Festung Europa

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Festung Europa – Reflexion einer kritisch intendierten Metapher

von David Niebauer (März 2020)

Zäune aus Stacheldraht, meterhohe Barrieren, digitale Überwachungstechnik oder unterlassene Seenotrettung: Die Maßnahmen, mit denen die Europäische Union versucht, Migrant*innen zu kontrollieren und von Europa fernzuhalten, sind vielfältig. Und sie enden oftmals tödlich. So starben nach Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) seit 2014 insgesamt über 19.000 Menschen bei dem Versuch, auf dem Weg nach Europa das Mittelmeer zu überqueren.[1] Doch auch die Gewalt gegenüber Geflüchteten an den Grenzzäunen von Ceuta und Melilla oder die menschenunwürdigen Zustände in den Flüchtlingslagern auf griechischen Inseln verdeutlichen seit Jahren unmittelbar vor den Augen der europäischen Öffentlichkeit die restriktive Ausrichtung des europäischen Migrations- und Grenzregimes.

Um Kritik an dieser Politik sprachlich zum Ausdruck zu bringen, nutzen seit den 1990er Jahren unterschiedliche Akteur*innen wie etwa Aktivist*innen, Journalist*innen oder Wissenschaftler*innen die Metapher der „Festung Europa“. Damit machen sie auf die konkreten Instrumente und Konsequenzen der rigiden Abschottung gegenüber Migrationsbewegungen aus dem Globalen Süden eindrücklich aufmerksam – nicht zuletzt auf die Todeszahlen im Mittelmeer als europäischem „Festungsgraben“ (Schmid 2016). Zugleich aber kann der bildliche Vergleich auch als grundsätzliche Kritik an der Konstruktion einer „außereuropäischen Welt“ verstanden werden, gegenüber der sich Europa definiert und abgrenzt. Denn erst durch die postkoloniale und rassistische Praxis der Unterscheidung und Hierarchisierung zwischen einem „Wir“ und den vermeintlich minderwertigen „Anderen“ werden die gewaltsamen Maßnahmen gegenüber Migrant*innen zur Absicherung von Europas Privilegien gesellschaftlich fortlaufend legitimiert.

Doch obwohl die festungsgleiche Verhinderung von Migration zweifelsohne einen zentralen sicherheits- und raumpolitischen Aspekt der gegenwärtigen EU-Migrationspolitik darstellt, wird in kritisch-emanzipatorischer Hinsicht durchaus um die Rede von der Festung Europa gerungen. Eine solche (selbst-)kritische Begriffsreflexion ist insbesondere deshalb wichtig, weil eine Metapher durch den vielfachen alltäglichen Sprachgebrauch unser Denken und Handeln prägt und damit die Gestaltung des gesellschaftspolitischen Umgangs mit Migration entscheidend (mit-)beeinflusst (vgl. Jäger 2011: 91). Die Verwendung der Metapher mag also aus Sicht einer kritischen Öffentlichkeit grundsätzlich gut gemeint sein – irreführend und problematisch kann sie dennoch sein.

In meinem Beitrag möchte ich deshalb den Einwänden nachgehen, die in der kritischen Migrations- und Grenzforschung gegenüber der Festungsmetapher formuliert werden (vgl. u.a. Favell/Hansen 2002; Walters 2006; Bojadžijev/Karakayali 2007; van Houtum/Pijpers 2007; Hess 2018). Hierfür greife ich zunächst entlang von fünf Punkten die Kritik an einer Komplexitätsreduktion und Ausblendung zentraler Aspekte der europäischen Migrations- und Grenzpolitik auf. Anschließend diskutiere ich begriffliche Varianten zur Festungsmetaphorik. Dabei stellt sich heraus, dass es in analytischer Hinsicht gewichtige Gründe gibt, die Metapher der Festung Europa zu verwerfen. Allerdings mangelt es gleichzeitig an alternativen Begriffen, die eine rhetorisch ähnlich schlagkräftige Kritik in der Öffentlichkeit zu entfalten imstande sind. Doch auch wenn sich dieses Spannungsverhältnis zwischen wissenschaftlicher Exaktheit und politisch-praktischem Mobilisierungspotential nicht abschließend auflösen lässt: Die Auseinandersetzung mit der Festungsmetapher stellt in jedem Fall einen geeigneten Ausgangs- und Bezugspunkt dar, um sich eingehender mit der Analyse und Kritik des europäischen Migrations- und Grenzregimes zu beschäftigen.

