Historiae (2018)

 Kommentar von Hélène Potelet (SoSe 2021)

Perlustrazione II ist eine Fortsetzung des Gedichts Perlustrazione I, das Antonella Anedda in der 2018 erschienenen poetischen Anthologie Historiae geschrieben hat. Der Titel des Sammelbandes bezieht sich auf den Titel des Werkes von Tacitus, einem römischen Historiker und Senator aus dem ersten und zweiten Jahrhundert nach Christus. In diesem Gedichtband verschmilzt die Dichterin ihr Privatleben mit der kollektiven Geschichte (Binetti 2019:75). Sie reflektiert über den Tod und schafft Raum für einen Dialog zwischen den Toten und den Lebenden. Sie eröffnet auch die Debatte über poetische Sprache und Übersetzung – Themen, die Tacitus am Herzen liegen (Buonfiglio 2020:76). In dieser Gedichtsammlung wechselt Antonella Anedda von der Beschreibung historischer Ereignisse zu Naturbeobachtungen, die ihr helfen, über den Menschen und seine Umwelt nachzudenken. Antonella Anedda bringt in diesem Werk die Idee der ständigen Veränderung zum Ausdruck, sowohl in zeitlicher und räumlicher, als auch in natürlicher und biologischer Hinsicht. Es ist ihr gelungen, die äußeren Mutationen der natürlichen Umwelt mit denen zu verbinden, die in jedem Menschen vorkommen.

1.1. Formale Analyse des Gedichts

Das Gedicht besteht aus zwanzig freien Zeilen, die keinem festen Reimschema folgen. Außerdem besteht es aus drei langen Sätzen und endet ohne Satzzeichen. Das Gedicht kombiniert die Codes von Poesie und Prosa. Die Sätze des Gedichts beginnen zwar alle mit Großbuchstaben, aber der Rest der Zeilen beginnt nicht mit einem Großbuchstaben, wie es in klassischen Gedichten üblich ist.

