Verfasserin: Mona Hasenstab (M.A. Interdisziplinäre Lateinamerikastudien, FU Berlin)
Das Thema Gender hat bis heute in den wenigsten Friedensprozessen und -verträgen Bedeutung erhalten, genauso wie die Partizipation von Frauen* an Friedensverhandlungen. Eine Studie von UN Women ergab, dass in insgesamt 31 Friedensprozessen zwischen 1992-2011 nur 9% der Verhandelnden Frauen* waren und sogar nur 4% Unterzeichner*innen (UN Women 2012: 3).
Im Jahr 2000 wurde die erste UN-Resolution (1325) der Agenda Frauen, Frieden und Sicherheit beschlossen und seit dem kamen noch insgesamt sieben weitere hinzu (1820, 1888, 1889, 1960, 2106, 2122, 2242). Diese Resolutionen fordern die Partizipation von Frauen in allen Bereichen der Friedens- und Sicherheitspolitik, Prävention von bewaffneten Konflikten durch die Integration einer Geschlechterperspektive sowie den Schutz von Frauen und Kindern insbesondere vor sexualisierter Gewalt in und nach bewaffneten Konflikten und die Sicherung ihrer Rechte (Hentschel 2011). Durch die UN-Resolution 1820 wird seit 2008 anerkannt, dass geschlechtsspezifische Gewalt eine Kriegstaktik ist. Es handelt sich nicht um eine Rand- oder vom Konflikt isolierte Erscheinung und muss deshalb in Friedensprozessen in die Aufarbeitung miteinbezogen werden und ihre Opfer müssen entschädigt werden. Trotz dieser Entwicklungen auf internationaler Ebene machen die Ergebnisse der Global Study on the Implementation of United Nations Security Council resolution 1325 aus dem Jahr 2015 deutlich, dass viele der Forderungen und Ziele längst nicht erreicht sind.
Gender-Blindness ist also nach wie vor vorherrschend in Friedensprozessen und -verträgen. Als in Havanna 2012 die Friedensverhandlungen zwischen der kolumbianischen Regierung und der Guerilla FARC begannen, war zunächst auf Hautptverhandlungsebene auf Regierungsseite keine und auf Seiten der FARC eine Frau präsent. Schnell wurden Forderungen nach einer höheren Beteiligung von Frauen* am Friedensprozess laut, vor allem durch Frauen- und feministische Organisationen, die seit Jahrzehnten für Frieden kämpfen und auf die geschlechtsspezifischen Auswirkungen des bewaffneten Konflikts aufmerksam machen. Im Oktober 2013 wurde durch Unterstützung von ONU Mujeres Colombia sowie der internationalen Gemeinschaft der Cumbre Nacional Mujeres y Paz in Bogotá organisiert, an dem insgesamt über 400 Frauen* teilnahmen und ihre Forderungen lautmachten. Durch den Druck wurde schließlich erreicht, dass die kolumbianische Regierung zwei Hauptverhandelnde nach Havanna entsandte, Maria Paulina Riveros und Nigeria Rentería. Ein Jahr später 2014 erfolgte dann die Gründung der subcomisión de género, die sich gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Organisationen mit allen Punkten des Vertrags auseinandergesetzt und Vorschläge für eine Genderperspektive und einen geschlechtergerechten Frieden ausgearbeitet hat. Die ersten drei Punkte des Friedensvertrags, die bereits zwischen Regierung und FARC ausgehandelt waren, wurden von der aus jeweils 5 Vertreter*innen jeder Seite bestehenden subcomisión de género überarbeitet und zu den drei noch ausstehenden Punkten haben sie Vorschläge gemacht, wie eine Genderperspektive integriert werden kann.
Frauen machen generell, aber auch im Kontext des kolumbianischen Konflikts die Mehrheit der Opfer von Zwangsvertreibung aus und sind außerdem die absolute Mehrheit der Opfer von sexualisierter Gewalt (CNMH 2015). Laut Centro Nacional de Memoria Histórica (CNMH) gab es 15.076 Opfer von delitos contra la libertad y la integridad sexual im Rahmen des bewaffneten Konflikts und die Opfer waren zu 91,6% Mädchen und Frauen (CNMH 2017: 25). Gleichzeitig waren sie bisher an Friedensverhandlungen kaum beteiligt. Darüber hinaus sind auch die Erfahrungen der LGBTIQ-Community bisher marginalisiert worden, dabei gab es laut Registro Único de Víctimas über 2000 Opfer aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechteridentität. Im Zusammenhang mit diesen Zahlen muss deutlich gemacht werden, dass die Dunkelziffern womöglich deutlich höher sein können, da viele Straftaten aus Angst und/oder Scham gar nicht erst zur Anzeige gebracht werden (Unidad para las Víctimas 2014: 16) oder die Personen fürchten, dass sie und ihre Erfahrungen nicht respektiert und anerkannt werden (Colombia Diversa 2015: 102 ff).