Kritik an der Metapher

Eine grundsätzliche Kritik an der Metapher der Festung Europa lässt sich erstens auf sprachlich-diskursiver Ebene festhalten, insofern als der Begriff ein militärisches Narrativ aufgreift. Abgesehen davon, dass stationäre militärische Festungsanalagen längst überholt sind und der Begriff damit aus der Zeit gefallen scheint, besteht die Gefahr, dass die Verwendung der Metapher der Militarisierung EUropas unbeabsichtigt in die Hände spielt. Dass inzwischen konservative, rechtspopulistische und rechtsextreme Politiker*innen und Gruppierungen den Ausdruck vermehrt affirmativ verwenden, um einen weiteren Ausbau europäischer Grenzsicherung zu fordern, verdeutlicht dies. Zwar bleibt abzuwarten, inwieweit es ihnen gelingen wird, die kritische Intention des Bildes gesellschaftspolitisch umzudeuten. Doch die ständige Wiederholung des militärischen Begriffs kann für rechte Akteur*innen die Möglichkeit schaffen, mit ihrer Forderung einer Militarisierung Europas im Allgemeinen und einer mit aller Gewalt durchzusetzenden Verhinderung von Migration im Besonderen im Diskurs rhetorisch anzuknüpfen. Dabei ist die öffentliche Debatte über Migration ohnehin schon geprägt von Nationalismus und Rassismus sowie der damit verbundenen Herabwürdigung und Kriminalisierung von Migrant*innen, die wahlweise als Problem für die innere Sicherheit, den Arbeitsmarkt und Wohlfahrtsstaat oder die imaginierte nationale und europäische Identität konstruiert werden (Huysmans 2000). Demnach sollte in friedenspolitischer Absicht sprachlich zwingend „ab-“ und nicht „aufgerüstet“ werden.

Das Sprechen von der Festung Europa suggeriert zudem zweitens, dass die Migrationspolitik der EU einzig und allein nach dem Prinzip der hermetischen Abschottung ausgerichtet ist. Migrations- und Grenzforscher*innen, die sich empirisch mit der konkreten Ausgestaltung und Wirkungsweise der EU-Politik beschäftigen, weisen jedoch schon länger darauf hin, dass ein Verständnis der Migrationspolitik als „Null-Einwanderungspolitik“ unterkomplex und unzureichend wäre (Cornelius et al. 2004; Transit Migration Forschungsgruppe 2007; Guild/Mantu 2011; Forschungsgruppe „Staatsprojekt Europa“ 2014). Ein solch strukturalistischer Ansatz entnennt die vielfältigen und komplexen Funktionen und Effekte des Grenzregimes. So hat sich in EUropa ein migrationspolitisches Konzept durchgesetzt, das zumeist als „Migrationsmanagement“ bezeichnet wird (Ghosh 2000; siehe kritisch: Meyer/Purtschert 2008; Geiger/Pécoud 2010). Die übergeordnete Leitlinie besteht dabei darin, Mobilität zugleich zu verhindern wie auch zu ermöglichen, indem politisch zwischen „erwünschter“ – das heißt insbesondere „ökonomisch nützlicher“ – und „unerwünschten“ Migration unterschieden wird. Zu diesem Zweck fungiert die Grenze keineswegs als eine vollständig unüberwindbare Barriere, sodass nicht alle Migrant*innen gleichermaßen an der Überschreitung von Grenzen gehindert oder von den Gesellschaften Europas exkludiert werden sollen. Stattdessen besitzt die Grenze eine Art Filter-Funktion zur Durchsetzung eines komplexen Systems der „Limitierung, Differenzierung, Hierarchisierung und partiellen Inklusion von Migrantengruppen“ (Bojadžijev/Karakayali 2007: 204; vgl. auch Morris 2002; Mezzadra/Neilson 2013). Darüber hinaus verweisen Forschungen auch auf die nicht-intendieren Effekte des Grenzregimes: Dadurch dass Kontrollpolitiken faktisch immer wieder scheitern, können Migrant*innen nach der Grenzüberschreitung in einen Status der Illegalität geraten. Die damit verbundene Entrechtung wirkt sich nicht nur negativ auf die alltäglichen Lebensumstände der betroffenen Menschen wie im Bereich der Gesundheitsversorgung oder im Zugang zum Arbeitsmarkt aus, sondern erzeugt auch einen permanenten Zustand der Angst vor einer möglichen Abschiebung mitten auf dem Territorium der EU (vgl. De Genova 2002; Wilcke 2018) – ein Umstand, der mit dem Bild der unüberwindbaren Festung Europa, zu der sich Migrant*innen niemals Zutritt verschaffen können, unterbelichtet bleibt.

