Gewalt – eng oder weit?

Wortwolke, basierend auf Endress/Rapp (2017)

Skizzen einer Kontroverse

Gewalt ist historisch omnipräsent wie gesellschaftlich allgegenwärtig, zeigt sich so konkret wie ambivalent, tritt so offensichtlich erkennbar wie verborgen auf, wirkt so ordnungs(zer)störend wie ordnungsstiftend. Was Gewalt jedoch konkret ist, ob es einen inhaltlich klar bestimmbaren Kern gibt oder ob Gewalt mehrdimensional ausdifferenziert werden sollte, ist und bleibt Gegenstand kontrovers geführter Debatten.

Mit diesem Beitrag skizziere ich die zentralen Trennlinien und Überschneidungen der Kontroversen – ohne jedoch einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben oder gar Hoffnung auf Überwindung der Differenzen suggerieren zu wollen. Dafür gibt es auch gar keine Notwendigkeit. Denn erstens gehört Gewalt zu jenen umkämpften Begriffen (wie auch Konflikt, Frieden oder Sicherheit), um deren inhaltliche Be-/Deutungen sowohl wissenschaftlich wie auch politisch stets gerungen wird und deren Zuschreibung dann immer auch mit historischen Bedingungen und gesellschaftlichen Kontexte bzw. deren Veränderungen verwoben ist. Zweitens kann die eigene Forschung – im Lichte kritischer (Selbst-)Reflexion und einer Einsicht in die Notwendigkeit der aktiven Auseinandersetzung mit diesen Debatten – davon sogar profitieren: Zwingt sie uns doch dazu, eigene Problem- und Fragestellungen entsprechend begrifflich zu präzisieren, die dahinter stehenden theoretischen Überlegungen zu reflektieren und Position zu beziehen.

Gewalt als komplexer Begriff

Die Kontroverse um die Inhalte von Gewalt ist dem Begriff gewissermaßen phänomenologisch und begriffsgeschichtlich eingeschrieben. So verweist der deutsche Begriff der Gewalt (waltan: stark sein, beherrschen) mit seiner althochdeutschen Herkunft und alltagssprachlichen Verwendung sowohl auf das Ausüben körperlicher (personaler) und seelischer (psychischer) Gewalt als auch auf das  Vorhandensein von „Herrschaft“ bzw. „Kompetenz“ (potestas). Letzteres findet seinen Ausdruck im Begriff der Staatsgewalt oder der Gewaltenteilung. So verbinden sich quasi eine Handlungsebene (Gewalt ausüben) mit herrschaftsorientierten Struktureigenschaften und Ordnungsaspekten bzw. mit der Verfügungsmacht über Gewalt (Gewalt innehaben). Diese beiden Seiten der (Gewalt-)Medaille finden sich im angelsächsischen, frankophonen und iberoamerikanischen Sprachgebrauch in der Unterscheidung zwischen „violenta“ und „potestas“ wieder, d.h. mit der Differenzierung zwischen direkter personaler Gewalt und ihrer Einhegung über legitime Staatsgewalt (vgl. Bonacker/Imbusch 2010: 82).

In der politikwissenschaftlichen und soziologischen Friedens- und Konfliktforschung haben die begriffsgeschichtlichen Unschärfen die Einsicht reifen lassen, den Gewaltbegriff stärker zu differenzieren, um ihn so für konkrete Forschungsfragen fruchtbar, aber auch für verschiedene Facetten und Wechselwirkungen der Gewalt analytisch brauchbar zu machen. Gleichwohl spiegelt sich die Begriffsgeschichte von Gewalt in den aktuellen Debatten über ihre Verwendung und Eingrenzung wider. Und es kann kaum verwundern, dass die zentralen Kontroversen darum kreisen, ob wir uns eher an einem engen Gewaltbegriff orientieren sollen, der beobachtbare, gezielte Gewaltakte gegen Individuen (bzw. ihren Körper) empirisch operationalisierbar und messbar macht – oder ob ein weiter Gewaltbegriff angemessener ist, der Gewalthandeln in ein Verhältnis zu gesellschaftlichen Strukturen und Prozessen stellt, und darin unterschiedliche Formen der Gewalt und ihre Wechselbezüge untereinander zu erkennen versucht.

