Strukturelle Gewalt verweist auf jene gesellschaftlichen Hierarchisierungen, asymmetrischen Machtpositionen und ungleichen Verteilungen von Ressourcen, die Formen sozialer Marginalisierung und Diskriminierung beinhalten, zu unterschiedlichen Lebenschancen führen und so für menschliches Leid oder Tod verantwortlich sind; sie wird über die Naturalisierung von Herrschaftsverhältnissen sowie ihre In- und Exklusionsmechanismen reproduziert und entzieht sich – teilweise – sowohl der direkten Wahrnehmung wie auch der konkreten Bestimmung von Täter*innen und Opfern (vgl. Imbusch 2017: 49).
Der Begriff der strukturellen Gewalt ist vom norwegischen Friedensforscher Johan Galtung in seinem Aufsatz „Violence, peace, and peace research“ (1969) entwickelt worden. In kritischer Abgrenzung vom ‚engen‘ Konzept der direkten physische Gewalt, die auf die körperliche Verletzlichkeit von Individuen verweist und es ermöglicht, sowohl Täter*innen als auch Opfer eindeutig zu identifizieren, liegt struktureller Gewalt dann vor, „wenn Menschen so beeinflusst werden, dass ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung“ (Galtung 1975: 9; siehe auch 1969: 168; als Überblick Bonacker/Imbusch 2010). Gewalt wird demnach bereits dann ausgeübt, wenn eine Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen Zustand und den theoretisch vorhandenen Möglichkeiten vorliegt, d.h. wenn beispielweise eine Person an einer Krankheit stirbt, für die zwar Behandlungsmethoden entwickelt wurden, diese jedoch für die Person nicht zugänglich sind (Galtung 1969: 168). Oder auf heutige Verhältnisse gespiegelt: Wenn in postmigrantischen Gesellschaften die potenzielle Lebenserwartung der Allgemeinbevölkerung länger ist als die Lebenserwartung von Angehörigen benachteiligter Gruppen, dann tragen Faktoren wie Rassismus, Sexismus oder soziale Ungleichheit zur Diskrepanz zwischen dem Potenzial und der tatsächlichen Lebenserwartung bei.
Strukturelle Gewalt resultiert entsprechend nicht aus einer konkreten Täter*innengruppe sondern aus der Beschaffenheit gesellschaftlicher Strukturen (wie Institutionen, Normen und Regeln), die Einzelpersonen oder Gruppen an ihrer Entfaltung hindern – und ist darüber hinaus direkt verbunden mit der Verteilung von Ressourcen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen (Galtung 1969: 170f.). In der Konsequenz führt dies bei Galtung (1971: 62) zu einer bewussten Überschneidung mit Formen sozialer Ungerechtigkeit. Strukturelle Gewalt bezieht sich demnach auf all jene politischen, sozio-ökonomischen und kulturellen Gegebenheiten, die für Betroffene in einem „weitreichenderen Kontext“ Relevanz besitzen: Gewalt geht nicht von spezifischen Akteur*innen aus, sondern von einer „gewaltförmige[n] Verfasstheit der Weltgesellschaft selbst“ (Inhetveen 2017: 102). Folgen von struktureller Gewalt sind dann u.a. Formen der Diskriminierung, eingeschränkte soziale Mobilität oder Gefühle der Minderwertigkeit (Galtung 1975: 13). Wie direkte physische Gewalt wird auch strukturelle Gewalt über kulturelle Gewalt legitimiert. Ähnlich wie symbolische Gewalt bleibt sie für Täter*innen und Opfer oft unsichtbar.
Hauptkritikpunkte des Begriffs der strukturellen Gewalt sind erstens seine analytische ‚Breite‘ bzw. die Aufweichung des Gewaltbegriffes (mit seinen Überschneidungen zu Formen sozialer Ungerechtigkeit, bei gleichzeitiger Vernachlässigung physischer Gewalt) sowie zweitens die unterstellte Schwäche, nachvollziehbare Operationalisierungen entwickeln zu können (siehe u.a. Kailitz 1975; Popitz 1992; Riekenberg 2008). Aus postkolonialer Perspektive lässt sich diese Haltung jedoch umgekehrt auch als Ausdruck einer spezifisch positivistischen Epistemologie und Methodologie kritisieren, die trennscharfe Begrifflichkeiten als Ziel nachvollziehbarer Operationalisierungsverfahren anstreben, dabei aber (bewusst oder unbewusst) in die Falle epistemischer Gewalt tappen (Brunner 2016: 100). Anstatt das Konzept zu verwerfen, empfiehlt der Soziologe Peter Imbusch der sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung einen kritischen Umgang mit dem gesellschafts- und konflikttheoretischen Potenzial der strukturellen Gewalt, die ja gerade „in der Reproduktion sozialer Exklusions- und Marginalisierungsverhältnisse zum Ausdruck“ komme, „die sie »naturalisiert« und so ihrer politischen und sozialen Ursprünge entkleidet“ (Imbusch 2017: 49). Bedeutsam werden so neben der historischen Kontextualisierung struktureller Gewaltverhältnisse vor allem die sozial-räumliche Differenzierung ihrer potentiell unterschiedlichen Ausdrucksformen und Auswirkungen.
Die Erweiterung des Gewaltbegriffs steht in direktem Zusammenhang mit Johan Galtungs Definition von ‚Frieden‘: So unterscheidet er zwischen ’negativem‘ Frieden, gekennzeichnet durch die Abwesenheit personaler, direkter Gewalt, und ‚positivem‘ Frieden im Sinne der Abwesenheit struktureller Gewalt (Galtung 1969: 183ff).
Literatur
Bonacker, Thorsten/Imbusch, Peter 2010: Zentrale Begriffe der Friedens- und Konflikt, Gewalt, Krieg, Frieden, in: Imbusch, Peter und Zoll, Ralf: Friedens- und Konfliktforschung. Eine Einführung. 5. Auflage. Wiesbaden, 67-142.
Brunner, Claudia 2016: Gewalt weiter denken in der Kolonialität des Wissens, in: Aram Ziai (Hg.): Postkoloniale Politikwissenschaft, Bielefeld: transcript Verlag, 91-110.
Galtung, Johan 1969: Violence, Peace, and Peace Research, in: Journal of Peace Research, 6: 3, 167-191.
Galtung, Johan 1975: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung. Reinbek, 3-26.
Imbusch, Peter 2017: ‘Strukturelle Gewalt‘. Plädoyer für einen unterschätzten Begriff, in: Mittelweg 36: 3, 28-51.
Kailitz, Susanne 1975: Johan Galtung, Strukturelle Gewalt, in: Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbek bei Hamburg, 133-136.
Popitz, Heinrich 1992: Phänomene der Macht, Tübingen.
Riekenberg, Michael 2008: Auf dem Holzweg? Über Johan Galtungs Begriff der „strukturellen Gewalt, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 5, 172-177.
Weiterführende Materialien
http://conflictberlin.pageflow.io/struktour
Autor*innen: Sven Chojnacki
Zuletzt überarbeitet: 09.08.2019