Raum

von Gerdis Wischnath und Miriam Emefa Dzah 

Der Begriff vom ‚Raum‘ ist für Geograph*innen Kern ihrer wissenschaftlichen Identität und zentrales Konzept in geographischem Denken und Forschen. Auch in den Sozial- und Kulturwissenschaften spielen Aspekte der Raumbezogenheit von Gesellschaft, Politik und Kultur für viele Fragen eine wichtige Rolle. Was allerdings ‚Räume‘ ausmacht, wie wir sie begreifen und beschreiben können, bleibt dabei, wie so oft in der Wissenschaft, umstritten. Der folgende Beitrag greift die unterschiedlichen theoretischen Ansätze in ihren Komplexitäten und ihren Zusammenhängen auf, diskutiert grundlegende Deutungen und widersprüchliche Begriffsverständnisse und will so anregen, sich intensiver mit den politischen Dimensionen von Raum auseinanderzusetzen.

Ganz grundsätzlich lässt sich in der Debatte um den Raumbegriff zunächst zwischen absoluten und relativistischen Raumverständnissen unterscheiden. Absolute Vorstellungen sind dabei häufig Alltagsverständnisse von Räumen, in denen verschiedene Territorien oder Gebiete quasi nebeneinander existieren und nur durch – mehr oder weniger durchlässige – Linien voneinander getrennt sind, wie etwa verschieden farblich markierte Länder und Regionen auf einem Globus (Freytag 2014, Schetter 2017). Durch diese Begrenzung entsteht die Vorstellung von Räumen als Behälter, denen ein bestimmter gesellschaftlicher, politischer, kultureller oder naturräumlicher Inhalt zugeschrieben wird. Diese Vorstellung einer territorialen Organisation von Welt und Gesellschaften wird auch als ‚Denken in Container-Räumen‘ bezeichnet (Taylor 1993) und liegt häufig geographischen Länderkunden (Hettner 1927), kartographischen Darstellungen von Regionen (kritisch: Mose/Strüver 2012; Namberger et al. 2018), aber auch klassischen Theorien der Internationalen Beziehungen (Waltz 1959, Keohane 1984) zugrunde. In der Friedens-und Konfliktforschung dominiert ein solches Raumverständnis insbesondere die Forschungsansätze der quantitativen Kriegsursachenforschung (Collier/Sambanis 2005a,b; Gleditsch et al. 2002), die auf Basis von Länderdaten Kriege und Konflikte vergleichend erforschen. Der Geograph John Agnew kritisierte dieses absolute Raumverständnis mit Hilfe des Begriffes vom ‚territorial trap‘ (Agnew 1994). Damit weist er auf die Problematik hin, dass in einer solchen ‚Container‘-Vorstellung von Räumen Nationalstaaten und Grenzen als vermeintlich ‚natürliche‘ bzw. gegebene Tatsachen erachtet werden. Dabei wird übersehen, dass Nationalstaaten durch Grenzziehungsprozesse erst entstehen. Die Vorstellung von Raum als Behälter führt auch dazu, dass über Menschen, die in bestimmten (Container-)Räumen leben, als homogene Gruppe mit spezifischen Eigenschaften oder Einstellungen gedacht wird und so eine vermeintliche, ‚naturalistische‘ Verbindung zwischen Territorium und Bevölkerung zu Grunde gelegt wird, die vorschnell kollektiv klassifiziert – und urteilt (Agnew 1994).

