Migrationshintergrund
Der Begriff „Migrationshintergrund“ ist in erster Linie eine Kategorie der amtlichen Statistik in Deutschland. Erhoben wird die Kategorie seit dem Mikrozensus 2005, einer jährlich vom Statistischen Bundesamt durchgeführten stichprobenartigen Befragung der Bevölkerung zur wirtschaftlichen und sozialen Lage des Landes. Der Ausdruck hat darüber hinaus Eingang in den politischen und medialen Diskurs sowie den allgemeinen Sprachgebrauch gefunden. Die Bevölkerung mit „Migrationshintergrund“ umfasst dem Statistischen Bundesamt zufolge „alle Personen, die die deutsche Staatsbürgerschaft nicht durch Geburt besitzen oder mindestens einen Elternteil haben, auf den dies zutrifft“ (Statistisches Bundesamt 2019). Darunter fallen alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten, alle in Deutschland geborenen „Ausländer*innen“ sowie alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem nach 1949 zugewanderten oder als „Ausländer*in“ in Deutschland geborenen Elternteil (Statistisches Bundesamt 2019). Allerdings werden dabei die Vertriebenen des Zweiten Weltkriegs und ihre Nachkommen explizit nicht zu der Bevölkerung mit „Migrationshintergrund“ gezählt. Ebenfalls nicht dazu gezählt werden Personen, die zwar im Ausland geboren sind, deren beide Eltern jedoch keinen „Migrationshintergrund“ haben. Beim Zensus 2011 wurde der zeitliche Beginn der statistischen Erfassung von 1949 auf 1955 verschoben, sodass einerseits viele Menschen, die im Zuge der politischen Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg in das Bundesgebiet migrierten, nicht mehr zur Bevölkerung mit „Migrationshintergrund“ gezählt wurden, während andererseits die Erfassung der Bevölkerung mit „Migrationshintergrund“ direkt im Jahr des ersten Anwerbeabkommens der Bundesrepublik mit Italien einsetzt.
Letzteres legt nahe, dass die Kategorie nicht primär der Erfassung von in Deutschland lebenden Personen, die selbst oder deren Eltern Migrationserfahrung haben, dient. Vielmehr versucht er jene Personen zu erfassen, die nicht bloß durch Staatsangehörigkeit, sondern durch „ethnische“, „kulturelle“ und rassifizierte Kriterien als Personen gelten, die nicht ausschließlich „deutsche Wurzeln“ haben (vgl. Scarvaglieri/Zech 2013: 205). Bezeichnend ist, dass der „Migrationshintergrund“ bei statistischen Erhebungen aus den Angaben der befragten Personen abgeleitet und ihnen somit zugeschrieben wird. Die Möglichkeit, sich selbst als Person mit oder ohne „Migrationshintergrund“ zu identifizieren, ist bei diesen amtlichen Erhebungen nicht gegeben. Eine derartige Klassifizierung konstruiert und konstituiert damit also erst die Gruppen, die sie zu beschreiben vorgibt (vgl. Brubaker 2009: 33). Ferner haben Elrick und Schwartzman festgestellt, dass im politischen Diskurs in Deutschland die unterschiedliche Migrationsbezüge umfassende statistische Kategorie „Migrationshintergrund“ in eine homogenisierte soziale Kategorie transformiert wird. Dies führt zu einer Ethnisierung von Personen mit „Migrationshintergrund“ und somit zu deren Ausschluss aus der national imaginierten Gemeinschaft, selbst wenn diese im rechtlichen Sinne Staatsbürger*innen sind (Elrick/Schwartzman 2015: 1540).
Aus einer rassismuskritischen Perspektive gilt es daher hervorzuheben, dass der Begriff nicht nur Menschen sogenannter „deutscher Volkszugehörigkeit“ (siehe Grundgesetz, Art. 116) mit tatsächlicher Migrationserfahrung und deren Nachfahr*innen ausklammert, sondern im politischen Diskurs und als Alltagsbegriff meist als weiß gelesene Menschen generell nicht einbezieht. Damit ist der Begriff ein wesentlich rassifizierter und dient der Homogenisierung und Markierung eines Teils der Bevölkerung als „Fremde“ und schreibt so zum Beispiel Schwarzen Deutschen tendenziell eine Erfahrung der Migration und damit einhergehende Fremdheit zur hiesigen Bevölkerung und Kultur zu. Folglich ist der Begriff „Migrationshintergrund“ seinem Zweck und seiner Verwendung nach wesentlich mit Prozessen des Othering verbunden.
Die Kategorisierung von Teilen der Bevölkerung als Menschen mit „Migrationshintergrund“ dient dabei zumeist der Problematisierung eben dieser Bevölkerungsgruppen. Der „Migrationshintergrund“ erscheint als sicherheits-, bildungs-, wirtschafts- oder gesundheitspolitische Bedrohung und Herausforderung für die „deutsche Gesellschaft“. Dies zeigen unter anderem Arbeiten der Linguistik. So kommen Scarvaglieri und Zech in einer funktional-semantischen Analyse des Begriffs zu folgendem Befund: „‚Migrationshintergrund‘ ruft Wissen über Menschen auf, die ‚förderbedürftig‘, ‚benachteiligt‘ und ‚nicht ausreichend integriert‘ sind und die die Gesellschaft aus diesen Gründen vor Probleme stellen“ (Scarvaglieri/Zech 2013: 223).