Der enge Gewaltbegriff

Der enge Gewaltbegriff soll nur jene (sichtbaren) Handlungen einschließen die sich absichtsvoll gegen den menschlichen Körper bzw. dessen Verletzbarkeit richten (vgl. u.a. Popitz 1992: 48, von Trotha 1997: 14). Die in interpersonalen Konflikten (individuelle Ebene) oder auf kollektiver Ebene (z.B. in Kriegen) intentional eingesetzte physische Gewalt erzeugt dabei immer ein Verhältnis zwischen Täter*innen und Betroffenen. Hinter der Fokussierung auf absichtsvolle Verletzungen gegen den menschlichen Körper, daher oft auch direkte Gewalt genannt, steht die theoretische Überlegung, den Gewaltbegriff von anderen politikwissenschaftlichen Konzepten wie „Herrschaftsordnung“ oder „Gerechtigkeit“ unterscheidbar zu machen (Koloma Beck/Schlichte 2014: 37). Ansätze der soziologischen Konflikt- und Protestforschung teilen aus phänomenologischer Perspektive die enge begriffliche Ausrichtung; sie sehen in Gewalt aber nicht nur eine soziale Praxis, die sich in der absichtsvollen Schädigung von Körpern äußert, sondern die sich im Kontext politischer Proteste auch gegen Sachen richten und damit materielle Schädigungen hervorrufen kann (vgl. Hutter 2014).

Um jenseits materieller und sichtbarer, rein körperlichen Schädigungen (im anatomisch-organischen Sinne) auch eher unsichtbare Verletzungen der leiblichen Integrität zu berücksichtigen, plädieren einige Forscher*innen darüber hinaus für einen expliziten Einbezug psychischer Gewalt (vgl. Inhetveen 2005: 32). Diese Form der Gewalt wird einerseits dem Anspruch gerecht, den Gewaltbegriff eng auf die Verletzbarkeit des Menschen zu begrenzen; andererseits muss Gewalt, die äußerlich nicht sichtbar ist, nicht zwingend durch konkrete Personen hervorgebracht werden. Sie kann ihre (absichtsvollen) Wirkungen auch über (scheinbar verborgene) Inhalte und Strategien entfalten, die über Sprache, Symbole oder Bilder kommuniziert werden (vgl. Bonacker/Imbusch 2010:  86f.).

Unter einen engen Gewaltbegriff, der Verletzungen gegen den menschlichen Körper und die leibliche Integrität erfassen soll, fallen auch verschiedene Formen der geschlechtsspezifischen Gewalt. Sowohl die in bewaffneten Konflikten als auch in Kriegen instrumentell eingesetzte sexualisierte Gewalt als auch soziale Praktiken wie die Genitalverstümmelung oder das so genannte Brustbügeln als Schutz vor Vergewaltigungen (Meyer-Oldenburg 2019) weisen neben rein physischen Einwirkungen auch psychische Folgen auf (u.a. posttraumatische Belastungsstörungen, vermindertes Selbstwertgefühl). Da sexualisierte Gewalt einerseits jedoch in einer engen Verbindung zu patriarchalen Strukturen und Maskuli­nismus steht (militärische und hegemoniale Männlichkeiten), andererseits deutliche Verschränkungen zur diskursiven Ebene bestehen (Vergewaltigungen als Teil der diskursiven Konstruktion kollek­tiver Identitäten und einflussreiches Mittel zur Herstellung von Feind*innenbildern, vgl. Engels/Chojnacki 2007), ist es mehr als sinnvoll, diese in Verbindung zum weiten Gewaltverständnis zu untersuchen.

