Koloniale Gewalt

nach Frantz Fanon

Auch wenn formeller Kolonialismus heute kaum mehr existiert, bleiben Mechanismen, die im Zuge dieser gewaltsamen Unterdrückung und Ausbeutung von Menschen und Gebieten entstanden sind, weiterhin wirkmächtig. In diesem Lichte muss die Arbeit des französischen Psychiaters und postkolonialen Theoretikers Frantz Fanon (1925-1961) betrachtet werden: Auch wenn seine Überlegungen zu kolonialer Gewalt von den Verhältnissen der Kolonialherrschaft ausgehen, haben die beschriebenen Zusammenhänge kaum an Aktualität verloren. Fanon beschreibt in seiner als Hauptwerk geltenden Schrift „Die Verdammten dieser Erde“(1981) die von Gewalt geprägten Wechselbeziehungen zwischen Kolonialismus, der kolonialen Subjektbildung und dem Befreiungskampf der Kolonisierten (Kerner 2015: 302). Mit seinen Werken macht er die Auswirkungen von Gewaltstrukturen sichtbar, die sich in der aktuellen Zeit etwa in der Entfremdung marginalisierter Bevölkerungsgruppen äußern. Damit hat Fanon eine wichtige Grundlage für heutige postkolonialen Studien und Gewaltforschung gelegt.

Im Kontext der Kolonialzeit äußerte sich Gewalt vor allem durch direkte physische Gewalt gegen die Kolonialisierten, etwa in Form von drakonischen Strafen, die bis zur Vernichtung gesamter Bevölkerungsgruppen führen konnten. Dies diente der Legitimation und Aufrechterhaltung kolonialer Herrschaftsbeziehungen (Mann 2004: 118f.). Im Kontrast zu dieser auf physische Gewalt beschränkten Perspektive umfasst Fanons Gewaltbegriff auch strukturelle und psychische Gewalt. So sei die Gewalt, die gegen das kolonisierte Subjekt ausgeübt wurde, auch im Denken der Kolonialisierten und der Struktur der Gesellschaft fest verankert. Laut Fanon resultiert diese strukturelle Durchsetzung der Gesellschaft mit Gewalt in einer Klasseneinteilung, in welcher sich Lebenswelten des Kolonialherren und des kolonialisierten Subjekts konträr gegenüberstehen. (Fanon 1981: 29).  Dem kolonialisierten Subjekt stehen dabei begrenzte Aufstiegsmöglichkeiten zur Verfügung, sobald es die Überlegenheit des Kolonialherren anerkennt und sich dessen Kultur und Denkstruktur unterordnet (Fanon 1981:38).

Die einzige Möglichkeit, sich zu dekolonisieren und damit der einzige Ausweg aus den Herrschaftsmechanismen des Kolonialsystem sah Fanon darin, dass die Kolonisierten die Gewalt, die durch die Kolonisator*innen ausgeübt wurde, für sich beanspruchen sollten, um sich mit Gegengewaltdaraus zu lösen (Fanon 1981: 31). Dabei bemerkte er allerdings auch, dass die Notwendigkeit von Gewalt auch innerhalb der Lebenswelt des kolonialisierten Subjekts verschieden gedeutet wurde. Die städtische Arbeiterklasse, repräsentiert durch politische Parteien, benutze zwar Worte der Gewalt, um mehr Macht zu fordern, strebe jedoch nach keinem Umsturz des Systems, da sie indirekt von diesem profitieren, beispielsweise durch Lohn. Die Koloniale Elite predige Gewaltlosigkeit als Mittel des Widerstands, da sie in indirekter Weise von der Ausbeutung der Schwächeren profitierten. Für die Bauernschaft hingegen blieb nur die direkte Gewalt als Widerstand, da sie nichts zu verlieren hatten und ihre Interessen weder von der intellektuellen Elite noch von der neuen, seiner Meinung nach aristokratischen Arbeiterklasse, berücksichtigt wurden (Fanon 1981:46-48).

Einer der Hauptkritikpunkte an Fanon ist, dass er ein totalitäres Gewaltverständnis habe, oftmals wurde er als „Theoretiker der Gewalt und Revolution“ (Kerner 2015: 303)“ interpretiert. Dies war vor allem dem Vorwort Jean-Paul Sartres in „Die Verdammten dieser Erde“ geschuldet, welches sich hauptsächlich der im antikolonialen Kampf eingesetzten Gewalt widmete, obwohl Fanon diesem Thema nur eins der fünf Kapitel seines Werkes vollständig widmet. Herfried Münkler dagegen kritisiert, dass Fanon das Herrschaftssystem von Kolonialist*innen und Kolonialisierten schlichtweg umzudrehen versuche (Kerner 2015:303-304). Hierbei berief er sich auf eine Passage in Fanons Werk, die lautet: „Nicht ein Kolonialherr werden, sondern den Platz des Kolonialherren einnehmen“ (Fanon: 40). Laut Andreas Eckert wurde Fanon hier seine eigene Kategorisierung einer zweigeteilten Welt zum Verhängnis. Indem er Gewalt als das letzte und einzige Mittel der Bauernschaft ansah, sprach er ihnen die Kompetenz ab, sich über Gewalt hinaus gegen Missstände aufzulehnen und nahm damit die gleiche Reduzierung der Gewalt auf eine soziale Eigenschaft vor, die er den Kolonialherren vorwarf (Eckert 2006:174).