Damit ist drittens bereits angedeutet, dass die Grenze mit der Verbildlichung der Festung als eine räumlich statische Linie assoziiert wird, die ein Territorium markiert und Menschen in dieses vollständig ein- oder von diesem ausschließt. Grenzen sind jedoch nicht entsprechend eines solch klassischen Verständnisses auf die territorialen Ränder von Staaten zu reduzieren (Parker/Vaughan-Williams 2009). Aufbauend auf einem Verständnis, nach welchem Grenzen vielmehr dort zu lokalisieren sind, wo Kontrollen von Mobilität konkret stattfinden, lassen sich ebenso Prozesse der Ver- und Enträumlichung feststellen (Lahav/Guiraudon 2000; Bialasiewicz 2012; Hess 2018). Forscher*innen beobachten diesbezüglich einerseits Prozesse der Externalisierung, indem Kontrollpraktiken in und an Drittstaaten außerhalb Europas ausgelagert werden. Dies zeigt sich etwa aktuell mit Blick auf die Türkei, die den Transit von Migrant*innen nach Griechenland auf Grundlage einer Vereinbarung mit der EU unterbinden soll. Anderseits verschieben sich Grenzzonen bis ins Innere Europas hinein, wenn etwa an Bahnhöfen oder öffentlichen Plätzen polizeiliche Kontrollpraktiken ausgeübt werden oder sozialer und politischer Ausschluss über Staatsbürger*innenschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialgesetzgebung vorgenommen wird. Hinzu kommt, dass die Entkoppelung der Grenzkontrolle vom Territorium durch die Technisierung und Digitalisierung verstärkt wird: Überwachungssysteme wie Eurosur oder die Fingerabdruckdatenback Eurodacermöglichen auf technischer Grundlage Kontrolle über einen breiten Raum hinweg operativ umzusetzen (vgl. Broeders 2007; Dijstelbloem et al. 2011). Demzufolge multiplizieren und diversifizieren sich Grenzen und sind für das bloße Auge häufig kaum noch sichtbar. Die Festungsmetapher verstellt diesen notwendigen Blick auf Grenze als einen ausgedehnten und flexiblen Kontrollraum (vgl. Balibar 2009; Brambilla 2015).

Im Bild der Festung erscheinen Migrant*innen außerdem viertens ausschließlich als passive Opfer, die den Maßnahmen der Grenzkontrolle hilflos ausgeliefert sind und an ihnen gewissermaßen abprallen. Unberücksichtigt bleibt so ihre Handlungsmacht als aktive Akteur*innen. Denn wie die Praktiken der Migrationsbewegungen zeigen, lässt sich Migration nicht vollständig verhindern, sondern findet tagtäglich statt: Migrant*innen umgehen, unterlaufen und überwinden politische Regulierungsversuche immer wieder. Der Migration wohnt somit eine konstitutive Kraft inne, weshalb letztlich auch die staatlichen Kontrollpolitiken stets als Versuche der Entgegnungen und Reaktionen auf die Migrationsbewegungen verstanden werden müssen – und nicht allein andersherum, wie dies zumeist der Fall ist. Jene Faktizität und Macht der Migration betont der Ansatz der „Autonomie der Migration“ (Bojadžijev/Karakayali 2007; Moulier Boutang 2007; Mezzadra 2011). Damit soll keineswegs behauptet werden, dass Migrant*innen vollständig „autonom“, das heißt unabhängig von Mechanismen der Steuerung handeln würden – oder gar das Leid und der Tod von Migrant*innen beschönigt oder ausgeblendet werden. Vielmehr hat der Ansatz einen grundlegenden Perspektivwechsel zum Ziel, indem Grenzziehungen ohne Zweifel als asymmetrische, aber durchaus kontingente gesellschaftliche Aushandlungsprozesse zu begreifen sind, an denen Migrations- und Fluchtbewegungen stets selbst maßgeblich beteiligt sind.