Der weite Gewaltbegriff

Der weite Gewaltbegriff integriert in phänomenologischer Absicht auch jene Macht-Struktur-Wissen-Aspekte, in die Gewalt als Handlungsabsicht und -ausdruck eingebunden ist und die durch sie hervorgebracht und legitimiert werden. So können auch politische oder ökonomische Strukturen, die zu einer eigentlich vermeidbaren Ungleichheit an Lebenschancen führen, Gewalt erzeugen und durch Gewalt hervorgebracht werden. Der Friedensforscher Johan Galtung hat dafür den Begriff der strukturellen Gewalt geprägt, um unabhängig von Täter*innen-Opfer-Beziehungen jene Charakteristika gesellschaftlicher Strukturen zu thematisieren, die Personen oder auch Personengruppen in der Befriedigung ihrer grundlegenden Bedürfnisse einschränken (vgl. Galtung 1971: 55). Strukturelle Gewalt verweist daher auf jene gesellschaftlichen Hierarchisierungen, asymmetrischen Machtpositionen und ungleichen Verteilungen von Ressourcen, die Formen sozialer Marginalisierung und Diskriminierung beinhalten, zu unterschiedlichen Lebenschancen führen und so für menschliches Leid oder Tod verantwortlich sind; sie wird über die Naturalisierung von Herrschaftsverhältnissen sowie ihre In- und Exklusionsmechanismen reproduziert und entzieht sich – teilweise – sowohl der direkten Wahrnehmung wie auch der konkreten Bestimmung von Täter*innen und Opfern (vgl. Imbusch 2017: 49).

Die in Handlungen sich ausdrückende physische Gewalt und über gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse erzeugte strukturelle Gewalt sind nach Johan Galtung zudem mit kultureller Gewalt verwoben – und verbinden sich so zum „Gewaltdreieck“ (Galtung 1998). Demnach kennzeichnet kulturelle Gewalt jene in Kultur/en verankerten Aspekte (wie Normen, Werten oder Ideologien) und über Symbole und Diskurse vermittelten Zuschreibungen (u.a. Zeremonien, Flaggen), die als Deutungs- bzw. Interpretationsmacht genutzt werden können, um direkte und strukturelle Gewalt zu legitimieren (vgl. Bonacker/Imbusch 2010: 89). Anders formuliert: kulturell manifestierte Denk- und Deutungsmuster werden politisch funktionalisiert und tragen so dazu bei, die Ausübung direkter und struktureller Gewaltformen innerhalb eines definierten sozio-kulturellen Raumes als – notwendigen oder logischen – Bestandteil der betreffenden Gesellschaftsordnung erscheinen zu lassen. Die „Kulturalisierung“ von Gewalt (Inhetveen 2005) verweist dann nicht nur auf Eingriffe innerhalb „eigener“ gesellschaftlicher Prozesse, sondern auch auf die Zuschreibung und Stigmatisierung „anderer“ Kulturkreise.

In ähnlicher Weise reflektiert symbolische Gewalt die durch Herrschaftsstrukturen vorgeprägten Wahrnehmungs- und Handlungsschemata, die asymmetrische Machtverhältnisse unsichtbar machen und so zu deren unhinterfragten Absicherung führen (Bourdieu 2018: 122). Diese „sanfte Gewalt“ führt letztlich dazu, gesellschaftliche Kräfte- und Herrschaftsverhältnisse zu verschleiern und über symbolische Sinnzuschreibungen (u.a. in Architektur, Kunst, Sprache) die scheinbare Natürlichkeit von Herrschaftsverhältnissen anzuerkennen und zu verinnerlichen. Symbolische Gewalt zielt darauf ab, „Menschen mit Hilfe symbolisch-sinnhafter Bedeutungen von oder Zuschreibungen zu Sachen, Personen Handlungs- und Verhaltensweisen zur Hinnahme, Bejahung und Verstetigung von Strukturen, Institutionen und Akteuren gesellschaftlicher Herrschaft zu bewegen“ (Peter 2011: 12). Aus konflikt- und gesellschaftstheoretischer Perspektive sieht Lars Schmitt in der symbolischen Gewalt gleichermaßen ein zentrales „Funktionsprinzip (post-)moderner Gesellschaften“ (2006: 21). Auf ihrer Basis werden Konflikte zwischen gesellschaftlichen Gruppen, deren Chance soziale wie ökonomisch asymmetrisch verteilt sind, klein bzw. latent gehalten: „Sozial gemachte (d.h. „ungerechte“) Hierarchien werden durch Symbole in selbstverständliche, quasi-natürliche (d.h. „gerechte“) Hierarchien „verwandelt“ (ebd.). Folglich ist symbolische Gewalt alles andere als „sanft“, wenn einerseits Herrschaftsverhältnisse anerkannt und reproduziert, andererseits gewaltvolle Strategien der Herrschaftssicherung darüber legitimiert werden.

