25. Februar 2009 von Thomas Greven
Lange Zeit war eine der wichtigsten Personen in amerikanischen Wahlkämpfen der sogenannte „Precinct Captain“, der in einem (städtischen) Wahlkreis „seine Pappenheimer kannte“, d.h. wusste, wer zur Stimmabgabe für seine Partei mobilisiert werden konnte. Diese Aufgabe wurde allerdings stark erleichtert durch die ethnische Segregation amerikanischen Wohnens – italienische Viertel grenzten an irische Viertel usw. Durch geschickte Zuschnitte der Wahlbezirke sowie durch etablierte Klientelbeziehungen der Parteien zu verschiedenen Bevölkerungsgruppen, insbesondere der Demokratischen Partei zu neuen Immigrantengruppen, konnten Wahlergebnisse für lokale Ämter gewöhnlich leicht vorhergesagt werden. Noch heute ist ein Schlüsselsatz amerikanischer Wahlkämpfer: Demographie ist Schicksal.
Das Prinzip des „winner takes all“, also der relativen Mehrheitswahl von Einzelkandidaten ohne proportionale Berücksichtigung unterlegener Parteien, macht das Wissen über Wählergruppen bis heute auch in überregionalen Wahlen mit entscheidend für den Wahlausgang. Durch die Institution des Wahlmännerkollegiums wird selbst die Präsidentschaftswahl letztlich in den Staaten entschieden; landesweite Umfragewerte sind nur bedingt aussagekräftig.
Der Anreiz, viele Informationen über die Wählerinnen und Wähler zu sammeln, ist in den USA also systembedingt hoch. Lange reichten Informationen über Ethnizität und Religion aus, um verlässliche Vorhersagen zu treffen; trotz großer Überschneidungen zu Klassenkategorien wie Einkommen und Vermögen sind diese Aspekte bis heute wichtig, auch weil sie immer noch eine, wenn auch abgeschwächte, räumliche Dimension haben – manchmal reicht die Postleitzahl, um zu wissen wie jemand abstimmen wird. Traditionell werden für die Wahlkampfanstrengungen insbesondere Informationen über vergangene Wahlen verwendet. Die Ansprache der Wähler erfolgt also konzentriert in den Wahlkreisen, in denen man in der Vergangenheit gut abgeschnitten hat; die Faustregel ist eine Quote von 65%plus. Gerade die sogenannten „Get out the vote“ (GOTV) Anstrengungen in den letzten Tagen und Stunden vor dem Wahlgang werden auf diese „precincts“ konzentriert – man mobilisiert scheinbar neutral zum Urnengang und kann doch sicher sein, dass 65% und mehr der Mobilisierten im gewünschten Sinn abstimmen werden.
Doch auch schon vor der GOTV-Phase sind vergangene Precinct-by-Precinct-Wahlergebnisse relevant, denn je nach Ressourcenlage verbietet sich der Versuch, Wähler in solchen Precincts anzusprechen, die zuvor mit Mehrheit die andere Partei gewählt haben. Bei Präsidentschaftswahlen ergibt diese Logik – auf der Ebene der Einzelstaaten – eine Konzentration auf Staaten mit knappen Mehrheiten und auf sogenannte „swing states“, Staaten, in denen die Mehrheiten oft wechseln. Diese Staaten werden zu den Schlachtfeldern des Präsidentschaftswahlkampfs („battleground states“), welcher in den anderen Staaten faktisch überhaupt nicht stattfindet – es sei denn, ein Kandidat hat signifikant mehr finanzielle Ressourcen und eine große Schar mobilisierbarer Anhänger in Staaten, die normalerweise außer Konkurrenz wären. Aktuell ist dies wohl ein Vorteil für Barack Obama, der so seinen Konkurrenten John McCain zwingt, Geld und Zeit in Staaten aufzuwenden, die er schon für gewonnen gehalten hat.
Wie kam es zur Anwendung des Instruments Microtargeting in der Politik? Als George W. Bush im Jahr 2000 nicht die Mehrheit der Stimmen im Land gewinnen konnte, war dies eine böse Überraschung für den Chefstrategen der Republikanischen Partei, Karl Rove. Er hielt die Demokratischen Get out the vote-Anstrengungen für überlegen und startete das „72-Stunden-Projekt“ zur Verbesserung der Republikanischen Wähleransprache in den letzten 72 Stunden vor der Wahl. In folgenden Wahlen, z.B. bei Gouverneurswahlen in Virginia, wurde ein Teil der Wähler absichtlich nicht angesprochen, und in nachträglichen Befragungen wurde mit Hilfe dieser „Kontrollgruppe“ der Effekt bestimmter Wählerinformationen auf das Abstimmungsverhalten gemessen. Der erste Schritt hin zum „Microtargeting“, einer stärker zielgruppenspezifischen Wähleransprache, war getan.