In Bezug auf die Aufteilung des Textes in drei Sätze und einen vierten, unvollendeten Satz lassen sich vier ganz unterschiedliche Teile definieren. Der erste Teil (von Strophe 1 bis 8) handelt von dem Moment, in dem das lyrische Ich in der Nacht aufwacht und von seinem Zimmer ins Bad geht, um Wasser aus dem Wasserhahn zu trinken. In diesem Moment sieht der Lyriker das Tageslicht durch die Rohre scheinen, was in ihm eine flüchtige poetische Inspiration hervorruft. In diesem ersten thematischen Teil des Gedichts ist eine gewisse Abstufung zu erkennen, die zunächst vom Inneren des Hauses ausgeht und dann zum Äußeren des Hauses hinführt, wobei zunächst das lexikalische Feld des häuslichen Raums („letto“, „corridoio“, „finestre“, „bagno“, „cucina“) und dann, an zweiter Stelle, das lexikalische Feld des Himmels („il cielo“, „nubi“) zum Tragen kommt. Bereits in der ersten Zeile wird der starke Kontrast zwischen Licht („la luce“) und Dunkelheit („notte“) deutlich, der sich durch das ganze Gedicht zieht. Die „torcia“, also das Feuer und damit das Licht, wird der Dunkelheit des fensterlosen „corridoio“ gegenübergestellt. Der Himmel „si schiarisca“, aber er ist von Wolken umgeben („cerchiato dalle nubi“). Durch den Effekt des Lichtspiels entsteht auch ein Temperaturkontrast zwischen der Fackel, dem Wasser, welches das lyrische Ich trinkt, dem wolkenverhangenen Himmel und schließlich der kalten Präsenz des Stahls der Rohre, der gleichzeitig das Funkeln der Reflexion des Tageslichts und damit auch einen Hauch von Wärme symbolisiert. Das Vorhandensein des eher modernen lexikalischen Feldes des häuslichen Raumes kollidiert mit der Erwähnung der Fackel, die noch im Mittelalter gebräuchlich war, was auch auf eine Zwischenwelt hindeuten kann, d.h. zwischen der lyrischen und der traumhaften Welt, aus der das lyrische Ich allmählich hervortritt und sich dann auf die Welt der Realität und des Alltags zu bewegt, um schließlich die Außenwelt zu erreichen. Wir sollten jedoch nicht vergessen, dass die Metapher der Fackel oft verwendet wird, um Licht in der Dunkelheit zu repräsentieren. Sie symbolisiert also Wissen und Einsicht oder Offenbarung aus der Dunkelheit. Außerdem ist das Licht, das durch das Feuer der Fackel erzeugt wird, ein warmes Licht. Es ist also ein Licht, das das Herz tröstet und wärmt. Das Licht der Fackel ist jedoch ein flackerndes, unbeständiges Licht, genau wie das Licht draußen, das wechselhaft ist und durch Wolken behindert wird. Die Fackel hat also auch einen zerbrechlichen Charakter. Der Lichtfunke, der für den ersten Ausbruch der poetischen Inspiration notwendig ist, wird durch die Sprachfigur der Alliteration in „c“, „ch“ oder „cc“ („cucina“, „coda dell’occhio“, „cielo“, „schiarisca“, „cerchiato“, „acciaio“) klanglich spürbar gemacht. Es ist durchaus möglich, dass das lyrische Ich auch imaginär spricht, das heißt, es verwendet Worte, insbesondere Begriffe, die sich auf den Raum beziehen, um eine andere Realität zu bezeichnen. Das Bild des lyrischen Ichs, das den Korridor durchquert, scheint eine Metapher für das Durchschreiten einer schwierigen Lebensphase oder für das Leben einer Dichterin selbst zu sein, die in langen Momenten des Umherwanderns manchmal plötzlich Inspiration findet. Neben einer Abstufung in Richtung Licht findet sich in diesem ersten Teil die Beschreibung eines beklemmenden nächtlichen Ortes („di notte“) mit einem langen, schmalen Gang, der durch das Adjektiv „stretto“ qualifiziert wird, dessen Betonung zu Beginn des Verses und Einrahmung durch Kommata die beklemmende Wirkung noch verstärkt. Darüber hinaus ist das lyrische Ich allein, obwohl auch Menschen im Haus anwesend sind, die aber schlafen („per non svegliare nessuno“), was den Effekt der Einsamkeit verstärkt und den beängstigenden Charakter des Raums noch steigert.

Die Zeitform, die vom Anfang bis zum Ende des Gedichts verwendet wird, ist das Präsens, das in diesem ersten Teil ein Präsens der Beschreibung, aber auch ein Präsens der Wiederholung ist, da erwähnt wird, dass es in der Nacht geschieht („Di notte“). Wir haben also das Gefühl, dass es sich um ein Geschehen handelt, das sich oft, sogar unendlich oft wiederholt. Die Zeit scheint ewig zu sein, was ihre Existenz fast aufhebt. Nur der Raum nimmt in diesem Gedicht seinen vollen Platz ein. Das lyrische Ich ist von Beginn des Gedichts an sehr präsent, da es bereits zu Beginn der zweiten Zeile erscheint („lascio che…“).