Diese Erfahrungen, die im Konflikt gemacht werden, haben strukturelle Ursprünge. Sexualisierte Diskriminierung und Gewalt sowie geschlechterbasierte Gewalt, Stigmatisierung, Bedrohungen und Verfolgungen existieren auch dann, wenn kein bewaffneter Konflikt herrscht. In Konflikten verstärken sich diese unterschiedlichen Gewaltformen jedoch meist noch (CNMH 2017: 204, 206, 222; Unidad para las Víctimas 2014: 6, 14, 34). Das heißt aber auch, dass diese Probleme nicht einfach verschwinden werden, wenn das ‚Ende‘ des Konflikts erreicht wird, sondern dass gesellschaftliche Transformationen stattfinden müssen.
Frauen-, feministische und LGBTIQ-Organisationen machen seit Jahrzehnten Friedensarbeit in den unterschiedlichsten Regionen in Kolumbien, haben durch Forschung Berichte veröffentlicht, Mobilisierungen organisiert und immer wieder an eine pazifistische, politische Aushandlung des Konflikts appelliert.
Aufgrund ihrer Expertise wurden insgesamt 18 Vertreter*innen verschiedener Frauenrechts-, LGBTIQ- und feministischer Organisationen im Rahmen dreier Treffen nach Havanna eingeladen, um die subcomisión de género bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Außerdem fand ein weiteres Treffen mit dem Themenschwerpunkt sexualisierte Gewalt statt, zu dem nochmal 10 Organisationen eingeladen wurden. Am 24. Juli 2016 wurden die Ergebnisse der Ausarbeitungen der subcomisión de género der Öffentlichkeit mitgeteilt und in einem comunicado veröffentlicht.
Im Zusammenhang mit dem am 2. Oktober 2016 stattgefundenen Referendums über den ausgehandelten Friedensvertrag wurde der in den Vertrag integrierte enfoque de género von Seiten konservativer, rechter Parteien (insb. Partido Centro Democrático von Ex-Präsident Alvaro Uribe) und einiger religiöser Gruppen jedoch stark kritisiert und als ideología de género betitelt, die nach Aussagen einiger Gegner angeblich zum Verfall der traditionellen Familie führen. Nach dem knappen No-Sieg wurde der Friedensvertrag unter Miteinbezugnahme einiger Argumente der Gegner überarbeitet. Von den cambios, precisiones y ajustes waren vor allem Ausarbeitungen der subcomisión de género betroffen. Dort, wo vorher beispielsweise equidad de género gefordert wurde, steht jetzt oft igualdad de oportunidades entre hombres y mujeres. Darüber hinaus wurden Begriffe wie orientación sexual y identidad de género diversa an vielen Stellen gestrichen. Der Fokus wird im zweiten Vertrag auf das ‚traditionelle’ Familienbild gelegt, bestehend aus der heterosexuellen Familie (Mutter, Vater, Kind/er) und nicht-heteronormativen Lebensformen werden kaum erwähnt. Die Einflussnahme und Macht konservativer, rechter und religiöser Kräfte wird anhand der Mobilisierung zum Aufruf gegen den Friedensvertrag im Referendum zu stimmen und durch die Veränderungen vom ersten zum zweiten Vertrag sehr deutlich. Dies wird sicherlich auch im Rahmen der Implementation des Friedensvertrags mit Genderperspektive unter der neuen Regierung von Iván Duque (Centro Democrático) eine Rolle spielen.
Jetzt und in Zukunft wird es darum gehen, die Forderungen und Maßnahmen des Vertrages in die Realität umzusetzen. Um dies zu kontrollieren und sicherzustellen, wurde im Rahmen der Comisión de Seguimiento y Verificación del Acuerdo de Paz (CSIVI) die Instancia Especial para garantizar el enfoque de género en la implementación del Acuerdo Final geschaffen.
Erste Tendenzen der Schwierigkeiten der Umsetzung werden bereits deutlich, wenn der Frauenanteil in den verschiedenen geschaffenen Instanzen der Übergangsjustiz und Implementierung des Friedensvertrags genauer betrachtet wird. Diese Zahlen hat el grupo de trabajo GPaz: Género en la Paz bereits in einigen Berichten veröffentlicht: im Tercer informe de seguimiento a la participación de las mujeres en la institucionalidad de la transición (November 2017) wird deutlich, dass in vielen Instanzen der Frauen*anteil deutlich unter der geforderten Parität liegt. Einzig in der Justicia Especial para la paz (JEP) liegt der Anteil bei 54,9%, daneben übernimmt die Leitung der Unidad de Búsqueda de Personas Dadas por Desaparecidas eine Frau und liegt dementsprechend bei 100% und die Instancia Especial para garantizar el enfoque de género en la implementación del Acuerdo Final besteht auch zu 100% aus Frauen*. Ingesamt haben Frauen* 55 der 139 Führungspositionen, allerdings ist es dabei wichtig zu erwähnen, dass in einigen Instanzen keine einzige Frau* ist.
