The State of American Democracy

Research-based Analysis and Commentary by the Department of Politics at the John-F.-Kennedy Institute

Thomas Greven: Amerikanische Sintflut

Der Zeichner Josh Neufeld erlebte die Folgen des Hurrikans Katrina in New Orleans als freiwilliger Helfer. Jetzt hat er die Versäumnisse nach der Katastrophe aufgearbeitet…

weiterlesen auf:

https://www.tagesspiegel.de/kultur/comics/Comics%3Bart18281,2930351

Thomas Greven: Von Freiheit und Unfreiheit im „Land of the Free“

Wie vielen Klischees haftet auch der sprichwörtlichen Freiheitsliebe der Amerikaner einige Wahrheit an. Ein aktuelles Beispiel: Dass eine von den großen Fragen der Innen- und Außenpolitik so offensichtlich überforderte Provinzpolitikerin wie Sarah Palin tatsächlich zur Kandidatin der Republikanischen Partei für das Amt der US-Vizepräsidentin werden konnte, erklärt sich aus einer Finte republikanischer Strategen. Sie setzten auf die weit verbreitete Staatsskepsis der Amerikaner, die ihre geliebte „Freiheit vom Staat“ am wenigsten von einer noch nicht von Washington vereinnahmten Außenseiterin gefährdet sehen.

Keine Frage, diese Freiheit vom Staat, welche in der amerikanischen Verfassung festgeschrieben wurde, war eine historische Errungenschaft und sie prägt die politische Kultur, die Zivilgesellschaft und das Alltagsleben der Amerikaner bis heute. Insbesondere den großen Sprung von der Toleranz verschiedener Religionen durch den Staat hin zum individuellen Recht auf Religionsfreiheit gilt es hier zu erwähnen. Doch bedarf es hier kaum Lobeshymnen, schließlich feiern die Bewohner des „land of the free“ sich ausreichend selbst. Allen voran ging der ehemalige Präsident George W. Bush, der tatsächlich kaum einen öffentlichen Satz sagen konnte, ohne von Freiheit zu sprechen und insbesondere  von der Rolle der USA bei deren Verbreitung in alle Welt. (Der Rest des Globus wurde dieser Reden bekanntlich irgendwann recht überdrüssig.)
Auch bedarf es wohl keiner weiteren Kritik der zum Teil massiven Einschränkungen bürgerlicher Freiheiten (vor allem von Nicht-Amerikanern) durch Maßnahmen eines durch die Anschläge vom 11. September 2001 verschreckten Sicherheitsstaates. Derzeit kann man sogar häufiger Berichte über die Wieder-Einschränkung der ausgeweiteten Vollmachten der Exekutive lesen. Die totgesagten Checks and Balances, die gegenseitige Kontrollen der Staatsgewalten, ebenfalls in der US-Verfassung verankert, existieren also doch noch, weil auch die konservativsten Richter dem Präsidenten die Grenzen seiner Machtbefugnis zeigen wollen – wenn es schon der Kongress nicht kann, dessen institutionelle Rolle stärker von Parteilichkeit beschränkt ist.

Widersprüche und Beschränkungen der Freiheit finden sich auch in weniger breit besprochenen Bereichen amerikanischen Lebens. Zum Beispiel ist nicht klar, ob jenseits des reinen Verfassungsrechts die Religionsfreiheit auch die Freiheit einschließt, überhaupt nicht religiös zu sein. Mit John F. Kennedy konnte einst ein Katholik Präsident werden – in einem Land, wo lange Zeit für viele der Papst als der Antichrist galt –, aber könnte es ein Atheist? Und wie verträgt sich der hohe Wert der Freiheit mit den merkwürdigen Beschränkungen des Tanzens (in New York benötigt jeder Tanzclub eine Lizenz von der Stadt, damit dort getanzt werden darf!) und des öffentlichen Trinkens (in San Francisco ist beispielsweise um zwei Uhr nachts definitiv Schluss: „Drink up, mister!“)?
Die größten, nicht so unmittelbar auf puritanische Wurzeln zurückzuführenden alltäglichen Einschränkungen der Freiheit finden sich jedoch in der Arbeitswelt. Auf der derzeit geradezu unvermeidlichen Website youtube.com kursiert ein Video mit dem Namen „Your new job“, welches den so genannten Employee Free Choice Act (EFCA) bewirbt, ein Gesetz das Arbeitnehmern die gewerkschaftliche Organisation erleichtern soll. Barack Obama hat vor der Wahl die Unterstützung des EFCA angekündigt, schließlich wusste er, dass er ohne die Gewerkschaften und gewerkschaftlichen organisierten Wähler nicht ins Weiße Haus einziehen würde. Doch ob dem neuen Präsidenten das Gesetz je vorliegen wird, ist unklar, denn die Geschäftswelt leistet erbitterten Widerstand, der sich in eine republikanische Blockade des Gesetzes im Senat übersetzen kann – und dafür reichen schon entschlossene 41 von 100 Senatoren.