Der zweite Teil des Gedichts (V. 9-12) handelt von der dichterischen Offenbarung und dem schöpferischen Akt des lyrischen Ichs. In der Tat können wir den lexikalischen Bereich des Schreibens dank der Verwendung des Verbs „scrivere“ und der Anwesenheit der Substantive in den Versen 10-12 „una nota“, „poesia“, „un foglio“ beobachten. Dieser zweite Teil besteht aus einem einzigen Satz in nur vier statt acht Zeilen wie im ersten Teil des Gedichts. Damit soll der Eindruck einer Beschleunigung des Rhythmus vermittelt werden, um sowohl die Raserei des Schreibens („in fretta“), die in das lyrische Ich eindringt, als auch den plötzlichen und flüchtigen Moment der poetischen Inspiration darzustellen, der durch den Begriff „balurme“ ausgedrückt wird, der ein ungewisses Glühen oder eine kurze Manifestation von etwas, in diesem Fall der poetischen Manifestation, bezeichnet. Außerdem können wir sehen, dass das kreative Streben als ein freudiger und aufregender Moment dargestellt wird, da wir das Vorhandensein der Assonanz mit der Wiederholung des Vokals „a“ im gesamten Satz haben („ma basta“, „qualcosa“, „nota“, „poesia“, „fretta“, „spesa“), was die Idee einer Offenheit und einer gewissen Positivität des Moments hervorhebt. Auch hier gibt es einen starken Gegensatz zwischen der Welt der Offenbarung und der Mystik und der Welt des Alltags und der Realität, insbesondere durch das Vorhandensein eines Zettels, der ursprünglich nicht dazu gedacht war, ein Gedicht zu schreiben, sondern um sich an die zu erledigenden Aufgaben zu erinnern. Außerdem ist es wichtig zu betonen, dass dieser zweite Satz mit einer Würdigung des lyrischen Ichs in Bezug auf die Situation, die es erlebt, beginnt: „Non è molto ma basta“. Dadurch entsteht der Eindruck, dass das lyrische Ich aus dem lethargischen Zustand, in dem es sich im ersten Teil des Gedichts befindet, herauskommt, um seinen Verstand und das volle Bewusstsein für die reale Welt wiederzuerlangen.

Nach diesem Moment des frenetischen Schreibens beginnt der dritte Teil des Gedichts (V. 13-17). Das lyrische Ich ist in der Situation so präsent und aktiv wie immer, denn in Vers 13 haben wir zwei Verben, die in der ersten Person Singular konjugiert sind und fast nebeneinander stehen:

„Torno a letto, guardo…“. Dieser dritte Teil konzentriert sich jedoch hauptsächlich auf den Blick des lyrischen Ichs auf diese andere Person, die im selben Bett liegt und nur durch ihre körperlichen Merkmale beschrieben wird („profilo“, „il tuo russare“, „fiato“, „osso deviato“, „occhi“, „fronte“). Auch hier sind Gegensätze auf verschiedenen Ebenen zu erkennen. Erstens in der widersprüchlichen Beschreibung der liegenden Person, die noch ein „kindliches“ Profil hat, aber auch laut zu schnarchen scheint wie Menschen eines bestimmten Alters. Dann scheint das lyrische Ich in die Dunkelheit zurückzukehren („guardo la penombra“), aber die Präsenz des klaren, funkelnden Lichts ist mit dem „lampadario a gocce“ immer noch vorhanden. Wenn man jedoch weiß, dass es sich bei dieser anderen Person um die kranke Mutter des lyrischen Ichs handelt, könnte man meinen, dass dieses „lampadario a gocce“ nichts anderes als eine Metapher für den Tropf ist, der über der sterbenden Mutter hängt. In diesem Teil werden die auditiven und visuellen Sinne des lyrischen Ichs geweckt: „guardo“, „ascolto“, „il tuo russare“, „quel suono“, „orchestra“. Über das Schnarchen dieser Person spricht das lyrische Ich von einem „corpo“, der „col fiato orchestriert“, vielleicht um eine negative Realität abzuschwächen, indem es eine rhetorische Figur oder einfach eine metaphorische Wendung verwendet, die kein abwertendes Urteil enthält. Auch hier kann man sagen, dass das lyrische Ich seine Gedanken, Zweifel und Hypothesen äußert, vor allem, wenn es die möglichen biologischen Gründe darlegt, die die Ursache des Schnarchens des schlafenden Körpers erklären würden: „di quel suono che il corpo orchestra col fiato, o forse/con un osso deviato verso gli occhi e la fronte“. Auch hier könnte man sagen, dass „un osso deviato“ nichts anderes ist als eine Litanei, die sich in Wirklichkeit auf eine Nasendeformität bezieht, die, mit medizinischen Jargon beschrieben, die Beschreibung der letzten Momente im Leben des zukünftigen Verstorbenen noch makabrer gemacht hätte.