Die Wahlkampfstrategen beider Parteien gelangten zu der Erkenntnis, dass Wahlwerbung immer gezielter erfolgen muss. Zwar ist die breite Fernsehwerbung insgesamt immer noch das wichtigste Werbemittel in Präsidentschaftswahlen, aber aufgrund der großen Zahl an Fernsehprogrammen, der Konkurrenz des Internets und den veränderten Sehgewohnheiten der Amerikaner geht sie inzwischen an zu vielen Bürgern vorbei. Microtargeting, also die zielgruppenspezifische oder gar individualisierte Ansprache von Wählerinnen und Wählern, bezieht sich stark auf Praktiken, die im Produktmarketing seit längerem üblich sind. Technische Voraussetzung sind umfassende Datenbanken mit leicht zuzuordnenden und kombinierbaren Informationen. Die Fragen sind selbstverständlich andere: Wer wird überhaupt zur Wahl gehen? Wer unterstützt welchen Kandidaten? Wer ist unentschieden? Wer interessiert sich für welches Thema? Wer ist ansprechbar? Zum Beispiel sind regelmäßige Kirchgänger mehrheitlich Republikaner – aber sie sind nicht alle gleich! Aus Sicht der Demokraten ist es sehr wertvoll, diejenigen Kirchgänger identifizieren zu können, die mit einer Botschaft sozialer Gerechtigkeit angesprochen werden können.
Lange hatten die lokalen Wahlkampfbüros, d.h. die lokalen Parteigremien, die fast ausschließlich auf Wahlkämpfe fokussiert sind, oft genug nur eine schwer zu pflegende Zettelwirtschaft in Karteikästen zur Verfügung, damit Freiwillige einen einigermaßen schnellen Zugriff auf bekannte Unterstützer organisieren konnten. Heute erlaubt die Entwicklung von Datenbanktechnologie und Datenhandel die gezielte Ansprache von Wählerinnen und Wählern auf der Basis von Annahmen und Vorhersagen bezüglich der wahlrelevanten Konsequenzen von bestimmten Zeitschriftenabonnements, Konsumgewohnheiten, Mitgliedschaften (z.B. Kirche, Gewerkschaft, National Rifle Association), Spenden und anderen Aktivitäten von Wählern.
Datengrundlage ist das Wählerverzeichnis, das von kommerziellen Anbietern wie z.B. Catalist aufbereitet, bereinigt und erweitert wird, um individualisierte oder haushaltsbezogene Datensätze zu erhalten – eine Schwierigkeit dabei ist oft die fehlende Kompatibilität vorhandener und neuer Datensätze. Zunächst sind Daten aus vergangenen Wahlen und öffentlich verfügbare Daten wichtig. Das Wissen lokaler Parteiorganisationen darf nicht unterschätzt werden. Zusätzliche Daten stammen zum einen von befreundeten Organisationen, die z.B. ihre Mitgliedschafts- oder Spenderlisten weitergeben. Sehr genaue Informationen werden dann auch kommerziell erworben. Die Daten stammen letztlich von den Kunden selbst: Jeder Vertragsabschluss, jede Rabattkarte, jedes Abonnement, jede selbst ins Internet gestellte Information kann in Kundendatenbanken eingehen, die für direktes Produktmarketing, aber auch für die zielgruppenspezifische oder gar individualisierte politische Ansprache benutzt werden kann.