Darüber hinaus ist es natürlich nicht genug, nur auf die Partizipation von Frauen* zu schauen, sondern zu analysieren, ob der enfoque de género und dementsprechende Forderungen und Maßnahmen auch tatsächlich umgesetzt werden. Auch dazu hat GPaz bereits Nachforschungen angestellt und die folgenden Informationen veröffentlicht: Zum Zeitpunkt der Publikation (27. 10. 2017) gab es insgesamt 83 erlassene Normen, die Genderaspekte miteinbeziehen. Das klingt zunächst nach einer hohen Anzahl und beinhaltet zentrale Forderungen der subcomisión de género und der Organisationen, wie zum Beispiel, dass Sexualstraftaten nicht amnestiert werden können, genauso wie Forderungen aller Punkte des Friedensvertrags, die Rücksicht auf die besondere Situation der Frauen* (vor allem in ländlichen Regionen) nimmt, wie es im Vertrag gefordert wird. Dazu zählen unter anderem der Zugang zu Land, die Nicht-Stigmatisierung von Frauen* und LGBTIQ-Personen, die Integration einer Genderperspektive bei der wirtschaftlichen und sozialen Reintegration der FARC, die Miteinbezugnahme von Frauen* als sujetos activos in den Einigungsprozessen der freiwilligen Substitution und die Gründung der Instancia Especial para garantizar el enfoque de género en la implementación del Acuerdo Final im Rahmen der CSIVI. Gleichzeitig wird an einigen Stellen jedoch deutlich, dass allein die erlassenen Verordnungen noch nicht dazu führen, dass diese auch tatsächlich umgesetzt werden. Unter dem Punkt Seguridad ist zum Beispiel aufgeführt, dass lideresas y defensoras de derechos humanos geschützt werden sollen. In Anbetracht der konstanten Bedrohungen und Ermordungen von Menschenrechtsaktist*innen wird jedoch deutlich, dass der Schutz nicht gewährleistet ist.
Wie es weitergeht, wird in großem Maße von der neuen Regierung abhängen. Das Centro Democrático ist eine rechtskonservative Partei und es ist sehr wahrscheinlich, dass die Genderperspektive und die Implementation des Friedensvertrags generell nur schwierig voran kommen wird. Diese Annahme ergibt sich aus den bisherigen Positionierungen von prominenten Mitgliedern der Partei sowie aus den Erfahrungen des Referendums. Außerdem haben die konservativen Parteien, die sich dem enfoque de género im Friedensvertrag entgegengesetzt haben, die meisten Sitze im Kongress gewonnen.
Die Frauen-, feministischen und LGBTIQ-Organisationen werden an ihren jahrzehntelangen Forderungen und den Errungenschaften ihrerseits und der subcomisión de género festhalten, gestützt werden sie sicherlich weiter von der internationalen Gemeinschaft (vor allem durch UN Women und Schweden). Natürlich gibt es auch einige Parteien, die die Implementierung mit dem beinhalteten enfoque de género vorantreiben wollen.
Für die Opfer des Konflikts besteht die Aussicht, dass sie zumindest teilweise durch die Justicia Especial para la Paz (die am 15.03. in Bogotá ihre Türen geöffnet hat) endlich den Zugang zu Wahrheit, Gerechtigkeit und Reparationen erhalten. Im Rahmen der Genderperspektive spielt hier vor allem die Nicht-Amnestierbarkeit von Sexualverbrechen eine wichtige Rolle. Auch die Tatsache, dass in der JEP die Forderung der Parität eingehalten wird, ist ein positives Zeichen für die Implementierung der Genderperspektive.
Generell ist es schwierig einzuschätzen, wie die Implementierung des Vertrags mit Genderperspektive voranschreiten wird, da es keine Möglichkeit des Vergleichs zu einem anderen Friedensprozess in der Vergangenheit gibt. Das liegt daran, dass diese die erste subcomisión de género weltweit ist und in vorherigen Friedensprozessen kaum oder gar keine Bezüge zur Partizipation von Frauen* oder der Aufarbeitung und geschlechtsspezifischen Konflikterfahrungen gemacht wurden. Aufgrund der Existenz der Kommission und den Errungenschaften, die sie in den Vertrag einbauen konnten besteht einerseits die Tendenz zum Optimismus, da bereits viel geschafft wurde und Rahmenbedingungen zur Umsetzung bestehen. Gleichzeitig besteht auf der anderen Seite die Befürchtung, dass die Ausarbeitungen auf dem Papier bleiben. Der Einfluss der Gegner*innen des Friedensvertrags ist stark und die Implementation insgesamt läuft nur langsam voran (18,3%, Stand Januar 2018). Generell ist die Gesetzeslage in Kolumbien fortschrittlich im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt, Feminiziden oder Antidiskriminierung (z.B. Ley 1257 de 2008, Ley 1719 de 2014, Ley 1482 de 2011), die Umsetzung sieht jedoch anders aus und die Gesetze führen nicht dazu, dass diese Straftaten weniger häufig vorkommen. Deshalb sind auch der Friedensvertrag und die damit verbundenen Maßnahmen und Vorschriften noch keine Garantie für einen geschlechtergerechten, nachhaltigen und andauernden Frieden.