Kulturelle Gewalt ist ein Phänomen, bei dem kulturell manifestierte Denk- und Deutungsmuster die Ausübung direkter und struktureller Gewaltformen innerhalb eines Kulturkreises als integralen Teil der betreffenden Gesellschaftsordnung und somit gewaltvolle Strukturen oder gewaltsames Handeln nicht als Ausdruck von Gewalt selbst erscheinen lassen; seitens Betroffener kann so kaum noch eine Differenzierung zwischen Kultur- und Gewaltform geleistet werden (vgl. Inhetveen 2005: 34 ff).
Der Begriff der kulturellen Gewalt wurde im Jahr 1990 als Erweiterung zum Konzept der strukturellen Gewalt von dem norwegischen Friedensforscher Johan Galtung eingeführt (Galtung 1990). Der Autor beschreibt kulturelle Gewalt als „jene Aspekte der Kultur, der symbolischen Sphäre unserer Welt – man denke an Religion und Ideologie, an Sprache und Kunst, an empirische und formale Wissenschaften (Logik, Mathematik) –, die dazu benutzt werden können, direkte oder strukturelle Gewalt zu rechtfertigen oder zu legitimieren“ (1998: 341).
Kulturelle Gewalt beschränkt sich dabei nicht auf bestimmte Gesellschaftsordnungen oder -bereiche, sondern ist ein Phänomen, das allumfassend, häufig unbedacht um sich greift und durch eine überdauernde, sehr zähe und langwierige Veränderung „grundlegender Aspekte der Kultur“ geprägt ist, wodurch letztlich die Wahrnehmung kultureller Gewalt erschwert wird (Galtung 1998: 348). Ferner scheint es, dass kulturelle Gewalt nicht nur zur Rechtfertigung und Legitimierung von struktureller und direkter Gewalt missbraucht werden kann, sondern dass bestimmte Gewaltformen in einer Gesellschaft mit den darauf passenden kulturell manifestierten Deutungsmustern und Ansichten überhaupt nicht mehr als solche wahrgenommen, sondern als alltäglich und normal verstanden werden.
Doch wo fängt Kultur an und wo hört sie auf und geht in Gewalt über – wenn wir doch augenscheinlich nicht immer eine Differenzierung zwischen Kultur und Gewalt vornehmen können? Inhetveen (2005: 44) postuliert, dass jede Kultur einen gewissen Grad an Gewalt mit sich bringe, und verweist auf Popitz, der Gewalt als „eine notwendige Bedingung zur Aufrechterhaltung sozialer Ordnung“ ansieht (Popitz 1992: 63, zitiert nach Inhetveen 2005: 44). Inhetveen (2005: 38) thematisiert in diesem Zusammenhang den Begriff der Kulturalisierung von Gewalt, den die Autorin als „politischen Prozess“ ansieht, bei dem „[b]estehende kulturelle Deutungsmuster [.] politisch funktionalisiert und modifiziert werden“, um Gewalt potenziell legitimieren zu können.
Es gilt zu betonen, dass Kulturalisierungsprozesse nicht nur als Eingriffe in die eigene Kultur verstanden werden, sondern dass diese vielmehr auch „andere“ Kulturkreise definieren und im Besonderen stigmatisieren (ebd.). Sichtbar wird dieser Prozess bei der Verquickung von Geschlechtergewalt mit anderen Kulturräumen. Sauer (2011: 50 ff) betont, dass insbesondere die Tradition „anderer“ Kulturen als allgegenwärtige Rechtfertigung für Gewaltausübungen gegenüber Frauen innerhalb dieser Kulturen herangezogen würde, wobei der andere Kulturraum als ein abgeschlossenes Konstrukt fungiere und keine Differenzierung für mögliche Erklärungen innerhalb dessen vorgenommen werde. Die Autorin äußert dazu trefflich: „Wird Gewalt bei den Anderen identifiziert, dann ist der Gedanke, dass Gewaltverhinderung durch schärfere Maßnahmen gegen die Anderen, die Fremden, insgesamt nötig ist, nicht mehr weit“ und nennt diese Form eine „politische Instrumentalisierung der Gewaltdebatte“ (ebd.).
Inhetveen (2005: 44) fügt hinzu, dass unter diesem Deckmantel der „anderen“ Kultur, die Kulturalisierung, verstanden als politischer Akt, im Verborgenen bleiben könne; daher scheine eine Differenzierung zwischen Kultur und Gewalt schwer zu erfassen. Inhetveen (2005: 45) widmet sich der Frage, wie aus Sicht der Forschung, das Phänomen der Kulturalisierung erfasst werden kann, und schlägt vor, dass sich Forscher*innen die eigene sozialisierte Weltanschauung bewusstmachen müssen. Ferner sollen sowohl Kultur als auch Gewalt als permanent dynamischer, in die Historie eingebetteter Prozess verstanden werden, die in ihrer vorliegenden Umwelt koexistieren und sich fortwährend reproduzieren (ebd.). Sauer (2011: 49) betont, dass Kulturen keine abgeschlossene „homogen[e]“ Einheit darstellen, sondern „immer im Austausch mit der sie umgebenden Umwelt“ und insbesondere auch im Austausch mit anderen Kulturräumen stehen. Dieses Aufbrechen der sozialen Konstruktion von Kultur sollte nicht nur Gegenstand der Wissenschaft sein, sondern eine gesellschaftliche Verankerung finden, so dass wir uns von der schieren Vereinfachung des Kulturverständnisses lösen, um kulturelle Gewalt im Alltag sichtbar machen zu können.
Literatur
Galtung, Johan 1990: Cultural Violence, in: Journal of Peace Research, 27: 3, 291-305.
Galtung, Johan 1998: Frieden mit friedlichen Mitteln. Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur. 1. Auflage. Wiesbaden.
Inhetveen, Katharina 2005: Gewalt in ihren Deutungen, in: Österreichische Zeitschrift Für Soziologie, 30: 3, 28-50.
Sauer, Birgit 2011: Migration, Geschlecht, Gewalt. Überlegungen zu einem intersektionellen Gewaltbegriff, in: Gender. Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, 3: 2, 44-60.
Autor*innen dieses Eintrags: Caroline Brückner
Zuletzt überarbeitet: 17.09.2019