Die derart gesammelten und ausgewerteten Daten erlauben zunächst zwei einfache statistische Zuordnungen für jeden Wähler: Wie wahrscheinlich ist es, dass jemand überhaupt zur Wahl geht, und wie wahrscheinlich ist es, dass jemand einen bestimmten Kandidaten unterstützt. Microtargeting hilft in einem zweiten Schritt dabei, die richtige Botschaft an die richtigen Menschen zu bringen, um die Wahrscheinlichkeiten zugunsten eines Kandidaten zu verändern. Auch dieser Schritt basiert auf statistischen Modellen – „issue models“, die vorhersagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit jemand sich für ein bestimmtes Thema wie z.B. Bildung, Abtreibung, Irak-Krieg interessiert. Mit diesen Modellen können Gruppen von Menschen identifiziert werden, die bestimmte Wertorientierungen und andere Charakteristika teilen. Diese Methode ist nicht nur billiger als großangelegte Umfragen, die in der Vergangenheit zu diesem Zweck benutzt wurden, sondern die so gewonnenen Informationen sind auch besser handhabbar, d.h. sie können besser auf vorhandene individualisierte Datensätze bezogen werden.
Schließlich braucht Microtargeting eine Erfolgskontrolle durch Tests während des Wahlkampfs oder auch von Wahl zu Wahl. Dazu ist es notwendig, einen Teil der Zielgruppe bestimmter Informationen gezielt nicht anzusprechen, um später durch Umfragen und Vergleiche mit dieser Kontrollgruppe die Analyse der Effektivität der zielgruppenspezifischen Ansprache zu ermöglichen. Die gezielte Nichtansprache von Wählern scheint auf den ersten Blick kontraproduktiv, weil sie aktuell die Siegchancen reduzieren kann. Tatsächlich werden aber aufgrund knapper Ressourcen ohnehin fast nie alle Wähler angesprochen – und oft genug nicht die richtigen. Durch die Tests aber wird die Wahlkampforganisation zur lernenden Organisation.
Beide Parteien und auch befreundete Organisationen haben viel Geld in die Datenbanktechnologie und den Aufbau von Datenbanken investiert. Hatten die Republikaner 2004 noch einen eindeutigen Vorteil, konnten die Demokraten 2006 auch deshalb Mehrheiten in beiden Kammern des Kongresses gewinnen, weil sie unter der Führung ihres Vorsitzenden Howard Dean, der als Kandidat bereits Pionier bei der Nutzung des Internets war, in Bezug auf Microtargeting aufgeholt hatten. Ist nun mit großem finanziellem Aufwand nur geschafft worden, dass niemand mehr einen Vorteil hat? Tatsächlich ist wohl noch viel Luft nach oben, denn Microtargeting kann in Bereichen wie Fundraising, Internetkommunikation und spezialisierter Kabelfernsehwerbung noch ausgebaut werden. Die Herausforderung für die Wahlkämpfer ist es, angesichts all der datenbankgestützten statistischen Modellschreinerei nicht aus den Augen zu verlieren, dass es immer um den Aufbau von Beziehungen zu wirklichen Menschen geht. Dafür bleiben die lokalen Organisationen und Aktivisten und ihre intime Kenntnis der Geschichte von Wahlkreisen wichtig. Die Verknüpfung der neuen Technologien mit traditionellen Formen der Ansprache muss gelingen, um erfolgreich zu sein.
Nach den Parteitagen der Demokraten und Republikaner gab es in den deutschen Medien Diskussionen über die Möglichkeit solch perfekter Inszenierungen von Einigkeit, Patriotismus und Begeisterung in Deutschland. Die meisten Kommentatoren kamen angesichts der eher dumpfen Vereinssitzungsatmosphäre deutscher Parteitage zu dem Ergebnis, dass deutsche Politiker sich bei solchen Versuchen eher blamieren würden. Wie aber sieht es mit der Übertragbarkeit von Wahlkampftechniken wie Microtargeting aus? Immerhin ließ sich die Schröder-SPD in der Vergangenheit von den Clinton-Wahlkämpfen inspirieren; die „Kampa“ war am „War Room“ der Demokraten orientiert. Angesichts von aktuellen Diskussionen über Verletzungen von Datenschutzregeln und Missbrauch von Persönlichkeitsrechten bei Produktwerbung und Marketing per Telefon sowie insgesamt großer Politik-, Parteien- und Demokratieverdrossenheit, ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass deutsche Parteien kurz- und mittelfristig umfassende Microtargeting-Anstrengungen unternehmen werden. Neben juristischen Fragen müssten Fragen der politischen Kultur und nicht zuletzt finanzielle Fragen geklärt werden – ein Nachteil von Microtargeting sind die hohen Kosten.
Zuerst erschienen in: Think Tank. Das Magazin von Berlinpolis, Vol. 3, No. 10, 2008, pp. 23-25.