu einer Einheit und steht somit im Kontrast zu den zuvor mehrmals präsenten Asyndeta.
Das lyrische Ich setzt die Vorratsprodukte des Supermarkts in unmittelbaren Zusammenhang mit den angepreisten und von Plosivlauten getragenen Werbeprodukten (V. 14). Es stellt erstaunt fest, dass auch hier die Grenzen verschwimmen zwischen neu und alt, sauber und verstaubt. Nichts mehr scheint mehr was es einmal war. Die letzte Frage wird gleichzeitig zum vagen Ausblick in die Zukunft. Die erwähnten vierzig Tage in der Wüste („quaranta giorni, nel deserto“, V. 15) lassen unmittelbar die biblische Geschichte von der Versuchung Jesu assoziieren. Dieser wird vom Teufel in drei Anläufen zur Versuchung herausgefordert, nachdem er zuvor noch 40 Tage in der Wüste gefastet hatte. Das lyrische Ich sieht sich in der Wüste neben Wasser immerhin mit Brot ausgestattet. Dennoch, auch hier steht eine große Herausforderung im Vordergrund. Die Wüste, als Natur verstanden, verbindet Borio mit dem Ziel, diese zu entdecken: „[N]on ha altri significati se non quello di essere scoperta come una esperienza al pari delle altre” (Antwort von Borio in Comparini 2015). Die Wüste erscheint hier als Raum des Unbekannten, den es zu erkunden gilt. Ebenfalls ruft sie „il deserto rosso“ aus dem dritten Vers in Erinnerung. An dieser Stelle ist ein Blick auf den gleichnamigen Film von Antonioni aufschlussreich: Die Protagonistin Giuliana irrt den ganzen Film hindurch als „un punto solo“ (Gedicht I in Dal deserto rosso, 2021: 7) in der großen industriellen, menschenleeren 25 Wüste des Emilia-Romagna in den 60er Jahren umher. Sie ist verstört und rastlos, bringt ihren inneren Seelenzustand mit folgenden Worten zum Ausdruck: „C’è qualcosa di terribile nella realtà, e io non so cos’è. Nessuno me lo dice.“ Der Satz kann genauso gut als Hilferuf verstanden werden – nur scheint die Antwort fern zu bleiben. Auch die im Gedicht wahrzunehmende Hilflosigkeit des lyrischen Ichs bezüglich der beklemmenden Realität kommt in den vielen Fragen und ausbleibenden Antworten, in der bedrückenden Stille, im Warten, im Nicht- oder Wenigerfühlen („allontani un sentimento“, V. 1) zum Ausdruck.
Der Einkaufswagen beinhaltet umherspringendes Essen und erinnert somit mehr an einen Käfig als an ein Transportmittel. Die Wüste, die Welt, ein Käfig? Borio könne sich „l’isolamento vero e proprio“ (Comparini 2015) als Möglichkeit im digitalen Zeitalter nicht vorstellen – zumindest war dies der Fall, bevor sich die gesamte Welt und Erdbevölkerung mit einem Virus namens Covid konfrontiert sah. Beim Lesen des Gedichtes drängen sich all die Erfahrungen aus den letzten anderthalb Jahren 2019-2921 auf, lassen sich nicht beiseite schieben, in ihrer Essenz, die nur so von Distanz, Entfremdung, Verunsicherung, Beklemmung, Isolation und vielen Fragen trotzt. Dazu die Ambivalenz dieser aufwühlenden Zeit, die auch bereits in anderen Texten Borios Ausdruck findet: „Infine, si osserva che l’unità, l’integrità completa di fronte a qualsiasi esperienza o esistenza è illusoria, tutto è soggetto a un’ambivalenza, un compromesso, una dialettica“ (Antwort von Borio in Comparini 2015). Bei Borio lässt sich das vorliegende Gedicht ebenfalls in den unmittelbaren Kontext anderer Texte einbetten. Auffällig ist zunächst, dass es sich auch im Text Trasparenza (aud der Sammlung Trasparenza, Interlinea 2018) beim ersten Wort um „osservare“ handelt, wenn auch diesmal in der zweiten Person Plural („osservate“, V. 1). Der Text zeichnet sich aus durch eine Abstraktheit, die von Formen getragen wird. Die zweite Person Singular „osservi“ hingegen erschließt sich aus dem vorhergehenden Gedicht I im Band „Dal deserto rosso“, aus dem auch II stammt: „Ti scrivo da una zona rossa […]“ (V. 6).