Fanon unterscheidet jedoch strikt zwischen der kolonialen Gewalt, welche ideologischer Natur sei und der Gewalt der Kolonialisierten, die einen emanzipatorischen Charakter habe. Für ihn ist sie reaktionären Charakters und kommt einem Selbsterhaltungstrieb gleich. Gleichzeitig ist ihm dabei bewusst, dass der Kolonialisierte mit seiner Entscheidung zu Gegengewalt drohe, in eine andauernde Spirale der Wechselseitigkeit zu sinken. Für ihn bezieht sich die Ausübung jedoch auf die Extremsituation, also den Moment der Revolution, in der es darum geht das einseitige Sterben der Kolonialisierten zu verhindern. Somit sei sie ein Mittel, an dessen Ende die Freiheit stehe. Das Lebensbejahende Moment verleihe ihr, so Mbembe, die ethische Dimension, die der kolonialen Gewalt nicht innewohne (Mbembe 2014: 303-306).

Für Eckert leiste Fanon heutzutage, neben seiner Bedeutung als Klassiker, aufgrund seiner problematischen Kategorisierungen keinen differenzierten Beitrag zu einer Analyse der postkolonialen Gesellschaft mehr (Eckert 2006:173-174). Im Postkolonialen Diskurs schaffte es vor allem Spivak in ihrem Aufsatz „Can the Subalterns speak?“ mit dem Begriff der epistemischen Gewalt, das Verhältnis von Wissen und Gewalt im kolonialen Kontext zu analysieren, ohne dabei verschiedene Ungleichheitsfaktoren wie Klasse, „Rasse“ oder Geschlecht (alternativ: class, race, gender) und deren Zusammenhänge außenvorzulassen (Brunner 2020: 98-99). Fanons koloniales Gewaltverständnis hat heutzutage aufgrund fehlender Berücksichtigung verschiedener Ungleichheitsstrukturen massiv an Aktualität eingebüßt. Sein emanzipatorisches Verständnis von einer das koloniale Subjekt befreienden Gewalt lässt neben diesem wenig Raum für andere Möglichkeiten der Emanzipation und trotzdem steckt hinter seinen Überlegungen mehr als der reine Gedanke der Gewalt um ihrer selbst willen. Doch auch wenn man Fanons revolutionären Grundgedanken nicht teilt, lieferte er mit seinen Überlegungen zu kolonialer Gewalt einen wichtigen Beitrag: Durch die Einsicht, dass koloniale Gewalt weit über die physische Komponente hinausgeht, erwächst auch aus der Selbsterkenntnis der Kolonisierten emanzipatorisches Potential.

 Literatur

Brunner, Claudia (2020): „Epistemische Gewalt-Wissen und Herrschaft in der kolonialen Moderne“. Bielefeld: transcript Verlag, S.98-99

Eckert, Andreas (2006): „Predigt der Gewalt? Betrachtungen zu Frantz Fanons Klassiker der Dekolonisation“ in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 3 (2006), H. 1, URL: https://zeithistorische-forschungen.de/1-2006/4453,
Druckausgabe: S. 169-175.

Fanon, Frantz (1981): „Die Verdammten dieser Erde“. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, S.27-47

Kerner, Ina (2015): „Frantz Fanon in der Politischen Theorie. Stationen und Potenziale einer Rezeption“ in: Walter Reese-Schäfer, Samuel Salzborn (Hg.): „Die Stimme des Intellekts ist leise”. Klassiker/innen des politischen Denkens abseits des Mainstreams. Baden-Baden 2015: Nomos, S.301-316

Mann, Michael (2004): „Das Gewaltdispositiv des modernen Kolonialismus“, in: Mihran Dabag, Horst Gründer und Uwe-K. Ketelsen (Hg.): „Kolonialismus. Kolonialdiskurs und Genozid“, München, S.118-135

Mbembe, Achille (2014): „Kritik der schwarzen Vernunft“. Berlin: Suhrkamp Verlag, S.303-306

Autorin dieses Eintrags: Natalia Werbach  

Zuletzt überarbeitet: 19.05.2020

Kulturelle Gewalt

Kulturelle Gewalt ist ein Phänomen, bei dem kulturell manifestierte Denk- und Deutungsmuster die Ausübung direkter und struktureller Gewaltformen innerhalb eines Kulturkreises als integralen Teil der betreffenden Gesellschaftsordnung und somit gewaltvolle Strukturen oder gewaltsames Handeln nicht als Ausdruck von Gewalt selbst erscheinen lassen; seitens Betroffener kann so kaum noch eine Differenzierung zwischen Kultur- und Gewaltform geleistet werden (vgl. Inhetveen 2005: 34 ff).

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Kulturelle Identität

Kulturelle Identität besteht in einer prozesshaften und dynamischen Aushandlung von Bedeutungen und Positionierungen historischer, kultureller und politischer Art durch Repräsentation und Artikulation (z.B. Film). Es handelt sich dabei nicht um Einheits-, sondern um Differenzerfahrungen, die kontinuierlich produziert werden und stets positioniert sind. Diese Konzeption soll dazu beitragen, essentialisierende Vorstellungen von kultureller Identität zu dekonstruieren und „Schwarz-Sein“ innerhalb von Repräsentationsregimen neu zu artikulieren, um binäres Denken zu destabilisieren (Hall 1993).

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