Um stärker auf das Zusammenspiel von Gewaltstrukturen und Gewaltdiskursen abzuheben und zugleich die Überschneidung von Ungleichheits-, Diskriminierungs- und Gewaltstrukturen zu problematisieren, hat sich ein feministisch-intersektional konnotiertes Verständnis diskursiver Gewalt entwickelt (Sauer 2011). In bewusster Erweiterung bestehender Gewaltkonzepte rücken hier nicht allein die strukturellen, kulturellen und/oder symbolischen Dimensionen von sich überschneidenden Unterdrückungssystemen in den Fokus (u.a. die Schnittpunkte von Rassismus und Sexismus), sondern ihre Verbindung zu gewaltvollen Diskursen. Eigentlich überlagern sich hier zwei konzeptionelle Ebenen: eine eher verdichtete Perspektive auf die Überschneidungen bzw. Kreuzungspunkte von Mehrfachdiskriminierung im Sinne der Logik von Intersektionalität (vgl. Crenshaw 1989) und ein eher weites Verständnis, das die Verschränkung von Diskriminierungsformen in Verbindung zu gesellschaftlichen Gewaltverhältnissen und den darin wirkungsmächtigen Diskursen stellt. Diese Verschiebung reflektiert einerseits eine notwendige Reaktion auf die Genderblindheit früherer Gewaltansätze. Andererseits lässt sich mit der feministischen Staatstheorie argumentieren (u.a. Löffler 2011), dass Geschlechterverhältnisse und -identitäten, insbesondere die Naturalisierung einer hierarchischen Zweigeschlechtlichkeit in gesellschaftliche Strukturen eingewoben und darüber verkodet sind – und damit eine enge Verbindung zur strukturellen Gewalt aufweisen.

Mit der epistemischen Gewalt soll schließlich auf jene Gewalt verwiesen werden, die der Wissensproduktion selbst innewohnt und die mit der Delegitimierung und Verdrängung anderer, alternativer Erkenntnismöglichkeiten einhergeht (vgl. Brunner 2015). Entlang von „Epistemen“ (Erkenntnisse, Wissen, Wissenschaft) wird Gewalt einerseits durch oder gegen Wissen ausgeübt (auch durch Auslassungen oder Leugnungen von Wissen), andererseits werden über asymmetrische Diskurse und Praktiken bestimmte Individuen und Gruppen ausgeschlossen, unterdrückt und als „Andere/s“ markiert bzw. konstituiert (vgl. Spivak 1988). In der Friedens- und Konfliktforschung sollen mit dem Begriff der epistemischen Gewalt vor allem jene Essentialisierungen, Naturalisierungen und Hierarchisierungen problematisiert werden (v.a. Kolonialismus, Eurozentrismus), die in der wissenschaftlichen Praxis hervorgebracht und verstärkt werden. Aus gewaltphänomenologischer Sicht liegen die herrschaftsstabilisierenden Funktionen epistemischer Gewalt sowohl in der Deutungskraft und Rechtfertigung anderer Gewaltformen (siehe Bezug zur kulturellen und symbolischen Gewalt) als auch in der Kanonisierung gesellschaftlicher Normen und der Re-Produktion der Kolonialität von Wissens (siehe Bezug zur strukturellen und diskursiven Gewalt). Auf methodologischer Ebene wird damit zudem die Konzeptualisierung von Gewalt als sozialer Praxis, die sich vor allem in empirischen Untersuchungen physischer Gewalt (u.a. Proteste, Kriege) aber auch struktureller Gewaltverhältnisse (u.a. Analysen zu politischen oder ökonomischer Ungleichheiten) widerspiegelt, um die Dimension Gewalt als Wissenskategorie erweitert. Dadurch tritt das in unsere Denk- und Wissensmuster eingelagerte Gewaltwissen, das Zusammenspiel von Macht, Herrschaft und Wissen ins Zentrum der Analyse (Brunner 2015: 43f.).