In „Your new job” sehen wir einen Manager im Anzug, der freundlich und enthusiastisch die Segnungen der amerikanischen Arbeitswelt anpreist, unter anderem mit dem Argument der Freiheit – wem der Job nicht passt, kann jederzeit gehen! Sicher, dieses Prinzip des „at will employment“ erlaubt auch den Unternehmen, das Arbeitsverhältnis von einer auf die nächste Minute zu beenden und den Gekündigten vom Sicherheitsdienst zum Ausgang begleiten zu lassen. Das ist eben der Preis der Freiheit. Die amerikanischen Arbeitgeber nutzen diese von Karl Marx „doppelt“ genannte Freiheit der Lohnabhängigen regelmäßig dazu, Gewerkschaftssympathisanten mit Kündigungen zu bedrohen oder zu bestrafen. Das passiert zwar nicht explizit, denn das ist in einem demokratischen Rechtsstaat selbstverständlich verboten. Aber es bedarf ja zum Glück der Unternehmen keines Kündigungsgrundes, solange kein Tarifvertrag einen Kündigungsschutz einführt. Die Beweislast liegt beim Gekündigten, der dann vielleicht drei Jahre später vor Gericht seine Wiedereinstellung erzwingt. Zu diesem Zeitpunkt ist der gewerkschaftliche Organisierungsversuch, der in den USA stets per Mehrheitsentscheidung Betrieb für Betrieb erfolgen muss, längst gescheitert.

Amerikanisten haben sich immer wieder mit der Frage beschäftigt, warum es „in den USA keinen Sozialismus” gibt. Die Antworten verweisen gewöhnlich auf amerikanische Besonderheiten wie den ausgeprägten Individualismus, die Abwesenheit feudaler Strukturen und das früh eingeführte Wahlrecht (für weiße Männer), aber dieser „American exceptionalism“ wurde und wird auch mit repressiven Maßnahmen betrieben und reproduziert. Die große Bedeutung der Freiheit für das amerikanische Selbstverständnis haben gleichwohl auch die Gewerkschaften und ihre demokratischen Unterstützer im Kongress erkannt. Der „Employee Free Choice Act“ greift die republikanische Praxis auf, Gesetzen Namen zu geben, die an amerikanische Grundwerte anknüpfen oder positiv assoziierte Begriffe enthalten, auch wenn der Gesetzesinhalt dem Hohn spricht (der „USA Patriot Act“, der die Bürgerrechte einschränkt, ist wohl das bekannteste Beispiel, schön ist aber auch ein „Clean Air“-Gesetz, dass die Standards für die Luftqualität herabsetzt).
Auch EFCA ist nicht unproblematisch. Das von den Gewerkschaften anstelle geheimer Wahlen gewünschte Verfahren, von einem neutralen Dritten Beitrittserklärungen zählen zu lassen (tatsächlich eher Absichtserklärungen, denn eine individuelle Gewerkschaftsmitgliedschaft ist in den USA nicht vorgesehen, die Gewerkschaften begründen sich immer kollektiv), kann auch heute schon vom Unternehmen freiwillig zugelassen werden. Die Unternehmen bevorzugen aber die geheime Wahl, allerdings nicht aus lauteren demokratischen Motiven, sondern weil sie den Zeitraum zwischen Beantragung der Wahl – hierfür sind Absichtserklärungen von 30 Prozent der Belegschaft notwendig – und Wahltermin für eine antigewerkschaftliche Kampagne nützen können. In der Praxis willigen Unternehmen regelmäßig nur dann in das „Card Check“-Verfahren ein, wenn die Gewerkschaften öffentlichen und wirtschaftlichen Druck auf das Unternehmen entwickelt haben. Da es mühselig und teuer ist, eine solche Kampagne zu starten, sind erfolgreiche Gewerkschaften wie die Dienstleistungsgewerkschaft SEIU dazu übergegangen, mit Unternehmen Vereinbarungen über die Organisierung mehrerer oder aller Betriebe zu treffen. Für das Versprechen, sich in diesem Verfahren neutral zu verhalten, wollen die Unternehmen aber Gegenleistungen, etwa Zugeständnisse bei zukünftigen Tarifverhandlungen. Solche Vereinbarungen zwischen Gewerkschaft und Unternehmen sind jedoch äußerst fragwürdig, weil die zukünftigen Mitglieder an ihnen ja nicht beteiligt sind. Die geschilderte Praxis ist innerhalb der US-Gewerkschaften daher sehr umstritten – sie wäre aber nach Änderung des Arbeitsrechts durch EFCA auch nicht mehr nötig, wie man in denjenigen kanadischen Provinzen sehen kann, wo EFCA-ähnliche Regeln gelten.