Diese Wahrnehmung von „Migrationshintergrund“ als Herausforderung und Bedrohung spiegelt sich in den politischen Debatten und medialen Darstellungen, insbesondere zur vermeintlichen „Kriminalität von Ausländer*innen“ wider. Der Deutsche Presserat hat seine diesbezügliche Richtlinie zur Berichterstattung über Straftaten im Jahr 2017 geändert: Während diese bis dato die „Erwähnung der Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu ethnischen, religiösen oder anderen Minderheiten“ nur im Falle eines „begründeten Sachbezugs“ vorsah, wird dies nun schon im Falle eines „begründeten öffentlichen Interesses“ gefordert (Deutscher Presserat 2017). Die Nennung der „ethnischen Herkunft“ von Täter*innen in der Berichterstattung über Straftaten ist dabei weiterhin höchst umstritten und es stellt sich die Frage, ob Menschen mit „Migrationshintergrund“ hierbei überrepräsentiert werden, was zu einer verstärkten Diskriminierung dieser Gruppen führen kann. So zeigen etwa Hestermann und Hoven in einer Untersuchung kriminalitätsbezogener Pressemitteilungen der AfD, wie diese , „[…] durch die Fokussierung auf Zuwanderer als Täter, gravierende Delikte und besonders bedrohliche Tatmittel, durch Verallgemeinerungen, einseitige Schuldzuweisungen und sprachliche Dramatisierung […] überzogene Kriminalitätsängste und Vorbehalte gegenüber dem aus Sicht der AfD schwachen Staat [schürt]“ (Hestermann/Hoven 2019: 137-138). In der polizeilichen Kriminalstatistik wird hingegen weiterhin zwischen Straftaten von „Deutschen“ und „Nichtdeutschen“ unterschieden (vgl. FragDenStaat 2019). Zudem gibt das Bundeskriminalamt seit 2015 jährlich den Lagebericht „Kriminalität im Kontext von Zuwanderung“ heraus, in der die Auswirkungen der Einreise von Asylsuchenden auf die Kriminalität im Land untersucht wird (Bundeskriminalamt 2019).
Von Seiten der kritischen Bildungs- und Erziehungswissenschaft wird kritisiert, dass der Begriff „Migrationshintergrund“ dazu dient, strukturelle Probleme des Bildungswesens zu verdecken und stattdessen individualisierende Ursachen für die vermeintliche „Bildungsschwäche“ jener Kinder in den Vordergrund zu rücken (Stošić 2017: 16). Der Begriff wird demnach dazu genutzt, die strukturellen Problemursachen in intrinsischen Eigenschaften der problematisierten Personen(gruppen) zu suchen (Stošić 2017: 280).
Gegen diese Kritiken kann jedoch eingewendet werden, dass der Begriff eine grundlegende Ambivalenz aufweist. Für (post-)migrantische Praktiken kann die Quantifizierung der Bevölkerung „nicht-deutscher Herkunft“ anhand des Begriffs ein wichtiges Mittel sein, um beispielsweise die gesellschaftliche und kulturelle Diversität geltend zu machen und Missstände, wie die Unterrepräsentation von Menschen mit „Migrationshintergrund“ in wichtigen gesellschaftlichen Machtpositionen (z.B. im Bundestag, in Unternehmen, in Medien), aufzuzeigen. Auch alternative Selbstbezeichnungen und Identifizierungen, beispielsweise als Person mit „Migrationsgeschichte“ oder „Migrationserfahrung“ sollten bezüglich ihres selbstermächtigenden Potenzials nicht unterschätzt werden.
Literatur:
Brubaker, Rogers 2009: Ethnicity, Race, and Nationalism. in: Annual Review of Sociology 35, 21-42.
Bundeskriminalamt 2019: Kernaussagen „Kriminalität im Kontext von Zuwanderung“ (Betrachtungszeitraum: 01.01. – 31.03.2019), in: https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/JahresberichteUndLagebilder/KriminalitaetImKontextVonZuwanderung/kernaussagenZuKriminalitaetImKontextVonZuwanderungIQuartal2019.html;jsessionid=A9E7B25C438A02AC99228FEAA4AE8C5E.live0611?nn=62336; 25.01.2020.
Deutscher Presserat 2017: Publizistische Grundsätze (Pressekodex). Richtlinien für die publizistische Arbeit nach Empfehlungen des Deutschen Presserats, in: https://www.presserat.de/pressekodex.html; 25.01.2020.
Elrick, Jennifer/Schwartzman, Luisa F. 2015: From Statistical Category to Social Category: Organized Politics and Official Categorizations of ‘Persons with a Migration Background’, in: Germany, Ethnic and Racial Studies 38: 9, 1539-1556.
FragDenStaat 2019: Kriminalität von Deutschen mit Migrationshintergrund, in: https://fragdenstaat.de/anfrage/kriminalitat-von-deutschen-mit-migrationshintergrund/; 25.01.2020.
Hestermann, Thomas/Hoven, Elisa 2019: Kriminalität in Deutschland im Spiegel von Pressemitteilungen der Alternative für Deutschland (AfD), in: KriPoz. Kriminalpolitische Zeitschrift 4: 3, 127-139.
Scarvaglieri, Claudio/Zech, Claudia 2013: „Ganz normale Jugendliche, allerdings meist mit Migrationshintergrund“. Eine funktional-semantische Analyse von „Migrationshintergrund“, in: Zeitschrift für angewandte Linguistik 58: 1, 201-227.
Statistisches Bundesamt 2019: Migration und Integration. Personen mit Migrationshintergrund, in: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migration-Integration/Methoden/migrationshintergrund.html; 25.01.2020.
Stošić, Patricia, 2017: Kinder mit Migrationshintergrund. Zur Medialisierung eines Bildungsproblems, Wiesbaden.
Autor*innen: Sambojang Ceesay, Evgeni Aleksandrov
Zuletzt überbearbeitet: 02.03.2020