Mit Hilfe dieser Ausdifferenzierung kann dem engen Gewaltbegriff entsprechend entgegengehalten werden, dass seine postulierten Vorteile der direkten Beobachtbarkeit und Generalisierbarkeit sowie die damit einhergehende begriffliche Abgrenzung gegenüber anderen Phänomenen wie Macht, Herrschaft oder Gerechtigkeit von den Nachteilen überwogen werden. Der Aspekt des direkten Einwirkens gegen den menschlichen Körper (absichtsvolle Gewaltausübung) wird einerseits der Komplexität und Vielschichtigkeit des Phänomens Gewalt nicht gerecht, birgt andererseits aber eben auch die Gefahr, andere Aspekte der Gewalt zu verschleiern – und so womöglich selbst zu einer Form der Gewalt zu werden. Dass Schädigungen des menschlichen Lebens und das damit einhergehende Gewalterleiden in mannigfaltige gesellschaftliche Ursache-Wirkungs-Konstellationen eingebunden sind, und folglich auch die strukturellen und symbolischen Dimensionen in den Einzugsbereich der erfahrbaren Schädigungen einbezogen werden müssten, spricht für einen weiten Gewaltbegriff (Imbusch 2017). Der Entscheidung für ein weit gefasstes Verständnis wird dabei meist von der normativen, herrschafts- und gesellschaftskritischen Absicht sowie dem friedensethischen Ziel begleitet, den Gewaltbegriff für eine systematische Kritik und Skandalisierung asymmetrischer und diskriminierender gesellschaftlicher Verhältnisse heranzuziehen (Endreß/Rapp 2017).

Bedeutung für Forschung und Gesellschaft

Was bedeutet diese Kontroverse für die eigene Forschung? Mit dem engen Gewaltbegriff richtet sich die eigene Untersuchung primär auf das direkte Gewalthandeln und damit auf eher konkrete Täter*innen-Opfer-Beziehungen aus. Beispielhaft dafür stehen akteurszentrierte Analysen, die Demonstrationen und Protesthandeln oder Extremformen des Konfliktaustrags wie innerstaatliche oder zwischenstaatliche Kriege beschreiben und erklären wollen. Der weite Gewaltbegriff hingegen öffnet die analytische Perspektive für jene politischen, sozio-ökonomischen und kulturellen Bedingungen, die mit dem individuellen Erleiden von Gewalt einhergehen, und problematisiert dabei die gesellschaftlichen Bedingungsfaktoren, die zu unterschiedlichen Lebenschancen führen und so für menschliches Leid oder Tod verantwortlich sind. Beispielhaft für eine solche Perspektive ist die „gewaltvolle Tatenlosigkeit“ (violent inaction) des EUropäischen Migrations- und Grenzregimes mit seinen biopolitischen Formen der Migrationskontrolle an den Außengrenzen Europas und der unterlassenen Hilfeleistung eigentlich normativ verpflichtender Seenotrettung im Mittelmeer (Davies u.a. 2017).