Die Unternehmen und republikanischen Kritiker von EFCA stoßen sich vor allem daran, dass die im Titel des Gesetzes in Aussicht gestellte freie Entscheidung („free choice“) der Tatsache Hohn spricht, dass nach der Mehrheitsentscheidung für die Gewerkschaft jeder Beschäftigte Mitglied werden oder jedenfalls eine Gebühr für die Dienstleistungen der Gewerkschaft entrichten muss. Diese Zwangsmitgliedschaft wird als „unamerikanisch“ empfunden. Die grundsätzliche Kritik an diesem Aspekt der amerikanischen industriellen Beziehungen ist nicht ganz unberechtigt, doch offensichtlich heuchlerisch. Denn die Geschäftswelt ist offensichtlich nicht zu einem System flächendeckender Tarifvereinbarungen bereit, das die Gewerkschaften besser in die Lage versetzen würde, Trittbrettfahrer zu dulden. Allerdings kann man an den teilweise dramatisch gesunkenen Mitgliederzahlen deutscher Gewerkschaften sehen, dass die Toleranz von trittbrettfahrenden Nichtmitgliedern, die ohne Eigenleistung in den Genuss von Tarifvereinbarungen kommen, organisationspolitische Grenzen hat. Der Kampf um EFCA dient letztlich dazu, sicherzustellen, dass bürgerliche Freiheiten auch am Arbeitsplatz nicht gänzlich aufgegeben werden müssen. Nicht nur die „Freiheit vom Staat“ ist bedeutsam, sondern über das Ausüben von Vereinigungsfreiheit auch die „Freiheit vor unternehmerischer Willkür“.

Zuerst erschienen in: Fundiert. Das Wissenschaftsmagazin der Freien Universität Berlin, No. 2, 2008, pp. 79-83.

Thomas Greven: Wissen ist Macht: Microtargeting im US-Präsidentschaftswahlkampf 2008

Lange Zeit war eine der wichtigsten Personen in amerikanischen Wahlkämpfen der sogenannte „Precinct Captain“, der in einem (städtischen) Wahlkreis  „seine Pappenheimer kannte“, d.h. wusste, wer zur Stimmabgabe für seine Partei mobilisiert werden konnte. Diese Aufgabe wurde allerdings stark erleichtert durch die ethnische Segregation amerikanischen Wohnens – italienische Viertel grenzten an irische Viertel usw. Durch geschickte Zuschnitte der Wahlbezirke sowie durch etablierte Klientelbeziehungen der Parteien zu verschiedenen Bevölkerungsgruppen, insbesondere der Demokratischen Partei zu neuen Immigrantengruppen, konnten Wahlergebnisse für lokale Ämter gewöhnlich leicht vorhergesagt werden. Noch heute ist ein Schlüsselsatz amerikanischer Wahlkämpfer: Demographie ist Schicksal.

Das Prinzip des „winner takes all“, also der relativen Mehrheitswahl von Einzelkandidaten ohne proportionale Berücksichtigung unterlegener Parteien, macht das Wissen über Wählergruppen bis heute auch in überregionalen Wahlen mit entscheidend für den Wahlausgang. Durch die Institution des Wahlmännerkollegiums wird selbst die Präsidentschaftswahl letztlich in den Staaten entschieden; landesweite Umfragewerte sind nur bedingt aussagekräftig.

