Ethnografische Grenzregimeforschung

Der Ansatz der „ethnografischen Grenzregimeforschung“ wurde Anfang der 2000er Jahre von der transdisziplinären „Transit Migration Forschungsgruppe“ (2007) entwickelt. Ziel war es einen Ansatz zu entwerfen, der die migrantische Handlungsmacht zum Ausgangs- und Bezugspunkt der Theoretisierung von Grenze nimmt. Er ist dabei weniger als konkretes Analysetool zu verstehen, sondern als epistemologischer Perspektivenwechsel, der ein anderes Verständnis von Politik, Staat, Grenze und Migration hervorbringt (Hess et al. 2018).

Alleinstellungsmerkmal und zentrales Element des Ansatzes ist die „Autonomie der Migration“ (Bojadžijev/Karakayali 2007). Dieses Verständnis von Migration als aktive Transformation des sozialen Raumes unterscheidet ihn von anderen Perspektiven wie beispielsweise der materialistischen Grenzregimeforschung. So geht es den kollektiven Migrations- und Fluchtbewegungen primär nie „nur“ um eine Ortsveränderung, sondern immer auch um eine Transformation des Sozialen, eine Umgestaltung ihres Lebens und ihrer gesellschaftlicher Existenzbedingungen. Damit gewinnt Migration an Intensität, sie wird zur transformativen Kraft und zu einer „Abstimmung mit den Füßen“ (Hess et al. 2018: 273).

Mit diesem Verständnis von Migration geht ein entsprechendes Verständnis von Staat einher: Der Staat wird als ein strategisches Feld konzeptualisiert, als ein Ort des doing politics, welcher durch fortwährende Aushandlungsprozesse und Konflikte unterschiedlicher Akteur*innen und Kräfte konstituiert wird. Diese Aushandlungsprozesse, Konflikte, Kämpfe, Brüche und permanenten Transformationsprozesse stehen im Fokus der ethnografischen (Grenz-)Regimeanalyse. Grenze wird damit nicht statisch, sondern dynamisch als „Ensemble“, „biopolitische Assemblage“ und als ein Kräfte- und Aushandlungsraum verstanden, wobei Migration selbst stets eine prägende Kraft darstellt. Der Begriff „GrenzRegime“ versucht dementsprechend die Multiplizität von Akteur*innen, Diskursen, Praktiken und Institutionalisierungen theoretisch zu fassen sowie der Dynamik, Emergenz und Kontingenz analytisch Ausdruck zu verleihen – ohne zugleich Institutionalisierungsprozesse und gesellschaftliche Stabilitäten auszublenden oder zu negieren (Hess et al. 2018: 271).

Theoretisch knüpft der Ansatz an Foucaultsche Perspektiven an, greift aber auch (post-)operatistische Wissensbestände auf und orientiert sich an marxistischen Staats- und Machttheorien. Auch hinsichtlich der Methodik orientiert sich der Ansatz an Foucault: Mit Hilfe der Genealogie wird beispielsweise die Entstehung und Bearbeitung verschiedener „Problematisierungen“ im Feld der Migrations- und Grenzpolitik im Laufe der Zeit herausgearbeitet. In der konkreten Umsetzung wird insbesondere auf Methoden der qualitativen Sozialforschung zurückgegriffen, wie etwa die teilnehme Beobachtung, Interviewforschung oder Diskurs- und Inhaltsanalyse (Tsianos/Hess 2010). Analysiert wird dabei der Wandel als (un-)beabsichtigte Folgen des Zusammenspiels von diskursiven und nicht-diskursiven, alltäglichen und institutionellen Praktiken. Die ethnografische Grenzregimeanalyse ist somit vor allem auch als Kritik an all jenen migrationswissenschaftlichen Theorien und Ansätzen zu verstehen, die strukturalistisch oder funktionalistisch im Sinne des immer noch gängigen Push-Pull-Modells Migrationsprozesse primär bloß von makrostrukturellen Determinanten ableiten und dabei zumeist entweder lediglich den Herkunfts- oder den Zielkontext in den Blick nehmen (Hess et al. 2018).

Literatur:

Bojadžijev, Manuela/Karakayali, Serhat 2007: Autonomie der Migration. 10 Thesen zu einer Methode, in: Transit Migration Forschungsgruppe (Hrsg.): Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, Bielefeld, 203-210.

Hess, Sabine/Kasparek, Bernd/Schwertl, Martina 2018: Regime ist nicht Regime ist nicht Regime. Zum theoriepolitischen Einsatz der ethnografischen (Grenz-)Regimeanalyse, in: Pott, Andreas/Rass, Christoph/Wolff, Frank (Hrsg.): Was ist ein Migrationsregime? What Is a Migration Regime?, Wiesbaden, 257-283.

Transit Migration Forschungsgruppe (Hrsg.) 2007: Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, Bielefeld.

Tsianos, Vassilis/Hess, Sabine 2010: Ethnographische Grenzregimeanalysen. Eine Methodologie der Autonomie der Migration, in: Hess, Sabine/Kasparek, Bernd (Hrsg.): Grenzregime. Diskurse, Praktiken, Institutionen in Europa, Berlin, 243-264.

Autor*innen: Sophia Michaelis, Hannah Spahn

Zuletzt überarbeitet: 06.04.2020