Im Briefformat also ist das Gedicht angelegt, vielleicht auch gerade deshalb, weil ein direkter Kontakt nicht möglich ist. Vielleicht auch deshalb nur die zweite Person Singular, denn es ist kein Plural möglich, keine Menschenansammlungen mehr erlaubt, ganz anders noch als beim „osservate“. Das lyrische Ich schildert einen ersten Einblick in den fremden neuen Alltag der Corona-Pandemie, der unter anderem eine Einstufung in grüne, gelbe und rote Gefahrenzonen kennt. Was ebenfalls aus den Worten hervorgeht, ist Distanz und doch Nähe, da, zwar isoliert, simultan alle ähnliche Erfahrungen machen: „[V]uoto, neutro, senza uscita, e tutti sono come me“ (V. 8). Die zeitliche Verortung in die Corona-Pandemie erscheint immer gerechtfertigter, vor allem unter Hinzunahme folgender Verse: „[P]unti soli, senza illusione, nella prima primavera del millennio che al tempo sta cambiando la faccia.“ (V. 9.). In diesem ersten Gedicht macht sich erste Verunsicherung bezüglich der Zukunft breit, die zu diesem Zeitpunkt noch eher vage ist. Im Gedicht IV des gleichnamigen Bandes hingegen sind die Antworten auf die vielen Fragen immer noch nicht da: „È arrivata, è stata la gazza che stamattina beccava sul vetro, un potere per cui non vale disillusione o speranza. È arrivata ma non dice niente della verità […]“ (V. 2-4).
In diesem Gedicht stellt das lyrische Ich, anders als in I und II keine Fragen mehr. Vielleicht sind dies erste Anzeichen von Resignation, Erschöpfung? Die beschriebene Zeit, der beschrieben Raum: Es ist ein Gang durch die Wüste, die sich als Käfig entpuppt.
Auch wenn der Anspruch an die Schlussbetrachtung nicht ein solcher ist, ein gemeinsames Fazit zwischen dem Gedicht Perlustrazione II von Anedda und dem Gedicht II (Dal deserto rosso) von Borio ziehen zu können, fällt dennoch auf, dass beide von einem inhaltlich ähnlichen ‚aspetto chiave‘ zeugen: Bei Anedda ist das lyrische Ich auf Erkundungssuche nach einem Detail im Raum. Bei Borio ist das lyrische Ich auf der Suche ist nach einer greifbaren Antwort in der Zeit. Möglich scheint dies – sowohl bei Anedda als auch bei Borio – einzig in Form des „perlustrare“, des „osservare“. Vergangenes aus Zeit und Raum existiert nicht mehr, ist in einer ihm eigenen Form jedoch immer noch präsent, festgehalten vom lyrischen Ich: Sei es das schlafende, lyrische Du, das im Gedicht zuvor eigentlich schon verstorben ist, quasi ein flüchtiger Moment, nun verewigt. Sei es ein Film, der gerade noch am Laufen war und nun festzuhängen, festgefroren scheint in einer Szene, gar in einem beklemmendem Standbild. Gewesenes schwingt nach, das Jetzt ist da, aber gelähmt und wüst, die Zukunft karg. Da ist ein lyrisches Ich in einer menschenleere Wüste, da ist ein lyrisches Ich auf einer menschseienden Insel.
Bibliographie:
Cittarelli, G., L’esplorazione di una distanza. Su Trasparenza di Maria Borio. 2021 online.
Comparini, A., La sabbia e il fuoco. Intervista a Maria Borio. 2015 online.