Der letzte Teil (V. 18-20) besteht nur aus drei Zeilen und beginnt mit einem Großbuchstaben, als ob er zu einem Satz werden sollte, aber er endet nicht wirklich, weil keine Satzzeichen das Gedicht abschließen. Obwohl diese letzte Passage an sich relativ kurz ist, scheint sie dennoch unendlich lang zu dauern, da wir das Verb „resto“ sowie das Temporaladverb „a lungo“, aber auch das Verb „osservare“ und die Verwendung des Gerundiums „pensando“ haben, die die Idee von Zeit und Dauer verstärken. Außerdem vermittelt der unvollendete Aspekt des Satzes das Gefühl, dass die Zeit in der Schwebe ist. In diesen letzten drei Zeilen spielt das Reimschema eine sehr wichtige Rolle, da es die drei Infinitiv Verben „osservare“, „vivere“ und „amare“ hervorhebt, obwohl „osservare“ und „amare“ aufgrund ihrer identischen Endung auf -are noch näher beieinander zu liegen scheinen. In diesem letzten Satz können wir die Passage „ich“ am Anfang mit „Resto“ und dann die Verwendung des Personalpronomens „noi“ in der letzten Zeile bemerken, um alle Menschen zu bezeichnen. Hier findet eine Entpersönlichung des Denkens und der persönlichen und privaten Situation des lyrischen Ichs statt, hin zu einem Gedanken, der für alle gilt und somit universell und kollektiv ist. Diese Passage wird aus syntaktischer Sicht durch die Verwendung von Bindestrichen hervorgehoben, die das „noi“ und das „umani“ einrahmen: „data a noi umani„.

1.2 Persönliche Interpretation

Das Gedicht Perlustrazione II ist eine Ode an das Leben und die dichterische Inspiration. Meiner Meinung nach sind die Nacht, der enge Korridor und das Bett wahre Symbole für den Tod, der die Mutter des lyrischen Ichs umgibt und der leider sowohl eine Quelle der Inspiration für das lyrische Ich als auch ein Hindernis für die poetische Inspiration ist. In der Tat braucht das lyrische Ich Licht, Wärme und Leben. Dies wird in Objekten wie der Fackel, dem leuchtenden Himmel und dem glitzernden Stahl deutlich sichtbar. Das Wasser mag im Gegensatz zum Feuer stehen, das durch die Fackel symbolisiert wird, aber ich glaube, dass beide Elemente für das Leben und damit für die künstlerische Inspiration wesentlich sind. Das Badezimmer, die Küche, die Wolken, der Tropfen Kronleuchter sind Symbole des Wassers, die das Überleben erleichtern. Nehmen wir zum Beispiel das Objekt des Tropfenleuchters, das ebenso gut Licht und Helligkeit in der Nacht symbolisieren kann wie eine Metapher für die Infusion, deren Tropfen für das Überleben der sterbenden Mutter unerlässlich sind.

Die Wahl der Gegenstände ist symbolträchtig, aber auch sehr kontrastreich, denn das lyrische Ich geht mit einer Fackel einen Flur im Haus entlang und schreibt gleichzeitig sein kurzes Gedicht auf einen Einkaufszettel. Diese Gegenstände scheinen zwei völlig gegensätzlichen Welten anzugehören: einer mythologischen, antiken, traumhaften Welt (die Fackel) und einer gewöhnlichen, prosaischen Welt (der Einkaufszettel).