Im Zuge des sog. ‚spatial turns‘ in Sozial- und Kulturwissenschaften rückten seit den 1990er Jahren stärker die Interpretationen und Handlungen von Individuen in der ‚Schaffung‘ von Räumen in den Mittelpunkt. In Abgrenzung zum oben skizzierten absolutistischen Raumverständnis setzte sich zumindest in der Humangeographie ein relativistisches Verständnis durch, das den menschlichen Einfluss auf die Konstruktion von Räumen in den Fokus nimmt. Raum ist in diesem Verständnis gesellschaftlich, durch soziale Interaktion geschaffen und sowohl Ergebnis als auch Voraussetzung sozialen und politischen Handelns. In dieser Lesart sind Räume immer gesellschaftlich hergestellt, in Machtverhältnisse eingewoben und immer politisch (Massey 2005). Auf diskursiver Ebene werden Räume immer wieder aus Kommunikation und imaginierten Konstruktionsprozessen machtvoll hergestellt. Derek Gregory (1994, 1995) bezeichnet solche machtvollen Vorstellungen von Räumen auch als ‚geographical imaginations‘, denen immer auch bestimmte Bedeutungszuschreibungen und Bewertungen über bestimmte Regionen, Länder, Gebiete und ihre Bewohner*innen innewohnen. Diskursive Ansätze nehmen eben diese Prozesse, bei denen räumliche Grenzen gezogen und Identitäten konstruiert werden, in den Fokus und öffnen den Blick auf die Verknüpfung von räumlichen („hier/dort“) mit sozialen Differenzierungen („wir/die anderen“). Dabei steht im Zentrum der Kritik, dass über räumliche Homogenisierungen komplexe und widersprüchliche soziale Realitäten verkürzt werden und sich Feind*innenbilder etablieren und verfestigen. Mit der Perspektive, dass Räume und Territorialisierungen in der Welt nicht gegeben sind, sondern hergestellt werden, lässt sich aufzeigen, dass Grenzziehungen und räumliche Zuschreibungen nie wertneutral sind, sondern vielmehr von Machtbeziehungen geprägt werden (Glasze/Mattissek 2012). Nicht zu vernachlässigen ist aus diskursanalytischer Raumperspektive die Bedeutung vermeintlich objektiver kartographischer Darstellungen für die Konstruktion sowohl von Ein- und Ausschlüssen, als aber auch von homogenisierenden räumlichen Zuschreibung. In der ‚klassischen‘ Friedens- und Konfliktforschung lässt sich in kartographischen Darstellungen von Konfliktregionen durch eine diskursive Lesart insbesondere die Kontinuität einer machtvollen Repräsentationen von Krieg und Frieden in einem dualistischen (friedlichen) Hier vs. einem (gewalttätigen) Dort aufzeigen. Diese immer wiederkehrende kartographische Repräsentation reduziert komplexe und widersprüchliche globale Konfliktrealitäten innerhalb des hegemonialen Interpretationsmuster auf eine Deutung von Nord vs. Süd und verortet Konfliktgeschehen visuell simplifizierend allein im ‚globalen Süden‘ (Namberger et al. 2017).

Gregorys Überlegungen zur Wirkmächtigkeit von Raumvorstellungen gehen zurück auf den postkolonialen Literaturwissenschaftler Edward Said, der in seinem Hauptwerk ‚Orientalism‘ aufzeigt, wie der ‚Orient‘ als Konstrukt einer eurozentristisch-kolonialistischen Vorstellung zu verstehen ist, das diskursiv machtvoll das ‚hier‘ vom ‚dort‘ und ein europäisches ‚Wir‘ von den ‚Anderen‘ trennt (Said 1978). Auch andere postkoloniale Theoretiker*innen zeigen, dass die Konstruktion von Räumen immer einhergeht mit der Ziehung von Grenzen und somit mit der Konstruktion von Identitäten mithilfe entsprechender Ein- bzw. Ausschlüsse (Beebe et al., 2012; Lossau 2013). Diverse postkoloniale Analysen benutzen räumliche Metaphern, um auf Machtungleichheiten hinzuweisen und Marginalität eine räumliche Dimension zu verleihen. So bezieht sich Walter D. Mignolo (2000) beispielsweise auf „border thinking“, bell hooks (1990) beschreibt „the margin“ als einen Ort mit radikalem Innovationspotential und Homi K. Bhabha (1990) konzipiert einen „Third Space“, der aus kultureller Hybridität entsteht; um nur einige theoretische Ansätze beispielhaft zu nennen.

Auch für feministische Analysen ist die Bezugnahme auf Räume relevant. So zeigen feministische Geographinnen die Interdependenzen zwischen gesellschaftlichen Räumlichkeiten und Geschlechterverhältnissen auf. Dabei liegt der Fokus insbesondere auf den Verhältnissen zwischen gesellschaftlichen Prozessen, der Bedeutung von Raumkonstruktionen für geschlechtliche Identitäten sowie auf Fragen zur Aufrechterhaltung geschlechtlicher Ungleichheitsverhältnisse im Raum (Massey 1994; Bauriedl, Schier/ Strüver, 2010). Aus feministischer Raumperspektive stellt sich auch die Frage nach der Konstruktion von Räumen (z.B. häuslichen Sphären oder Arbeitsräumen) entsprechend von Wahrnehmungsmustern, die Räume als vermeintlich ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ ordnen. Unter einer solchen Perspektive wird auch untersucht, wie diese Raumkonstruktionen vergeschlechtlichte Machtverhältnisse verfestigen (Beebe et al. 2012, Wastl-Walter 2010). Feministische Kartographinnen zeigen außerdem auf, dass den Darstellungen von Räumen in Karten, die eine vermeintliche Objektivität suggerieren, häufig ein männlich-dominierter, entkörperlichter Blick auf die Welt zugrunde liegt. Donna Haraway bezeichnet diese machtvolle androzentrische Raumproduktion als den ‚god trick of seeing everything from nowhere‘ (ebd. 1988: 581), dem feministische Perspektiven eine situierte Sichtweise, welche die eigene Subjektposition reflektiert, entgegenstellen (Elwood 2008; Kwan 2002: 648-649)