Der Anreiz, viele Informationen über die Wählerinnen und Wähler zu sammeln, ist in den USA also systembedingt hoch. Lange reichten Informationen über Ethnizität und Religion aus, um verlässliche Vorhersagen zu treffen; trotz großer Überschneidungen zu Klassenkategorien wie Einkommen und Vermögen sind diese Aspekte bis heute wichtig, auch weil sie immer noch eine, wenn auch abgeschwächte, räumliche Dimension haben – manchmal reicht die Postleitzahl, um zu wissen wie jemand abstimmen wird. Traditionell werden für die Wahlkampfanstrengungen insbesondere Informationen über vergangene Wahlen verwendet. Die Ansprache der Wähler erfolgt also konzentriert in den Wahlkreisen, in denen man in der Vergangenheit gut abgeschnitten hat; die Faustregel ist eine Quote von 65%plus. Gerade die sogenannten „Get out the vote“ (GOTV) Anstrengungen in den letzten Tagen und Stunden vor dem Wahlgang werden auf diese „precincts“ konzentriert – man mobilisiert scheinbar neutral zum Urnengang und kann doch sicher sein, dass 65% und mehr der Mobilisierten im gewünschten Sinn abstimmen werden.

Doch auch schon vor der GOTV-Phase sind vergangene Precinct-by-Precinct-Wahlergebnisse relevant, denn je nach Ressourcenlage verbietet sich der Versuch, Wähler in solchen Precincts anzusprechen, die zuvor mit Mehrheit die andere Partei gewählt haben. Bei Präsidentschaftswahlen ergibt diese Logik – auf der Ebene der Einzelstaaten – eine Konzentration auf Staaten mit knappen Mehrheiten und auf sogenannte „swing states“, Staaten, in denen die Mehrheiten oft wechseln. Diese Staaten werden zu den Schlachtfeldern des Präsidentschaftswahlkampfs („battleground states“), welcher in den anderen Staaten faktisch überhaupt nicht stattfindet – es sei denn, ein Kandidat hat signifikant mehr finanzielle Ressourcen und eine große Schar mobilisierbarer Anhänger in Staaten, die normalerweise außer Konkurrenz wären. Aktuell ist dies wohl ein Vorteil für Barack Obama, der so seinen Konkurrenten John McCain zwingt, Geld und Zeit in Staaten aufzuwenden, die er schon für gewonnen gehalten hat.

Wie kam es zur Anwendung des Instruments Microtargeting in der Politik? Als George W. Bush im Jahr 2000 nicht die Mehrheit der Stimmen im Land gewinnen konnte, war dies eine böse Überraschung für den Chefstrategen der Republikanischen Partei, Karl Rove. Er hielt die Demokratischen Get out the vote-Anstrengungen für überlegen und startete das „72-Stunden-Projekt“ zur Verbesserung der Republikanischen Wähleransprache in den letzten 72 Stunden vor der Wahl. In folgenden Wahlen, z.B. bei Gouverneurswahlen in Virginia, wurde ein Teil der Wähler absichtlich nicht angesprochen, und in nachträglichen Befragungen wurde mit Hilfe dieser „Kontrollgruppe“ der Effekt bestimmter Wählerinformationen auf das Abstimmungsverhalten gemessen. Der erste Schritt hin zum „Microtargeting“, einer stärker zielgruppenspezifischen Wähleransprache, war getan.

Die Wahlkampfstrategen beider Parteien gelangten zu der Erkenntnis, dass Wahlwerbung immer gezielter erfolgen muss. Zwar ist die breite Fernsehwerbung insgesamt immer noch das wichtigste Werbemittel in Präsidentschaftswahlen, aber aufgrund der großen Zahl an Fernsehprogrammen, der Konkurrenz des Internets und den veränderten Sehgewohnheiten der Amerikaner geht sie inzwischen an zu vielen Bürgern vorbei. Microtargeting, also die zielgruppenspezifische oder gar individualisierte Ansprache von Wählerinnen und Wählern, bezieht sich stark auf Praktiken, die im Produktmarketing seit längerem üblich sind. Technische Voraussetzung sind umfassende Datenbanken mit leicht zuzuordnenden und kombinierbaren Informationen. Die Fragen sind selbstverständlich andere: Wer wird überhaupt zur Wahl gehen? Wer unterstützt welchen Kandidaten? Wer ist unentschieden? Wer interessiert sich für welches Thema? Wer ist ansprechbar? Zum Beispiel sind regelmäßige Kirchgänger mehrheitlich Republikaner – aber sie sind nicht alle gleich! Aus Sicht der Demokraten ist es sehr wertvoll, diejenigen Kirchgänger identifizieren zu können, die mit einer Botschaft sozialer Gerechtigkeit angesprochen werden können.