Damit verbunden ist fünftens, dass die grundsätzliche Umkämpftheit von Migrationspolitik im Bild der Festung zu verschwinden droht. Obwohl von einer hegemonialen Vorstellung der notwendigen und legitimen Migrationskontrolle in EUropa zu sprechen ist (vgl. Buckel 2018: 440; Kasparek 2019: 121), sollte das Migrations- und Grenzregime nicht als ein mehr oder weniger monolithischer Abschottungsapparat gedacht werden. Der Begriff des Regimes verweist im Gegensatz dazu auf die permanenten Auseinandersetzungen und Widersprüche zwischen einer Vielzahl an Akteur*innen und die damit verbundenen Veränderungen und Dynamiken der Migrations- und Grenzpolitiken (Hess et al. 2018). So kommen zu der angesprochen Widerständigkeit der Migrant*innen auf den Routen verschiedene solidarische Interventionen von EU-Bürger*innen, Politiker*innen oder sozialen Bewegungen, die ein migrationspolitisches Gegenprojekt zur restriktiven Migrationskontrolle bilden und der Festung Europa nicht ohne Widerspruch entgegenstehen. Auf jene politische Allianzen machen etwa Forschungen im Rahmen des Konzepts der „postmigrantischen Gesellschaft“ (Foroutan 2019) vermehrt aufmerksam. Zudem darf nicht außer Acht gelassen werden, dass wir es auch nicht mit einer einheitlichen EU-Politik zu tun haben. Die Entwicklungen seit der Krise der EU-Migrationspolitik im Jahr 2015 bezeugen, dass zwischen politischen Entscheidungsträger*innen und Institutionen in der EU manifeste Konflikte hinsichtlich der Restabilisierung und Neuausrichtung der europäischen Migrationspolitik herrschen (vgl. u.a. Buckel 2018; Engler 2019). Uneinigkeit besteht dabei weniger in der Frage, ob Migration grundsätzlich gesteuert und kontrolliert werden soll, als vielmehr darin, in welchem Ausmaß dies bis hin zu einer vollständigen Verhinderung geschehen soll und welche EU-Mitgliedsstaaten die (Haupt-)Verantwortung für die Aufnahme von Asylsuchenden zu tragen hätten. Infolgedessen gerieten Reformbemühungen der EU wie die Neuregelung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ins Stocken oder zivilen Seenotrettungsschiffen wurde das Anlanden in Häfen in Italien oder Malta aufgrund der politischen Auseinandersetzungen über die Zuständigkeit für die in Seenot geretteten Menschen tagelang oder mitunter sogar ganz untersagt.

