Fiat lux (2012)

 Requiem für die Ameisenbäume

(Einleitung, Kommentar und Übersetzung von Konstantin Bez)

Einleitung

Réquiem… ist das fünfte Gedicht des Gedichtzyklus Fiat Lux, welcher aus insgesamt neunzehn Einzelgedichten besteht. Leitmotivisch durchzieht den Band ’das Zündholz’ (fósforo), dessen Potential bereits in der zweideutigen Titelanspielung Fiat Lux auftaucht, die neben der alttestamentarischen Genesis auch auf eine brasilianische Streichholzmarke verweist. Während die Produktion der Streichhölzer, in Requiém por las embaúbas insbesondere die Abholzung des amazonischen Regenwalds und das Flößen der Stämme, als Metapher für die kapitalistische Ausbeutung von Land und Bevölkerung dient, verkörpert der Moment des Entzündens die Möglichkeit des Aufbegehrens gegen die repressiven Verhältnisse, sozusagen die „Flamme der Revolution“ (s. Angelina II ).

Als drittes wiederkehrendes Motiv zieht sich „der Hunger“, mit dem auch Requiém beginnt, wie eine Art transgenerationales Leiden (A. […] tiene el hambre de la abuela de su abuela. Angelina I, v. 25 ) der in prekären Verhältnissen lebenden Exil-Familie durch die Gedichte. Dieser omnipräsenten Katastrophe des Hungerns (Requiém por las embaúbas, v. 23-24, 30-32) gegenüber steht die selbstgefällige Klasse der Besitzenden, der Firmenchefs (s. Gedicht Anna Stefania Lauff ) und Akademiker (Requiém por las embaúbas, v. 6).

Schon durch den Titel des Gedichts bietet sich die Lesart einer Totenmesse, oder eines Trauergesangs für die Bäume der Gattung Cecropia an, die für die Nachfrage an Streichhölzern fallen müssen. Die Verwendung von Ameisenbäumen (embaúbas) als unkomplizierter, weil schnellwachsender und billiger Rohstoff, konterkariert dabei wiederum die symbiotischen Weise, in der diese mit den Ameisen der Spezies Azteca zusammen leben und ihnen als Nahrung dienen (vgl. Hunger).

Aber nicht nur die tropische Flora und Fauna und die Biographien der eigenen Großfamilie nutzt Abramo als Steinbruch für ihre Poesie, vielmehr wird auch die Sprache, oder genauer gesagt die Sprachen (Spanisch, brasilianisches Portugiesisch (Titel), Griechisch (Requiém…, v. 29), Latein (Angelina I, En Memoria de Anna Stefania Lauff) zum Material des lyrischen Ausdrucks, wodurch dieser sich immer auch selbst hinterfragt und ein gewisses Misstrauen gegenüber der fragilen Verbindung von Signifikat und Signifikant entsteht (Requiém…,v. 37-38: la palabra hambre / con su boca abierta). Dies kann mitunter sogar als ironischer metapoetischer Kommentar verstanden werden (v. 15-22, ya se ha dicho / todo y bien y mucho).

Übersetzung

Réquiem por las embaúbas

permiso para hablar del hambre
ese fantoche
de mal gusto el hambre
ya no existe dice el señor licenciado (5)
y enciende un cigarro lento
que muere ocioso
junto a una silla rotatoria en que gravitan
cristales
rutinas(10)
frutas de esmerilada constancia
sobre una fuente azul  
para qué insistir en ese asunto viejo
si ya el naturalismo
y la revolución (15)
las ratas, ya se sabe
ya se ha dicho
todo y bien y mucho
es demodé mejor hablar del amor (20) mucho mejor  

permiso para decir que acalambra
que como lepra el hambre
se extiende en manifestaciones ambarinas (25)
noche adentro
día adentro el hambre
polyeidés tornasolada variadísima más allá de su espantosa cohorte
de vacas flacas (30)
niños inflados
también hablar del hambre sin calambres
el hambre gris de tiempo
para pensar en el hambre
para decir (35)
la palabra hambre
con su boca abierta
y después pensar:
de tiempo
de libros de (40)
crustáceos de encendidos tintes
y de flores sí
también de flores y de espacio para enunciar su colorido
desorden (45)
de otra forma    