Lange hatten die lokalen Wahlkampfbüros, d.h. die lokalen Parteigremien, die fast ausschließlich auf Wahlkämpfe fokussiert sind, oft genug nur eine schwer zu pflegende Zettelwirtschaft in Karteikästen zur Verfügung, damit Freiwillige einen einigermaßen schnellen Zugriff auf bekannte Unterstützer organisieren konnten. Heute erlaubt die Entwicklung von Datenbanktechnologie und Datenhandel die gezielte Ansprache von Wählerinnen und Wählern auf der Basis von Annahmen und Vorhersagen bezüglich der wahlrelevanten Konsequenzen von bestimmten Zeitschriftenabonnements, Konsumgewohnheiten, Mitgliedschaften (z.B. Kirche, Gewerkschaft, National Rifle Association), Spenden und anderen Aktivitäten von Wählern.

Datengrundlage ist das Wählerverzeichnis, das von kommerziellen Anbietern wie z.B. Catalist aufbereitet, bereinigt und erweitert wird, um individualisierte oder haushaltsbezogene Datensätze zu erhalten – eine Schwierigkeit dabei ist oft die fehlende Kompatibilität vorhandener und neuer Datensätze. Zunächst sind Daten aus vergangenen Wahlen und öffentlich verfügbare Daten wichtig. Das Wissen lokaler Parteiorganisationen darf nicht unterschätzt werden. Zusätzliche Daten stammen zum einen von befreundeten Organisationen, die z.B. ihre Mitgliedschafts- oder Spenderlisten weitergeben. Sehr genaue Informationen werden dann auch kommerziell erworben. Die Daten stammen letztlich von den Kunden selbst: Jeder Vertragsabschluss, jede Rabattkarte, jedes Abonnement, jede selbst ins Internet gestellte Information kann in Kundendatenbanken eingehen, die für direktes Produktmarketing, aber auch für die zielgruppenspezifische oder gar individualisierte politische Ansprache benutzt werden kann.

Die derart gesammelten und ausgewerteten Daten erlauben zunächst zwei einfache statistische Zuordnungen für jeden Wähler: Wie wahrscheinlich ist es, dass jemand überhaupt zur Wahl geht, und wie wahrscheinlich ist es, dass jemand einen bestimmten Kandidaten unterstützt. Microtargeting hilft in einem zweiten Schritt dabei, die richtige Botschaft an die richtigen Menschen zu bringen, um die Wahrscheinlichkeiten zugunsten eines Kandidaten zu verändern. Auch dieser Schritt basiert auf statistischen Modellen – „issue models“, die vorhersagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit jemand sich für ein bestimmtes Thema wie z.B. Bildung, Abtreibung, Irak-Krieg interessiert. Mit diesen Modellen können Gruppen von Menschen identifiziert werden, die bestimmte Wertorientierungen und andere Charakteristika teilen. Diese Methode ist nicht nur billiger als großangelegte Umfragen, die in der Vergangenheit zu diesem Zweck benutzt wurden, sondern die so gewonnenen Informationen sind auch besser handhabbar, d.h. sie können besser auf vorhandene individualisierte Datensätze bezogen werden.

Schließlich braucht Microtargeting eine Erfolgskontrolle durch Tests während des Wahlkampfs oder auch von Wahl zu Wahl. Dazu ist es notwendig, einen Teil der Zielgruppe bestimmter Informationen gezielt nicht anzusprechen, um später durch Umfragen und Vergleiche mit dieser Kontrollgruppe die Analyse der Effektivität der zielgruppenspezifischen Ansprache zu ermöglichen. Die gezielte Nichtansprache von Wählern scheint auf den ersten Blick kontraproduktiv, weil sie aktuell die Siegchancen reduzieren kann. Tatsächlich werden aber aufgrund knapper Ressourcen ohnehin fast nie alle Wähler angesprochen – und oft genug nicht die richtigen. Durch die Tests aber wird die Wahlkampforganisation zur lernenden Organisation.

Beide Parteien und auch befreundete Organisationen haben viel Geld in die Datenbanktechnologie und den Aufbau von Datenbanken investiert. Hatten die Republikaner 2004 noch einen eindeutigen Vorteil, konnten die Demokraten 2006 auch deshalb Mehrheiten in beiden Kammern des Kongresses gewinnen, weil sie unter der Führung ihres Vorsitzenden Howard Dean, der als Kandidat bereits Pionier bei der Nutzung des Internets war, in Bezug auf Microtargeting aufgeholt hatten. Ist nun mit großem finanziellem Aufwand nur geschafft worden, dass niemand mehr einen Vorteil hat? Tatsächlich ist wohl noch viel Luft nach oben, denn Microtargeting kann in Bereichen wie Fundraising, Internetkommunikation und spezialisierter Kabelfernsehwerbung noch ausgebaut werden. Die Herausforderung für die Wahlkämpfer ist es, angesichts all der datenbankgestützten statistischen Modellschreinerei nicht aus den Augen zu verlieren, dass es immer um den Aufbau von Beziehungen zu wirklichen Menschen geht. Dafür bleiben die lokalen Organisationen und Aktivisten und ihre intime Kenntnis der Geschichte von Wahlkreisen wichtig. Die Verknüpfung der neuen Technologien mit traditionellen Formen der Ansprache muss gelingen, um erfolgreich zu sein.