Alternative Verbildlichungen

In Anbetracht dieser Kritik an der Festungsmetapher haben sich einzelne Migrations- und Grenzforscher*innen für alternative Bildvergleiche ausgesprochen. So sprechen beispielsweise Henk van Houtum und Roos Pijpers (2007) von der Europäischen Union als „Gated Community“. Damit vergleichen sie die europäische Migrations- und Grenzpolitik mit dem weltweiten Phänomen der geschlossenen Wohnkomplexe, die insbesondere in urbanen Räumen vielfach zu finden sind. Deren Bewohner*innen werden – wenn auch von konkreter Wohnanlage zu Wohnanlage jeweils stark variierend – allesamt durch unterschiedliche Zugangsbeschränkungen und Sicherheitsvorkehrungen (Mauern, Zäune, Kameras, Wachpersonal etc.) vom Rest der (Stadt-)Gesellschaft physisch und symbolisch abgeschirmt. Ein Vorteil der Analogie besteht daher darin, die vielfältigen und variablen Formen der Migrationskontrolle des europäischen Grenzregimes sichtbar zu machen. Ferner macht der Vergleich möglich, Europas Grenzen nicht auf politisch-institutionelle Entscheidungen zu reduzieren, sondern als Ergebnis gesamtgesellschaftlicher Aushandlungsprozesse zu begreifen. Denn so wie die Wahrnehmung von (Un-)Sicherheit und soziale Abgrenzung der Bewohner*innen von Gated Communities für die Entstehung und Legitimierung der gesicherten Wohnanlagen eine zentrale Rolle spielt, so sind auch die (Zivil-)Gesellschaften Europas stets selbst an der Hervorbringung und Aufrechterhaltung von Grenzen durch sicherheitspolitische Diskurse sowie nationalistische und rassistische Praktiken des Othering wesentlich beteiligt. Gemeinsam ist beiden Phänomenen damit nicht zuletzt auch die Relevanz sozialer Ungleichheit: Während die Bewohner*innen von Gated Communities innerhalb ihres gesellschaftlichen Kontextes für gewöhnlich sozioökonomisch privilegiert sind, ist das EU-Grenzregime vergleichbar dazu als ein Ausdruck globaler sozialer Ungleichheit und eine Form der postkolonialen Herrschaftspraxis anzusehen.

Dennoch weckt auch die Idee der Gated Community weiterhin die unterkomplexe Assoziation einer Grenze als Linie, die einen klar fixierten Raum umschließt. Um mit dieser Container-Vorstellung zu brechen und neueren räumlichen Dynamiken von Grenzkontrolle gerecht zu werden, hat William Walters (2006) den Begriff der „Firewall“ zur Diskussion gestellt. Mit der Analogie aus dem Bereich der Computer- und Informationstechnik lassen sich entlang eines netzwerkartigen und raumübergreifenden Verständnisses migrationsbezogene Grenzpraktiken, die von den Herkunftsländern bis in den Aufnahmegesellschaften hinein miteinander verbunden und wirksam sind, weitaus differenzierter verstehen. Eine klare räumliche Unterscheidung zwischen einem „Innen“ und „Außen“ Europas kann so überwunden und eine bessere Vorstellung einer Deterritorialisierung der Grenze durch digitale Infrastrukturen greifbar gemacht werden. Daneben betont die Metapher der Firewall die Sortierungs- und Hierarchisierungsfunktion von Grenzen. Demnach können Grenzen ähnlich einer Firewall als Instrumente gedacht werden, die darauf abzielen, erwünschte und unerwünschte Zirkulation von Mobilität zu trennen, ohne dass dies aber immer vollständig lückenlos zu gelingen vermag. Letztlich lenkt die Metapher damit auch den Blick auf die Zusammenhänge von Macht und Widerstand: So wie eine Firewall in einem ständigen Spannungsfeld von sicherheitsbezogenen Taktiken und Gegentaktiken technisch zum Einsatz kommt, sind auch im Sinne der Perspektive der Autonomie der Migration und des Regimekonzepts migrantische (Widerstands-)Praktiken und politische Kontrollmechanismen als wechselseitige und immer wieder neu aufeinander bezogene Bestandteile des europäischen Grenzregimes zu fassen. Allerdings ist nicht vollständig auszuschließen, dass mit dem Firewall-Vergleich – anders als beabsichtigt – auch eine legitimierende Wirkung assoziativ einhergeht. Denn während eine Festung gesellschaftlich wohl mehrheitlich als nicht mehr zeitgemäß und legitim eingeschätzt wird, und auch die Metapher der Gated Community ein tendenziell negatives Bild hervorruft, scheint eine Firewall der eigenen Erfahrung am Computer nach, möglicherweise mit der Vorstellung verbunden zu sein, berechtigt und effektiv vor nur tatsächlichen Bedrohungen abzuschirmen.