Unabhängig davon, für welchen Gewaltbegriff wir uns entscheiden, Gewalt bleibt aufgrund der Verletzungsoffenheit „als Teil des Menschseins“ allgegenwärtig (Inhetveen 2005: 33), facettenreich in ihren Ausdrucksformen und sozial-räumlich überall anzutreffen: im Globalen Norden ebenso wie im Globalen Süden (sowie in den wechselseitigen Bezügen), in urbanen wie in ländlichen Räumen, in öffentlichen Bereichen ebenso wie in privaten Kontexten (häusliche Gewalt). Und so wie Gewalt in diesem Sinne ein transhistorisches wie transkulturelles Phänomen ist, so kann sich doch das, was als Gewalt benannt wird, in Gesellschaften und ihren Diskursen immer wieder wandeln und umgedeutet werden – oder auch auf bestimmte Aspekte der Gewalt verengt werden. Gerade am Beispiel der politischen Diskurse und medialen Berichterstattung im Kontext gesellschaftlicher Proteste lässt sich beobachten, wie Debatten auf die Frage der Legitimität von Gewalt verengt werden. Dabei kann das „Knäuel von Gewalt und Gegengewalt“, wie sich bei den G20-Protesten von Hamburg 2017 gezeigt hat, von einer „diskursiven Eskalation“ überlagert werden (Malthaner u.a. 2018). Unmittelbar deutlich wird daran einerseits, dass das, was in gesellschaftlichen Konflikten jeweils als legitime oder illegitime Gewalt eingeordnet wird, gesellschaftspolitisch umkämpft ist. Andererseits sind die Zuschreibungen von Gewalt immer auch damit verbunden, wer letztlich die Deutungsmacht über Gewalt besitzt. 

Obwohl wir dann in öffentlichen Debatten und der Medienberichterstattung eine klare Präferenz zugunsten der Vermittlung von körperlicher Gewalt vermuten könnten, ist in der Repräsentation von Gewalt der Aspekt materieller Schädigungen weitaus präsententer als in den gewaltphänomenologischen Ansätzen der Friedens- und Konfliktforschung; sehen wir einmal von der sozialen Bewegungs- und Protestforschung ab, die der „Gewalt gegen Sachen“ aufgrund der damit verbundenen Gruppendynamiken und Aktions-Reaktionsspiralen innerhalb von Protestereignissen einen anderen Stellenwert einräumt (siehe Rucht 2002). So zeigt sich einerseits, dass öffentliche und mediale Gewaltdebatten nicht notwendigerweise auch den (politik-)wissenschaftlichen Überlegungen und ihrer Ausdifferenzierungen folgen müssen (und folglich eine Kluft zwischen wissenschaftlicher Begriffsbildung und öffentlicher Begriffspraxis bestehen kann). Andererseits haben materielle Schädigungen (wie Plünderungen von Geschäften oder das Anzünden von Personenkraftwagen) einen hohen Nachrichtenwert, der durch die Zuschreibung der Gewalt noch einmal gesteigert wird und/oder über die Zuordnung zu Gruppierungen von (vermuteten, behaupteten) Täter*innen in Klischees oder „Frames“ von Gewalt eingebettet ist (u.a. „Globalisierungskritik“, „autonome Szene“). Gleichzeitig lässt sich argumentieren und zeigen, dass mediale Inszenierungen von Gewalt durch diskursiv vermittelte und ikonographisch re-produzierte Stereotypen charakterisiert sind (Thiele 2010), die zur Vermittlung von Gruppenzugehörigkeit und Deutungsangeboten eingesetzt werden (essentialisierende, naturalisierende Zuschreibungen von „Anderen“). So werden die Plattformen und Portale der Informationsvermittlung (Zeitungen, TV, social media) selbst zu (Ver-)Mittler*innen oder gar Hersteller*innen der im weiten Gewaltverständnis aufgeworfenen Formen der Gewalt. Um es abschließend unter Bezug auf die symbolische Gewalt noch einmal zu akzentuieren: Als Sinnbezüge und Interpretationsschemata des alltäglichen Lebens konstruieren, strukturieren und vermitteln Medien wie auch die Wissenschaft/en und Künste gesellschaftliche (Herrschafts-)Realitäten, die als symbolische Gewalt wirksam werden und strukturelle wie direkte Gewalt zu legitimieren helfen.