Nach den Parteitagen der Demokraten und Republikaner gab es in den deutschen Medien Diskussionen über die Möglichkeit solch perfekter Inszenierungen von Einigkeit, Patriotismus und Begeisterung in Deutschland. Die meisten Kommentatoren kamen angesichts der eher dumpfen Vereinssitzungsatmosphäre deutscher Parteitage zu dem Ergebnis, dass deutsche Politiker sich bei solchen Versuchen eher blamieren würden. Wie aber sieht es mit der Übertragbarkeit von Wahlkampftechniken wie Microtargeting aus? Immerhin ließ sich die Schröder-SPD in der Vergangenheit von den Clinton-Wahlkämpfen inspirieren; die „Kampa“ war am „War Room“ der Demokraten orientiert. Angesichts von aktuellen Diskussionen über Verletzungen von Datenschutzregeln und Missbrauch von Persönlichkeitsrechten bei Produktwerbung und Marketing per Telefon sowie insgesamt großer Politik-, Parteien- und Demokratieverdrossenheit, ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass deutsche Parteien kurz- und mittelfristig umfassende Microtargeting-Anstrengungen unternehmen werden. Neben juristischen Fragen müssten Fragen der politischen Kultur und nicht zuletzt finanzielle Fragen geklärt werden – ein Nachteil von Microtargeting sind die hohen Kosten.

Zuerst erschienen in: Think Tank. Das Magazin von Berlinpolis, Vol. 3, No. 10, 2008, pp. 23-25.

Thomas Greven: Die Rückkehr des weißen Mannes

Sicher, die amerikanische Präsidentschaftswahl 2008 verspricht, einzigartig zu werden. Zum ersten Mal könnte eine Frau das erste Amt im Staat bekleiden (und gleichzeitig eine quasi dynastische Entwicklung fortschreiben) oder ein Schwarzer. Zwar hat der letzte im Wahlkampf verbliebene weiße Mann nun einen Vorteil, weil seine Konkurrenten sich noch gegenseitig bekriegen und er in den Umfragen auch deshalb punkten kann, aber historisch wäre seine Wahl kaum. Eben ein weiterer, wenn auch ziemlich alter, weißer Mann im Weißen Haus.

Und doch wird es auf die weißen Männer ankommen in diesem Herbst, denn sie sind das wesentliche Bindeglied zwischen den Herausforderungen für John McCain und den Schwachstellen von Hillary Clinton und Barack Obama. Wer auch immer für die Demokraten antritt, wird versuchen, die Wahl zu einem Referendum über George W. Bush zu machen und also behaupten, die Wahl McCains würde eine dritte Amtszeit für Bush bedeuten. Nun gilt McCain in seiner Partei durchaus als „Maverick“, der sowohl seine Fraktion als auch die Regierung wiederholt herausgefordert hat, z.B. bei seiner Ablehnung der Steuersenkungen (deren Verlängerung er dann aber zugestimmt hat), bei der Regelung der Wahlkampffinanzierung und in der Folterfrage. In der für die Wahl zentralen Frage des Irak-Krieges scheint er allerdings noch entschlossener als der Präsident, die Sache durchzufechten. Erfahren in Besatzungssituationen, war er ein früher Befürworter des „Surge“. Doch der Krieg ist unpopulär; McCain kann hier nur über die Anrufung von Patriotismus und letztlich auch Militarismus punkten, und das wohl am ehesten bei weißen Männern, die dafür insbesondere im Süden und in den ländlichen Gebieten ansprechbar sind.

Die zweite Herausforderung für McCain ist, den Mangel an Begeisterung auf Seiten des sozialkonservativen Teils der Republikanischen Wählerschaft zu kompensieren, der für die Wahlerfolge der letzten Jahre so bedeutsam war. Die christlich-konservative Basis ist nach acht Jahren Bush desillusioniert, und John McCain ist nicht ihr Kandidat – sie traut ihm nicht. Viele werden in die traditionelle politische Abstinenz zurückkehren, manche werden angesichts drängender wirtschaftlicher Probleme gar Demokratisch wählen. Vielleicht wird McCain über die Wahl seines „running mate“ versuchen, doch noch eine Begeisterung zu erzeugen. Vor allem aber wird er vermutlich nicht der Versuchung widerstehen, Schwachstellen des Demokratischen Kandidaten auszunutzen, wer immer es auch sei, um über die weiße männliche Wählerschaft den Teilausfall der christlichen Basis auszugleichen.