Viele geographische Denkanstöße im Kontext des oben genannten „spatial turns“ gehen auf den Philosophen Henri Lefebvre (1974) zurück: In seinem Werk ‚La production de l‘espace‘ („Die Produktion des Raums“) (1974) entwickelte der überzeugte Marxist ein dreigeteiltes Raumkonzept: Er unterscheidet zwischen (1) räumlicher Praxis, (2) Raumrepräsentationen und (3) Repräsentationsräumen. Die räumliche Praxis bezieht sich in seinem Konzept auf die materielle Welt, wie wir sie physisch erleben; Raumrepräsentation beschreiben Räume, wie sie gedanklich konzipiert und symbolisch dargestellt werden; und Repräsentationsräume stellen den gelebten Raum dar. Lefebvre setzt dabei eine ineinandergreifende Beziehung der drei Raumbegriffe voraus, aus der heraus Raum weder als eine objektiv greifbare Realität noch als ein rein gedankliches Konstrukt begreifbar ist. Raum ist vielmehr Resultat und Mittel sozialer Praxis: „der (soziale) Raum ist ein (soziales) Produkt“ – so der vielzitierte Kerngedanke Lefebvres. Anlehnend an Lefebvre werden in der deutschsprachigen Geographie Raumverständnisse im Rahmen einer materialistischen Theorietradition insbesondere durch Bernd Belina diskutiert. In der Begründung für die Notwendigkeit eines historisch-geographischen Materialismus distanziert sich Belina von der Auffassung, dass ein physisch-materieller Raum von außen auf Gesellschaft einwirkt. Denn obwohl die Kategorie Raum gesellschaftliche Phänomene nicht ursächlich erklärt, ist der physisch-materielle Raum doch relevant und zwar „in der praktischen Aneignung der physischen Materie“ (Belina 2013: 41). Mit genau diesem Argument werden in marxistischen Debatten um Raum auch Ansätze abgelehnt, die Raum (vereinfacht) als Diskurs oder Imagination begreifen.

Die hier skizzierten Grundzüge der Debatten um den Begriff des Raums in der Geographie und den Sozialwissenschaften mögen aufzeigen, wie widersprüchlich ein vermeintliches Alltagskonzept in der Wissenschaft nutzbar ist und wie es unsere Deutungen gesellschaftlicher Prozesse aus verschiedenen epistemologischen Herangehensweisen heraus ganz unterschiedlich leiten kann. Die unabdingbare Reflexion über die (Be)Deutung umkämpfter Begriffe, wird in der Historie um den Begriff des Raums und seiner Aneignung katastrophal deutlich: die Nutzung geodeterministischer Raumkonzepte wurde sowohl zur Legitimation für die gewaltvollen imperialistischen Bestrebungen des deutschen Kaiserreiches, als auch als Grundlage für die rassistische Blut- und Boden Ideologie der Nationalsozialist/innen im Dritten Reich genutzt (Lossau 2013; Schultz 2013). Abschließend bleibt in diesem Sinne der Appell, bei der Nutzung von Raumbegriffen, im Blick zu behalten, dass die Produktion und Konstruktion von Räumen eng mit hegemonialen Macht- und Ideologieverhältnissen verknüpft ist, die immer auch für politische Zwecke nutzbar sind.

Literatur

Agnew, John 1994: The Territorial Trap. The Geographical Assumptions of International Relations Theory, in: Review of International Political Economy 1: 1, 53-80.

Bauriedl, Sybille/Schier, Michaela/Strüver, Anke 2010: Geschlechterverhältnisse, Raumstrukturen, Ortsbeziehungen. Erkundungen von Vielfalt und Differenz im spatial turn, Forum Frauen- und Geschlechterforschung, Bd. 27, Münster.

