Von: David Kuhn (B.A. Politikwissenschaften, FU Berlin)
Im laufenden Friedensprozess in Kolumbien sollen die Opfer des Konflikts und deren Recht auf Wahrheit im Mittelpunkt stehen. Das sieht der zwischen FARC und Regierung Santos ausgehandelte Friedensvertrag vor, wird von Befürwortern wie Gegnern, von Eliten wie soziale Bewegungen unterstützt und ist zentral in dem aus der Friedensforschung stammenden Konzept der Transitional Justice (dt.: Vergangenheitsarbeit; Übersetzung des Autors), an welchem sich der Übergang von Konflikt zu Frieden in Kolumbien orientieren soll. Diesem Konsens in einer von Gegensätzen geprägten Atmosphäre begegnet der vorliegende Beitrag hoffnungsvoll aber misstrauisch. In Anlehnung an das Konzept análisis de coyuntura (vgl. Delich 1979) wird der Kontext der gegenwärtigen Wahrheitsfindung analysiert, um anschließend Potentiale und Gefahren sichtbar zu machen.
Der Friedensvertrag formuliert die Beendigung des bewaffneten Konflikts zwischen FARC und Staat nur als den Ausgangspunkt eines langfristigen gesamtgesellschaftlichen Unternehmens: die Etablierung eines dauerhaften und stabilen Friedens in Kolumbien (Acuerdo Final 2016: 1). Statt größtmöglicher individueller Bestrafung wird kollektive Wahrheitsfindung und Erinnerungsarbeit als Schlüssel gesellschaftlicher Versöhnung definiert. Die Teilvereinbarung Nummer 5, die „Vereinbarung bezüglich der Opfer des Konflikts“, erstreckt sich über 68 von insgesamt 310 Seiten und sieht ein „Integrales System für Wahrheit, Gerechtigkeit, Reparation und Nicht-Wiederholung“ vor. Dieses System beinhaltet die Einrichtung einer Wahrheitskommission, einer Spezialeinheit zur Suche von Verschwundenen und einer Sondergerichtsbarkeit für den Frieden sowie Reparationsleistungen und Garantien der Nicht-Wiederholung (der Verbrechen). Gerade die Mechanismen der Sondergerichtsbarkeit verdeutlichen den hohen Stellenwert der Wahrheitsfindung: Wenn die Verantwortlichen von Verbrechen zur Aufklärung dieser beitragen, können sie unter Umständen einer Gefängnisstrafe entgehen. Auffällig ist die Formulierung, man wolle die „multiplen Dimensionen der Wahrheit des Konflikts“ (Acuerdo Final: 130) sichtbar machen, um so zur Aussöhnung beizutragen. Kombiniert mit der Unterstützung lokaler Initiativen zur Erinnerungsarbeit wird deutlich, dass der Friedensvertrag die Existenz verschiedener Narrative und Erinnerungen bezüglich des Konflikt anerkennt. Außerdem formuliert die Präambel eine Demokratisierung und Pluralisierung des gesamten politischen Feldes als notwendige Voraussetzung für den gesellschaftlichen Frieden (Acuerdo Final 2016:6).
Die Implementierung einer Sondergerichtsbarkeit für den Frieden (Justicia Especial para la Paz, JEP) – welche geltendes nationales Recht teilweise aussetzt – stellt ein zentrales Streitthema dar. Befürworter halten das Recht der Opfer auf für wichtiger als eine möglichst große Individualbestrafung, während Kritiker_innen darin eine Straffreiheit für die Verantwortlichen des Konflikts sehen. Außerdem fordern besonders soziale Bewegungen aber auch die VN, die JEP ohne Ausnahmeregelung auch auf das kolumbianische Militär anzuwenden, um auch die staatliche Schuld am Konflikt anzuerkennen. Andere sehen dadurch das Gewaltmonopol des Staates infrage gestellt. Des Weiteren wird die fehlende Konkretisierung der Wahrheitssuche kritisiert und befürchtet, dass die Aufarbeitung des Konflikts im rhetorischen Sande verläuft. An der Frage nach dem wie setzt auch eine Reflexion zweier Autorinnen des offiziellen Berichts „Basta ya!“ (dt.: Es reicht!) über den Konflikt an. Sie konstatieren ein Dilemma zwischen der Anerkennung verschiedener Narrative sowie der Konstruktion einer gemeinsamen Vergangenheit und warnen vor einer staatlichen Instrumentalisierung der Opfer (Riaño Alcalá/Uribe 2016: 6, 14). Auch im akademischen Bereich werden Konsequenzen einer theoretischen Fokussierung von Transitional Justice auf Wahrheit diskutiert und beispielsweise zwischen objektiver, narrativer und heilender Wahrheit unterschieden (Fischer 2011: 411). Jedoch bergen sowohl die Koexistenz verschiedener Erinnerungen als auch die erzwungenen Konstruktion einer wahren Geschichte die Gefahr neuer Spaltungen.
Akteure und Interessen
Anfang der 2000 führte der damalige Präsident Álvaro Uribe Friedensverhandlungen mit paramilitärischen Organisationen welche sich daraufhin 2006 offiziell auflösten. Später kamen Beweise für eine enge Verflechtung von Staat und Paramilitärs ans Licht; die Beteiligung Uribes konnte offiziell nicht nachgewiesen werden. Obwohl nationale und internationale Menschenrechtsgruppen eindeutige Beweise liefern, negiert der kolumbianische Staat offiziell fortwährende Existenz organisierter paramilitärischer Strukturen. In Uribes Regierungszeit fällt außerdem der Skandal um sogenannte falsos positivos (dt.: Falsche Erfolge). Unschuldige Zivilisten wurden von Militärs in Guerrilla-Kleidung gesteckt und ermordet, um Erfolge im Kampf gegen die FARC zu simulieren.