Clinton und Obama sind derzeit gegenüber McCain im Nachteil, weil sie immer noch um eine Entscheidung kämpfen. Es kann sein, dass am Ende die Superdelegates über die Nominierung entscheiden. Bezüglich des von beiden Kandidaten versprochenen „Change“ liegt das Versprechen wohl nicht so sehr in den konkreten Politikvorschlägen – die zielen erstens kaum auf fundamentalen Wandel und stehen zweitens unter dem Vorbehalt der Zustimmung mindestens des Kongresses – sondern in den Personen begründet und in dem, was sie jeweils symbolisch repräsentieren. Als erste Frau steht Clinton für die Vollendung der Emanzipation. Obama steht nicht so sehr für einen Schlussstrich unter dem Problem von „race“ in der amerikanischen Politik und Geschichte, auch wenn manche sich das wohl wünschen, sondern er kann der Einiger sein, den sich die Amerikaner seit langem wünschen. In beiden Versprechen liegen Stärken, aber auch Schwächen, die McCain über die weiße männliche Wählerschaft ausnutzen kann.

Hillary Clinton kann mit der Aussicht, die erste Präsidentin zu werden, viele Anhänger mobilisieren, vor allem unter der weiblichen Wählerschaft. Auch die männlichen Amerikaner sind grundsätzlich wohl bereit für eine Präsidentin, nicht aber ohne weiteres für Frau Clinton. Als Mensch symbolisiert sie – trotz aller Versuche, staatsmännisch und präsidentiell zu wirken, aber auch als Mutter zu punkten – für viele Amerikaner den Verfall der traditionellen Familienwerte seit der „Counterculture“ der 1960er Jahre, vermittelt insbesondere über das Recht auf Abtreibung. Diese Rolle teilt sie mit ihrem Mann. Als Frau steht sie darüber hinaus für die von vielen immer noch als Bedrohung empfundene Emanzipation. Man erinnere sich nur an den Hass, der Clinton entgegenschlug als sie es als First Lady wagte, sich in die Politikformulierung einzumischen und eine Kommission zur Reform des Gesundheitswesens leitete. Der Kandidat John McCain, selbst leidgeprüft bezüglich derartiger Angriffe, würde nicht zögern, mittels der Angriffsflächen die Clinton bietet – berechtigt oder, angesichts ihrer Anstrengungen wahrscheinlicher, unberechtigt – zu mobilisieren. Doch sind es nicht gerade die weißen Männer ohne große Bildung oder Einkommen, die Clinton jetzt wählen (und die ihre Hoffnung am Leben erhalten, weil Pennsylvania demographisch Ohio ähnlich ist)? Wie sollen diese gegen sie in Stellung gebracht werden? Nun, die Männer der Hauptwahl sind andere als die Männer der Vorwahl. An den Demokratischen Vorwahlen beteiligen sich viele Gewerkschaftsmitglieder. Nicht dass diese automatisch weniger anfällig für eine frauenfeindliche Wahlkampfstrategie wären, aber sie werden durch den von Clinton immerhin angedeuteten ökonomischen Populismus angesprochen sowie vielleicht durch die Erinnerung an ökonomisch gute Zeiten in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre, d.h. an die Präsidentschaft Bill Clintons.

Für viele Beobachter und vor allem Unterstützer verkörpert Obama das größte Versprechen, das ein amerikanischer Politiker seit langer Zeit gegeben hat – auf Wandel im Sinne einer neuen politischen Kultur. Er verspricht, der Einiger zu sein, der George W. Bush sehr deutlich nicht war, nicht nur bezüglich der (übertriebenen) Spaltung zwischen „rot und blau“, sondern auch bezüglich der ältesten Konfliktlinie der amerikanischen Politik: Race. Die Art und Weise, mit der Obama auf den Versuch reagiert hat, ihn für umstrittene Äußerungen seines langjährigen Predigers in Sippenhaft zu nehmen, zeigt, dass es hier um mehr als nur Charisma geht. Er sieht beide Seiten als in dieser Frage befangen und gefangen an und will sich nicht für eine Seite vereinnahmen lassen. Nun könnte man zu Recht sagen, dass er als eindeutiger Kandidat der Schwarzen nie eine Chance gehabt hätte, aber es ist ihm bisher gelungen, glaubwürdig ein Kandidat jenseits der Hautfarbe zu sein. Die Bewegung, die Obama trägt, ist so vielfältig wie Amerika. Doch auch hier würde McCain vermutlich nicht widerstehen können und die offenen und vor allem die versteckten Vorbehalte der Weißen – und hier vor allem der Männer – für seine Zwecke nutzen, wiederum offen, aber vor allem versteckt, d.h. kodiert.