Beebe, Kathryne/Davis, Angela/Gleadle, Kathryn 2012: Introduction: Space, Place and Gendered Identities: feminist history and the spatial turn, in: Women’s History Review 21:4, 523-532.

Belina, Bernd 2013: Raum. Zu den Grundlagen eines historisch-geographischen Materialismus, Münster.

Bhabha, Homi K. 1990: The Third Space, in: Rutherford, Jonathan (Hrsg.): Identity, Community, Culture, Difference, London, 207-22.

Collier, Paul/Sambanis, Nicholas 2005a: Understanding Civil War: Evidence and Analysis, Volume 1. Africa. Washington, DC.

Collier, Paul/Sambanis, Nicholas 2005b: Understanding Civil War: Evidence and Analysis, Volume 2. Europe, Central Asia, and Other Regions. Washington, DC.

Elwood, Sarah 2008: Volunteered Geographic Information. Future Research Directions Motivated by Critical, Participatory, and Feminist GIS, in: GeoJournal 72: 3, 173-183.

Freytag, Tim 2014: Raum und Gesellschaft, in: Lossau, Julia/Freytag, Tim/Lippuner, Roland (Hrsg): Schlüsselbegriffe der Kultur- und Sozialgeographie, Stuttgart, 12-24.

Glasze, Georg/Mattissek, Annika 2012: Handbuch Diskurs und Raum. Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung, Bielefeld.

Gleditsch, Nils Petter/Wallensteen, Peter/Eriksson, Mikael/ Sollenberg, Margareta/ Strand, Håvard 2002: Armed Conflict 1946–2001: A New Dataset, in: Journal of Peace Research 39:5, 615-637.

Gregory, Derek 1994: Geographical Imaginations, Oxford.

Gregory, Derek 1995: Imaginative Geographies, in: Progress in Human Geography 19: 4, 447-485.

Haraway, Donna 1988: Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective, in: Feminist Studies 14: 3, 575-599.

Hettner, Alfred 1927: Die Geographie. Ihre Geschichte, ihr Wesen und ihre Methoden, Breslau.

hooks, bell 1990: Yearning: Race, Gender, and Cultural Politics, Boston

Keohane, Robert O. 1984: After Hegemony, Princeton, NJ.

Kwan, Mei-Po 2002: Feminist Visualization. Re-Envisioning GIS as a Method in Feminist Geographic Research, in: Annals of the Association of American Geographers 92: 4, 645-661.

Lefebvre, Henri 1974: La production de l’espace. Éditions Anthropos. Paris,

Lossau, Julia 2013: Politische Geographie und postkoloniale Theorie. Territorien, Identitäten, Verflechtungen, in: Belina, Bernd (Hrsg.): Staat und Raum, Münster, 95-108.

Namberger, Fabian/Wischnath, Gerdis/Chojnacki, Sven 2018: Kartographien der Gewalt. Postkoloniale Blicke auf die (De-)Konstruktion von Raum in Forschung und Praxis, in: Cordula Dittmer (Hrsg.): Dekoloniale und Postkoloniale Perspektiven in der Friedens- und Konfliktforschung, Baden-Baden, 183-221.

Massey, Doreen 1994: Space, Place and Gender, Cambridge.

Mose, Jörg/Strüver, Anke 2012: Diskursivität von Karten – Karten im Diskurs, in: Glasze, Georg/Mattissek, Annika (Hrsg.): Handbuch Diskurs und Raum. Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung, 2. Auflage, Bielefeld, 315-325.

Mignolo, Walter. D. 2000: Local Histories/Global Designs. Coloniality, subaltern knowledges, and border thinking, Princeton.

Said, Edward 1978: Orientalism, New York, NY.

Schetter, Conrad 2017: Raum, in: Bonner Enzyklopädie der Globalität, Wiesbaden, 719-733.

Schultz, Hans-Dietrich 2013: »Raumfragen beherrschen alle Geschichte«. Macht und Raum im Denken der klassischen Geographie, in: Belina, Bernd (Hrsg.): Staat und Raum (Staatsdiskurse 26), Stuttgart, 15-35.

Taylor, Peter, J. 1994: The state as container: territoriality in the modern-world system, in: Progress in Human Geography 18: 2, 151-162.

Waltz, Kenneth E. 1959: Man, The State and War, New York.

Wastl-Walter, Doris 2010. Gender Geographien. Geschlecht und Raum als soziale Konstruktionen. Sozialgeographie kompakt, Bd. 2, Stuttgart.

Zuletzt überarbeitet: 21.08.2020