Soziale Bewegungen und Opferverbände sehen in der Opfer- und Wahrheitszentrierung die Möglichkeit, ungeklärte Verbrechen von Staat, Militär und Paramilitärs sowie deren Verflechtungen unter die Lupe zu nehmen und fordern beispielsweise, den Skandal um die falsos positivos in die Wahrheitsfindung zu integrieren. Dies könnte wiederum Erbe und die Legitimität des Ex-Präsidenten Uribe und seiner Partei Centro Democrático gefährden. Sein Einfluss wurde nicht zuletzt durch besonders von ihm propagierte Ablehnung des Friedensvertrags im Referendum deutlich und er versucht weiterhin, die FARC als politischen Akteur zu delegitimieren und stattdessen als Gefahr für eine vermeintlich plurale Demokratie zu darzustellen.
Präsident Santos nimmt eine zwielichtige Rolle ein: Einerseits hat er als größter Widersache Uribes ein Interesse an dessen Demontierung, andererseits könnte ihm dabei seine Vergangenheit als Verteidigungsminister unter Uribe selbst zum Verhängnis werden. Die FARC möchte sich des Terroristen-Images entledigen und ihre Überzeugungen in die politische Sphäre bringen. In der Sondergerichtsbarkeit sehen sie die Möglichkeit, Straffreiheit zu erlangen und den Fokus von eigenen Verbrechen auf die von Staat und Paramilitärs zu verschieben. Dem kolumbianischen Militär droht dabei ein weiterer Vertrauensverlust. Dabei soll gerade dieses eine sichere Demobilisierung der FARC garantieren und ehemals umkämpfte Gebiete kontrollieren. Auch die wirtschaftliche und politische Elite des Landes ist durch einen breiten demokratischen Wahrheitsfindungsprozess doppelt gefährdet. Zum einen könnten etwaige Verbindungen paramilitärischen Organisationen und Korruptionsvorgänge öffentlich werden. Außerdem kratzen aufkommende Themen wie Ungleichheiten in der Landverteilung und in der politischen Partizipation an ihren Privilegien. Den Medien kommt eine enorm wichtige Rolle zu, da eine depolarisierende und sachliche Berichterstattung elementarer Teil der Wahrheitsfindung darstellt. Problematisch ist dabei, dass Eliten das Mediengeschäft kontrollieren und so die Meinungsbildung zu ihren Gunsten beeinflussen können.
Erkenntnisse und Ausblick
Die Verbindung der Geschehnisse und Debatten mit Akteuren sowie deren Interessen offenbart den roten Faden, der sich hinter der Fokussierung auf die Opfer und deren Recht auf Wahrheit im kolumbianischen Friedensprozess aufspannt: Der Versuch verschiedener politischer Akteure, ihre Interessen im Deckmantel der Wahrheit durchzusetzen.
Indem der Friedensvertrag, Theorien der Transitional Justice sowie Mitglieder offizieller Kommissionen die Existenz unterschiedlicher Narrative, unterschiedlicher Wahrheiten anerkennen und demzufolge die Wahrheitsfindung, die Aufarbeitung des Geschehenen als gewissermaßen ergebnisoffener, pluraler Prozess definiert wird, öffnet sich ein weites Feld politischer Auseinandersetzungen. Dominante Wahrheiten über den Konflikt, offizielle Diskurse und geschichtliche Darstellung können zur Disposition gestellt werden, wie die Forderung nach der Aufklärung des Skandals um die falsos positivos zeigen. Gleichzeitig versuchen etablierte Akteure wie Uribe in ihrem Sinne auf die Wahrheitsfindung einzuwirken und versuch beispielweise durch die Bezeichnung ‚Terroristen‘ den FARC einen politischen Charakter abzusprechen.
Dementsprechend kann der von allen Seiten befürwortete Fokus auf die Opfer des Konflikts und deren Recht auf Wahrheit als „doppeldeutiger Konsens“ (consenso ambiguo, vgl. Lecombe 2010: 215) beschrieben werden. Hinter der vermeintlichen Übereinstimmung der verschiedenen politischen Akteure entfacht sich ein Kampf gegensätzlicher Interessen, Erinnerungen und Wahrheiten. In der Auseinandersetzung um die Wahrheit und Erinnerung der Vergangenheit werden die politischen Machtverhältnisse der Zukunft definiert. Kurzfristig gesehen geht es dabei sicherlich um die Mehrheiten bei der Präsidentschaftswahl 2018, langfristig beeinflussen diese Auseinandersetzung die dominanten politischen Kräfte und Inhalte der kommenden Jahre.
Um einen dauerhaften und stabilen Frieden in Kolumbien zu gewährleisten, besteht die Herausforderungen nun darin, ungleiche Kräfteverhältnisse im Prozess der Wahrheitsfindung sichtbar zu machen und ihnen durch eine Ausweitung der gesellschaftlichen Teilhabe entgegenzuwirken. Nur so kann die Aneignung gesellschaftlicher Prozesse durch die dominante Personen und Gruppen verhindert und die Stärkung marginalisierter Akteure ermöglicht werden.