Das lyrische Ich erhebt sich aus seinem Bett und verlässt allmählich die Traumwelt, um das Licht und damit die poetische Offenbarung zu erreichen (V. 1-12). Aber sowohl dieses Licht als auch diese poetische Offenbarung bleiben flüchtig und unbeständig. Die Flammen der Fackel flackern zwar, aber sie bleiben zerbrechlich. Hinzu kommt, dass das äußere Licht des Tages nicht direkt sichtbar ist. In der Tat ist es nur durch die Gegenstände sichtbar, in denen es sich spiegelt („l’acciaio dei tubi“), und selbst das Licht der poetischen Inspiration ist nur ein „balurme“ und daher kein klares Licht, das nicht immer vorhanden ist, da das zeitliche Adverb „a volte“ die Idee der Beständigkeit weiter abschwächt. So taucht das lyrische Ich aus der angstvollen und beängstigenden Welt der Nacht auf (V. 4), um einen Moment der Freude und der frenetischen Erregung zu erleben, als es seine neue poetische Idee zu Papier bringen kann (V. 9-12). Nach diesem kreativen Rausch kehrt das lyrische Ich ins Bett zurück, wo die sterbende Mutter schläft. Dort schaut es seine Mutter aufmerksam an und lauscht mit Neugier („curiosa“) ihrem Atem. Um über seine Mutter zu sprechen, konzentriert sich das lyrische Ich vor allem auf das, was an ihr sichtbar und hörbar ist. Er beschreibt das Profil, das Schnarchen und vergleicht es mit eher positiven Dingen, wie der Vorstellung, dass der Klang des Körpers Musik ist, die von einem Orchester gespielt wird (V. 16). Man könnte in dieser Beschreibung der sterbenden Mutter sogar eine gewisse Form von Humor finden, als das lyrische Ich versucht, eine Erklärung für das Schnarchen des Körpers seiner Mutter zu finden. In der Tat spricht es auf einfache und distanzierte Weise über das Problem der deformierten Nasenscheidewand, das bei manchen Menschen auftritt, die im Schlaf zum Schnarchen neigen. Das lyrische Ich spricht nur von einem verbogenen Knochen, was die Situation eher komisch macht. Nachdem es seine schlafende Mutter lange Zeit beobachtethat, löst sich das lyrische Ich völlig von seinen irdischen und privaten Beobachtungen, um zu einer Reflexion über den Akt der Liebe zu gelangen. Wir verstehen, dass nach dem lyrischen Ich das Lieben sich darauf bezieht, die äußeren Dinge ohne jedes Urteil zu betrachten, und dass dies allein der eigentliche Sinn des Lebens für jeden Menschen wäre. Das lyrische Ich bezieht sich hier also auf die philosophische Kontemplation, die es demjenigen, der sie ausübt, ermöglicht, inneren Frieden zu erlangen. So führt das lyrische Ich über die Angst, die Aufregung und die Freude bis hin zur Ruhe zu einem inneren Frieden, der ewig zu dauern scheint, da er weder auf der Textebene (keine Satzzeichen, keine Punkte) noch auf der metaphysischen Ebene durch ein Hindernis behindert wird.

1.3 Vergleich des Gedichts mit anderen poetischen Werken

Inwiefern kann man sagen, dass Perlustrazione II eine Erweiterung des Gedichts Perlustrazione I ist?

Bei der Analyse des Gedichts Perlustrazione I, das dem Gedicht Perlustrazione II in der Sammlung Historiae von Antonella Anedda vorausgeht, lassen sich in der Tat viele Gemeinsamkeiten in thematischer und stilistischer Hinsicht feststellen. In der Tat finden wir auch in diesem Gedicht die Idee einer anschaulichen, aber auch unendlichen Gegenwart, die sich zu wiederholen scheint („dico la solita frase“). Das lyrische Ich befindet sich immer noch in diesem ewigen Warten, mit dem er während der Qualen seiner Mutter konfrontiert wird. Das lyrische Ich ist immer noch sehr aktiv und ist das Subjekt vieler Aktionsverben wie „entro“, „cerco“, „parlo“, usw. Natürlich finden wir wie in Perlustrazione II viele Verweise auf den visuellen Sinn („scompare“, „guardare“, usw.) und einen wichtigen Platz, der dem Raum eingeräumt wird („Perlustro la zona“, „il suo spazio“, „il letto“). Wir finden auch die lexikalischen Felder der Angst („paura“, „terrore“), der Philosophie („filosofia“, „cicuta“, „stoici“). Das lyrische Ich bewegt sich nach wie vor in einem Raum, der recht abstrakt erscheint, der aber durch eine sehr bildhafte Schrift sehr konkret wird, in dem der Tod gleichsam personifiziert ist, in dem die Zeit ein dunkles Loch ist, das alles in sich aufsaugt, und in dem das Bett wieder einmal ein Ort der Begegnung und des Dialogs zwischen den Lebenden und den Toten (hier zwischen dem lyrischen Ich und seiner sterbenden Mutter) zu sein scheint. Darüber hinaus finden sich Anspielungen auf die griechische Mythologie wie in Perlustrazione II, wo der Gott der Zeit, Kronos, alles verschlingt, was ihm in den Weg kommt, bis er seine eigenen Nachkommen verschlingt („il tempo è davvero il buco che divora.“). Stilistisch wechselt das lyrische Ich zwischen langen und kurzen Sätzen, zwischen Prosa und Poesie, und endet mit kurzen Sätzen, die einen gewissen Abschluss zu markieren scheinen und doch einen Tod ausdrücken, der noch nicht gekommen ist („Aspetto come mette il suo odore mentre muore.“).

