Kommentar
1.Teil
Réquiem por las embaúbas zeichnet sich besonders zu Beginn, wie auch die anderen Gedichte der Reihe, durch eine Polyphonie sich teils unterbrechender, teils überlagernder Stimmen aus. Hier spricht zunächst die Stimme der Anklage (V.1), vielleicht des hungernden Volkes, des Aufbegehrens (V.1, permiso) gegen Willkür (V.2, fantoche) und die „Geschmacklosigkeit“ einer asymmetrischen Gesellschaft (V.3, de mal gusto), möglicherweise personifiziert in der fiktiven Küchenangestellten Angelina (Moreira, 2014, S. 340). Mit dieser verflicht sich bald (V.3) eine antagonistische Stimme, die der Wirtschaft, oder des Neoliberalismus, repräsentiert durch den kultivierten Akademiker (V. 6, 15-22), der die Muße hat im luxuriösen Drehstuhl Hypallagen wie „träge Zigarren“ genießen zu können (V. 7-9). Formal unterstützen Zeilensprünge (V.2, 3), Ellipsen (V.15, 16) und die fehlende Zeichensetzung dieses temporeiche Streitgespräch, das in den Versen 6 bis 13 kurz von einer neutraleren Erzählstimme unterbrochen wird, die auch im zweiten Teil des Gedichts ab Vers 48 wieder übernimmt. Nach einem bildungsbürgerlichen Kommentar der Akademiker-Stimme (V. 14-22), die das Thema des Hungers und der untragbaren sozialen Verhältnisse als durch den Naturalismus längst abgehandelt sieht und sich in eskapistischer Weise für die Liebe(slyrik?) ausspricht, setzt sich schließlich doch die Stimme des Protests durch. Sie zeichnet ein noch düstereres Bild der Hungerplage, die sich wie eine Krankheit (V.24) ausbreitet, der aber, jenseits dieses an die Medienberichterstattung erinnernden visuellen Schreckensszenarios (V.30-32), auch eine eigentümlich zeitlos-versteinerte (V. 26 ambarinas), womöglich auch schmetterlingshafte (V. 29 polyeidés tornasolada variadísima, s. Glosar) Ästhetik innezuwohnen scheint. Denn nun weitet die Stimme den Hungerdiskurs aus, wodurch sich auch der Begriff hambre selbst öffnet (V. 37-38), semantisch zu dehnen scheint, und auch den Hunger nach der verlorengehenden Zeit (V. 34), die Sehnsucht nach Literatur und Kultur (V. 41), nach Blumen (V. 43), kurz dem Schönen und dessen freier, ungeordneter Entfaltung (V. 45) umfasst.
2. Teil
Die Personifizierung des Hungers tritt im zweiten, auch formal durch Schreibweise, Zeichensetzung und geringeren Einzug markierten Teil ab Vers 48 hinter einer einfühlsamen Beschreibung der Stationen des „Leidenswegs“ (V. 60, mutilados ya) der gefällten Ameisenbäume zurück. Die Reiserichtung flussabwärts, die die Stämme dabei gezwungenermaßen antreten, spiegelt sich übrigens in umgekehrter Richtung im Gedicht Mismo Río. Chaco Boliviano, in dem Abramos Vorfahren sich flussaufwärts durch den Regenwald „schlagen“.
Wie im ersten Teil sorgen auch hier Alliterationen (V.48) und Anaphern (V.55-56) für Rhythmus, „Fluss“ und Nachdruck. Die empfindliche Symbiose zwischen Tier und Pflanze (V. 49-50, febril, mirmecófilo) wird brutal zerstört (V. 60). Diese Brutalität drückt sich vor allem in der bereits erwähnten Umdeutung der Bäume im Sinne einer gierigen (V. „nunca demasiado altos“) Verwertungsökonomie aus (V. 53, 57-58), die sie zum quantifizierbaren Material Holz werden lässt (V. 52 Densidad de la madera, V.54 paralelepípedos, V.61 cilíndricos). Dieses „rollt“ schließlich unaufhaltsam in einem lebendigen (V. 64) Rohstoffgemenge (V. 66) aus dem so bildlich ausblutenden Amazonas in Richtung der Häfen, der Distributionszentren globaler Handelsströme (V. 75).