Ob die Obama-Bewegung die „Angst vor dem schwarzen Mann“ überwinden kann, wird auch davon abhängen, ob sie selbst schon mehr ist als nur ein Wahlverein. Als solcher wird sie derzeit von einer Welle der Begeisterung für ein Individuum getragen. Es ist ganz ausgeschlossen, dass diese Begeisterung ausreicht, um nach der Wahl die systembedingten und kulturellen Widerstände gegen jeglichen fundamentalen Wandel hin zu einer im weitesten Sinne sozialdemokratischen Politik zu überwinden. Kurz gesagt, die Republikanischen Senatoren werden sich davon nicht beeindrucken lassen und die Lobbys z.B. im Gesundheitssektor auch nicht. Möglicherweise stößt die „Bewegung“ aber schon vorher an ihre Grenzen, angesichts der Rückkehr des weißen Mannes in den amerikanischen Wahlkampf.

Frank Unger: Für wen hätte Jesus gestimmt – Ein neuer Evangelikalismus

Etwa ein Viertel der amerikanischen Bevölkerung versteht sich selbst als „evangelicals“, was im Deutschen meist mit „Evangelikale“ übersetzt wird. Das gibt keinen richtigen Sinn, denn niemand kann sich etwas Konkretes darunter vorstellen. Die eigentlich der deutschen Begriffswelt angemessene Übersetzung müsste „Pietisten“ lauten, denn denen entsprechen sie am ehesten. Denn es handelt sich um aktive protestantische Christen, die angeben, ihren besonders starken Glauben entweder einer ganz persönlichen Begegnung mit Jesus oder einem starken Bekehrungserlebnis (z.B. bei einer Missionskampagne) zu verdanken. In Amerika gibt es Massenbekehrungs-Kampagnen charismatischer (bzw. rhetorisch-werbepsychologisch versierter) Wander-Prediger (heute TV-Prediger) seit undenklichen Zeiten, weit vor der Unabhängigkeit. Aktiver Pietismus ist mindestens so typisch amerikanisch wie Apfelstrudel und die Begeisterung für von ausgewachsenen, uniformierten Männern gespielte Schlagballmatches.

Weiterlesen bei Stars & Stripes…

Thomas Greven/Wilfried Schwetz: Transnationale Lernprozesse – Erfahrungen mit der grenzüberschreitenden Verbreitung gewerkschaftlicher Strategien

Für Gewerkschaften ist das grenzüberschreitende Organisationslernen bisher
weniger selbstverständlich als für Unternehmen. Da der Blick auf die
Erfahrungen in anderen Ländern erlaubt, das strategische Handlungsrepertoire
über die konzeptionellen Grenzen der eigenen institutionellen Einbindung
hinaus zu erweitern, werden jedoch derzeit die amerikanischen Konzepte des
„Organizing“ und der „strategischen Kampagne“ von deutschen
Gewerkschaften, insbesondere von ver.di, diskutiert und angewendet. Auf
der Basis organisationssoziologischer Überlegungen bearbeitet der Beitrag
folgende Fragen: Welche Beachtung wird den spezifischen Entstehungsund
Erfolgsbedingungen der zu importierenden Strategien geschenkt? Wie werden
die Herausforderungen der institutionellen und kulturellen Passung der
Strategieinnovationen bewältigt, d.h. welche Konzepte werden übernommen
und wie werden sie in die deutschen Gewerkschaftskulturen und
das System der industriellen Beziehungen eingepasst?

Erschienen in: WSI-Mitteilungen 1/2008 

Thomas Greven: Die SEIU spielt die transnationale Karte

ORGANIZING nach US-Vorbild – Es wäre nicht ratsam, die strategischen
Kampagnen amerikanischer Gewerkschaften eins zu eins auf Deutschland zu
übertragen. Gleichwohl können sie das kämpferische Repertoire deutscher
Gewerkschaften erweitern.

Erschienen in: Mitbestimmung , 12/2007