Inwiefern kann man jedoch eine gewisse Entwicklung des lyrischen Ichs bei der Lektüre von Perlustrzione I und dann Perlutrazione II feststellen?

Im ersten Gedicht ist das lyrische Ich tatsächlich mit der sterbenden Mutter verbunden, und oft verwandelt sich das Ich in ein „Wir“ („noi“), was die Verschmelzung der Mutter und des lyrischen Ichs zeigt, während sich im zweiten Gedicht das lyrische Ich entpersonalisiert und zur gesamten Menschheit wird. Perlustrazione II erreicht eine Universalität, die in dem vorangegangenen Gedicht nicht so präsent ist. Das lyrische Ich in Perlustrazione I steht seiner Mutter sehr nahe und versucht, sie zu beruhigen, indem es die Welt des Todes „sucht“. Er ist also in Aktion, während im zweiten Gedicht das lyrische Ich zunächst handelt und sich dann beruhigt und beginnt, den Raum, seine Mutter, sein Inneres zu betrachten und zwar durch die Ausübung einer wachen und urteilsfreien Beobachtung. Es scheint mir, dass das lyrische Ich in der Akzeptanz des Todes seiner Mutter fortschreitet. Es hält es nicht mehr für notwendig, dem geliebten Menschen durch Taten zu helfen, sondern nur ihn überhaupt zu lieben und zwar durch die reine Akzeptanz der Ordnung der Dinge und der äußeren Welt, wie sie sich uns einfach präsentiert.

Kann man eine Parallele zwischen den Gedichten Sgretolarsi I und II aus Antonella Aneddas Geografie ziehen?

Wie in den Gedichten Sgretolarsi I (Geografie 2021: 21) und II (Geografie 2021: 154) des Gedichtbandes Geografie von Antonella Andedda können wir eine gewisse Entwicklung feststellen, nicht des lyrischen Ichs, das hier völlig abwesend zu sein scheint, sondern der natürlichen und biologischen Elemente, die uns umgeben und die in Sgretolarsi I gequält, aufgewühlt und im Chaos zu sein scheinen, während in Sgretolarsi II das Phänomen „Sgretolarsi“ (zerbröckeln) seine volle Bedeutung in der Natur findet. Es ist ein Zeichen des Neubeginns und der Erneuerung. Folglich geht von diesem zweiten Gedicht ein Gefühl des Friedens und der Befreiung aus, das die Endwirkung und das Thema des Gedichts Perlustrazione II widerspiegelt.

Bibliographie:

  • Anedda, A., Geografie, Milano: Garzanti 2021.
  • Binetti, R., Una zona di tempo/schiuma delle ere. Lirica e storiografia in Historiae di Antonella Anedda, «Lettere aperte», vol. 6 2019.
  • Buonfiglio, M., Ritornare a Tacito, «Segnale», XL 117 2020.