Literatur

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Bourdieu, Pierre 2018: Die symbolische Gewalt, in: Müller-Salo, J. (Hrsg.), Gewalt. Text von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart, 121-129.

Brunner, Claudia 2015: Das Konzept epistemische Gewalt als Element einer transdisziplinären Friedens- und Konflikttheorie, In: Jahrbuch Friedenskultur, Band 10, Klagenfurt, 38-53.

Crenshaw, Kimberle 1989: Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics, in: University of Chicago Legal Forum, 1: 8, URL: http://chicagounbound.uchicago.edu/uclf/vol1989/iss1/8

Davies, Tom/Isakjee, Arshad/Dhesi, Surindar 2017: Violent Inaction: The Necropolitical Experience of Refugees in Europe, in: Antipode 49, 1263-1284, doi: 10.1111/anti.12325.

Endreß, M./Rapp, B. 2017: Die friedensethische Bedeutung der Kategorie Gewalt, in: Werkner, I.-J./Ebeling, K. (Hrsg.), Handbuch Friedensethik, Wiesbaden, 163-173.

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Galtung, Johan 1998: Frieden mit friedlichen Mitteln Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur Wiesbaden.

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Hutter, Swen 2014: Protesting Culture and Economics in Western Europe. New Cleavages in Left and Right Politics. Minneapolis.

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Löffler, Marion 2011: Feministische Staatstheorien. Eine Einführung. Frankfurt am Main. 

Malthaner, S./Teune, S./Ullrich, P. 2018: Eskalation: Dynamiken der Gewalt im Kontext der G20-Proteste in Hamburg 2017, Berlin.

Meyer-Oldenburg, Anna 2019: Eingebrannter Selbsthass. Brustbügeln In Westafrika verstümmeln Mütter ihre Töchter – zum Schutz vor Vergewaltigung in: Der Freitag, URL: https://digital.freitag.de/3519/eingebrannter-selbsthass/ (letzter Zugriff: 09.10.2019).

Mohammed, Amer 2019: Gewalt… ist Gewalt! in: FKF_Kollektiv, Blog, URL: https://blogs.fu-berlin.de/fkfkollektiv/2019/09/09/gewalt-ist-gewalt/

Peter, Lothar 2004: Pierre Bourdieus Theorie der symbolischen Gewalt. Hamburg.

Popitz, Heinrich 1992: Phänomene der Macht, Tübingen.

Sauer, Birgit 2011: Migration, Geschlecht, Gewalt. Überlegungen zu einem intersektionellen Gewaltbegriff, in: GENDER-Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, 3: 2, 44-60.

Schmitt, Lars 2006: Symbolische Gewalt und Habitus-Struktur-Konflikte: Entwurf einer Heuristik zur Analyse und Bearbeitung von Konflikten, Marburg (CCS Working Papers 2).

Spivak, Gayatri C. 1988: Can the Subaltern Speak?, in: Nelson, Cary/Grossberg, Lawrence (Hrsg.), Marxism and the Interpretation of Culture, Urbana-Champaign, 271–313.

Rucht, Dieter (Hrsg.) 2002: Protest in der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt am Main.

Thiele, Martina 2010: Medial vermittelte Vorurteile, Stereotype und ‚Feindinnenbilder‘, in: Thiele M./ Thomas T./Virchow F. (Hrsg.), Medien – Krieg – Geschlecht, Wiesbaden, 61-79.

von Trotha, Trutz 1997: Zur Soziologie der Gewalt, in: Trotha, Trutz von (Hrsg.), Soziologie der Gewalt, Opladen.

 

Zitiervorschlag:

Chojnacki, Sven 2019: Gewalt – eng oder weit? Skizzen einer Kontroverse, in: FKF_Kollektiv, Glossar, URL: https://blogs.fu-berlin.de/fkfkollektiv/glossary/gewalt-kontroverse/

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