Nutzen für Wissenschaft und politische Praxis

Welche Schlussfolgerungen können aus der Debatte um die Metapher der Festung Europa gezogen werden? Sollte der Ausdruck besser verworfen werden? Die von mir skizzierten Einwände aus der Migrations- und Grenzforschung legen dies nahe. So verengt die wenn auch in kritischer Absicht verwendete Metapher das Denken und den Diskurs über die europäische Migrations- und Grenzpolitik, indem sie ein unscharfes Bild ihrer Entstehung, Gestalt und Wirkungsweise zeichnet. Dabei verunmöglicht die Analogie aus Sicht der Friedens- und Konfliktforschung vor allem auch eine adäquate Analyse und Kritik an strukturellen Gewaltverhältnissen, die ihren Ausdruck in mangelhaften hygienischen Zuständen in Flüchtlingslagern, im alltäglichen und institutionellen Rassismus in den Transit- und Aufnahmestaaten oder in unzureichenden Bildungsmöglichkeiten für Migrant*innen vor und hinter den Toren der Festung Europa finden. Um jene kontroll- und raumpolitische Vielschichtigkeit und Komplexität des europäischen Migrations- und Grenzregimes kenntlich zu machen, sind Verbildlichungen wie die der Gated Community oder Firewall demzufolge geeigneter als das Sprechen von der Festung Europa.

Gleichwohl hat die notwendige öffentlichkeitswirksame Kritik an europäischer Migrationspolitik an Aktualität nicht verloren. Denn auch die vielfachen Grenzüberschreitungen der Migrationsbewegungen nach und durch EUropa im Jahr 2015 haben nicht zu einer Neuausrichtung der EU-Politik geführt. Im Gegenteil: Seitdem sind vielerorts restriktivere Migrations- und Asylpolitiken sowie deutliche Verschärfungen von Grenzkontrollen beobachtbar – einschließlich des Wieder- und Neuaufbaus physisch-materieller Grenzanlagen, wie etwa der ungarische Zaun an der Grenze zu Serbien und Kroatien exemplarisch zeigt. Mit dem Festungsvergleich gelingt es fraglos, diesen Aspekt der Abschottung und insbesondere Formen direkter Gewalt öffentlich sicht- und kritisierbar zu machen, allen voran die jährlich tausendfachen Todesfälle im Mittelmeer. Dass ebenso die alternativen Begrifflichkeiten aus der Forschung wie beispielsweise die der Gated Community oder Firewall als ein solch kollektiv geteiltes Gegen-Narrativ zur repressiven Grundausrichtung und den neuerlichen Verschärfungen der europäischen Migrationspolitik dienen können, ist dagegen nur schwer vorstellbar. Dazu fehlt ihnen schlicht die rhetorische Durchschlagskraft sowie eine gegenhegemoniale Strategie, die die unterschiedlichen Akteur*innen eint. Wenn dann gelingt dies noch eher bildhaften Slogans wie „Fähren statt Frontex“ oder „Seebrücke“, mit denen die konkrete politische Forderung nach einer Schaffung von sicheren Fluchtwegen und legalen Einwanderungsmöglichkeiten verbunden ist.

Während sich also die Festungsmetapher aufgrund ihrer inhaltlichen Leerstellen und Vereinfachungen als analytisch nur bedingt nützlich erweist, besitzt sie dafür großes politisch-praktisches Potential, um Aufmerksamkeit auf die aus normativer Sicht problematische Ausrichtung und menschenunwürdigen Folgen der EU-Migrationspolitik zu richten. Im Falle des Gated Community- und Firewall-Vergleichs ist dies genau umgekehrt: Sie sind analytisch präziser, scheinen allerdings weniger geeignet, öffentliches Mobilisierungspotential zu entfalten. Daher wird die Metapher der Festung Europa vermutlich auch zukünftig ein wichtiger Referenzpunkt im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Protest gegen die europäische Abschottungspolitik bleiben. Eine beständige Reflexion des Ausdrucks und die Suche nach neuen geeigneten Sprachbildern sollten dabei indes nicht ausbleiben.

Literatur

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Fußnoten:

[1] https://missingmigrants.iom.int/region/mediterranean

Verfasser des Beitrages: David Niebauer

Zuletzt überarbeitet: 20.03.2020