Muchos miles de hormigas, miles de millones
negrean el tronco mirmecófilo , se arremolinan en los nudos,
pasean febriles por las hojas inmensas, las pocas hojas inmensas, asteriscos superlativos, (50)
de la embaúba. Densidad de la madera: 0.02.
Idónea para laminarse, rebanarse en finísimas astillas paralelepípedas , y, en consecuencia,
ruedan sus troncos – nunca demasiado altos,
ruedan (55)
como si hubieran brotado para eso
y no para otra cosa.
Se empapa de lodo el poco musgo que los cubre, y mutilados ya, muñones sólo, sin asteriscos, sin hormigas,
van a parar cilíndricos a los arroyos, (60)
pues desde allí cualquier caudal los lleva al mar. Y van rodando
esta vez sobre las aguas, unos sobre otros, yuxtapuestos,
escamas de un reptil inmenso, confundiendo con maderos más nobles y duros,
en la infusión orgánica del río Amazonas, sus perfumes. (65) Entonces llegan
a un punto donde hay hombres no necesariamente musculosos, pero sí
relucientes, y grúas, y escalofríos de fiebre, como siempre.
Suben los troncos (70)
al camión, suben
al barco, zarpan
y viajan hacia el sur
hasta llegar a Santos y otros puertos. (75)

lassen Sie uns vom Hunger sprechen dieser Marionette
des schlechten Geschmacks der Hunger existiert nicht mehr sagt der Herr Akademiker (5)
und zündet sich eine träge Zigarre an die müßig stirbt neben einem Drehstuhl indem
gravitieren
Kristalle
Routinen (10)
Früchte geschmirgelter Beständigkeit über einer blauen Schale  
warum auf diesem alten Thema beharren wenn schon der Naturalismus und die Revolution (15) die Ratten, weiß man schon
hat man schon gesagt
alles und gut und viel
das ist démodé  besser von der Liebe sprechen (20) viel besser  

lassen Sie mich sagen, dass er krampft dass er wie Lepra der Hunger sich ausbreitet in bernsteinfarbenen Bekundungen (25)im Innern der Nacht      
im Innern des Tages der Hunger vielfarbig schimmernde polyeides jenseits seiner schrecklichen Kohorte von mageren Kühen (30) aufgequollenen Kindern
auch vom Hunger ohne Krämpfe sprechen
der graue Hunger der Zeit
um an den Hunger zu denken um
zu sagen (35)
das Wort Hunger mit seinem offenen Mund                
und danach zu denken:
nach Zeit
nach Büchern nach (40) Krustentieren in flammenden Farben und nach Blumen ja
auch nach Blumen und nach Raum um ihre bunte
Unordnung (45) auszudrücken auf andere Weise  

Viele tausend Ameisen, tausende Millionen
schwärzen den myrmekophilen Stamm, wirbeln in den Knorren, spazieren fieberhaft über die immensen Blätter, die wenigen immensen Blätter, Asterisken der Superlative, (50)
des Ameisenbaums. Holzdichte: 0.02 Geeignet, um gewalzt zu werden,
in kleine Splitter geschnitten, parallelepipedisch, und folglich,
rollen seine Stämme – nie genug zu hochgewachsen,
rollen sie (55)
als wären sie dafür gesprossen und für nichts anderes.
Das bisschen Moos, das sie bedeckt, saugt sich mit Schlamm voll, und verstümmelt schon, Stümpfe nur noch, ohne Asterisken, ohne Ameisen, machen sie zylindrisch an den Bächen Halt, (60)
denn von dort trägt sie jedweder Strom ins Meer. Und sie rollen diesmal über die Wasser, übereinander, nebeneinander, Schuppen eines immensen Reptils, und vermischen mit nobleren und härteren Hölzern im organischen Aufguss des Amazonas(-Flusses) ihre Düfte. (65)
Dann kommen
sie an einen Punkt, an dem es Männer gibt, nicht zwangsläufig muskulöse,
aber doch glänzende,
und Kräne, und Schüttelfrost vom Fieber, wie immer.
Sie laden die Stämme (70)
auf Lastwagen, steigen
aufs Schiff, legen ab
und reisen nach Süden
bis sie in Santos und anderen Häfen ankommen. (75)