Verfasserin: Denise Kirschner (Masterstudiengang Interdisziplinäre Lateinamerikastudien)
Kurz vor den Präsidentschaftswahlen Ende Mai 2018 rücken die schwerwiegenden Meinungsunterschiede im Friedensprozess in Kolumbien besonders in den Vordergrund. So werden die Inhalte des Ende 2016 unterschriebenen Friedensabkommens von verschiedenen Politiker für ihren Wahlkampf instrumentalisiert und ein möglicher Wahlsieg des rechten Lagers − den Kritikern des Friedensvertrages − stellt eine Fortführung der eingeleiteten Friedensbemühungen in Frage. Einer der umstrittensten Punkte in der politischen und öffentlichen Debatte ist die Sonderjustiz für den Frieden (Jurisdiccion Especial para la Paz – JEP). Sie bildet das Kernstück des im Friedensvertrag vereinbarten Integralen Systems für Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Nichtwiederholung (Sistema Integral de Verdad, Justicia, Reparación y No Repetición – SIVJRNR). Die JEP ist verantwortlich für die juristische Aufarbeitung der im Konflikt begangenen Verbrechen und für die Verurteilung und Bestrafung direkt oder indirekt beteiligter Akteure: Mitglieder der FARC-Guerilla, des Militärs und von Zivilisten.
Die über fünfzig Jahre andauernde Gewalt hat Spuren in der kolumbianischen Gesellschaft hinterlassen. Der Umgang mit den mehr als acht Millionen Opfern schwerwiegender Menschenrechtsverbrechen und deren Anrecht auf Aufklärung und Rechtsprechung manifestieren sich mit 68 Seiten als zentrale Themen der kolumbianischen Friedensbemühungen im fünften Punkt des Friedensvertrages (Acuerdo Final 2016: 124-192). Mit der Gründung des integralen Systems der Übergangsjustiz wird die eingeleitete Transformation Kolumbiens zu einer friedlichen Gesellschaft in Anlehnung an das international anerkannte und in anderen Konflikten angewandte Konzept der transnational justice (Fischer 2011) angestrebt. Seit Ende der 1990er Jahre im Fokus der Friedensforschung, beschreibt das Konzept die umfassende Vergangenheitsaufarbeitung als wichtiges Element im Übergang zu einem langfristigen Frieden in einer durch Krieg und Gewalt geprägten Ausgangssituation des Landes (Fischer 2011: 406). Die im Friedensvertrag ausgearbeitete kolumbianische Variante der transnational justice, die mithilfe internationaler Rechtsexperten entwickelt wurde, sieht hierfür eine Reihe ineinandergreifender Mechanismen vor. Neben der JEP als juristisches Herzstück des integralen Systems sollen eine außergerichtliche Wahrheitsfindung und die Sondereinheit zur Suche nach Verschwundenen den Versöhnungsprozess ergänzen.
Ein langwieriger Implementierungsprozess
Die Implementierung der JEP führte im Kongress allerdings zu Uneinigkeit und langen Debatten zwischen Regierung und rechter Opposition. Erst nach langen Verzögerungen und verschiedenen Änderungen wurden wichtige Entscheidungen zur Umsetzung der JEP im November 2017 von den zwei Kammern des kolumbianischen Kongresses − dem Repräsentantenhaus und dem Senat − getroffen. Weiterhin benötigten die Gesetze die Genehmigung des Verfassungsgerichtes, was wiederum mit Modifizierungen sowie einer starken Begrenzung der Autonomie der JEP verbunden war. Die Zweifel über die tatsächlichen Kompetenzen der Sonderjustiz hinsichtlich der Vergangenheitsaufarbeitung wachsen sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene und werden von der politischen Rechten dankend in die Wahlkampfdebatte aufgenommen. Dennoch haben am 15. Januar 2018 30 Amtsrichter ihre Arbeit aufgenommen. Seit dem 15. März 2018 sind die Türen der JEP in Bogotá auch offiziell für die Bevölkerung geöffnet, um Petitionen entgegenzunehmen und mit der Aufklärungsarbeit zu beginnen.
Die politische Rechte Kolumbiens rund um Ex-Präsident Álvaro Uribe polarisiert bereits seit Anbeginn des Friedensprozesses gegen die zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC vereinbarten Bestimmungen zur Sonderjustiz für den Frieden. Hauptkritikpunkt sind die angeblich zu großen Zugeständnisse an die ehemaligen Rebellen. Hierbei wird unter anderem auf das im Friedensvertrag festgelegte Strafmaß Bezug genommen, welches Freiheitsstrafen von 5 bis max. 8 Jahren für geständige Täter schwerwiegender Verbrechen sowie ggf. alternative Arbeitsleistungen zu Gunsten der Opfer vorsieht. Während das Verfahren der Sonderjustiz das Interesse der Versöhnung und Wahrheitsfindung in den Vordergrund stellt und hierfür von hohen Haftstrafen absieht, bemängeln Kritiker den rein symbolischen Wert der viel zu milden Strafen (vgl. Maihold 2016: 4). Der für das „Centro Democrático“ als Präsidentschaftskandidat antretende Iván Duque bezeichnet das Verfahren der JEP am 9. Februar 2018 in einem Interview pauschal als „Denkmal für die Straflosigkeit“ und eine „Demütigung für die Opfer“.
Kontroverse Themen, Akteure und Interessen
Weiterhin missbilligt die rechte Opposition, die durch den Friedensvertrag garantierte politische Teilhabe der FARC in den zwei folgenden Amtsperioden. Obwohl die nun als politische Partei agierende FARC (Fuerza Alternativa Revolucionaria del Común) bei der Parlamentswahl im März 2018 noch nicht einmal ein Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte, stehen der Partei zehn Sitze im Kongress (jeweils 5 Sitze in beiden Kammern) zu. Vor dem offiziellen Amtsantritt im Juli 2018 müssen sich die zehn Kongressabgeordneten allerdings dem JEP stellen. Inwiefern sich der Strafrozess der Sonderjustiz mit dem Amt des Abgeordneten vereinen lässt, entscheiden dann deren Richter.
Die verschiedenen politischen Interessen bezüglich des Implementierung der JEP wurden vor allem in den vergangenen fünf Monaten zunehmend sichtbar. Nicht nur wurde die Verabschiedung des Gesetzes im Kongress immer wieder hinausgezögert und aus politischen Gründen blockiert wurde, vor allem die Gesetzesänderungen durch das Verfassungsgericht und den Senat stießen auf nationaler und internationaler Ebene auf breite Kritik. So wurde beispielsweise festgelegt, dass gegen Urteile der Sonderjustiz vor dem Verfassungsgericht Berufung eingelegt werden kann. Diese ursprünglich im Friedensvertrag vorgesehene Autonomie der JEP wird somit eingeschränkt.
Zu den wichtigsten Anpassungen zählt außerdem der Beschluss, dass zivile Akteure, denen keine eindeutige Verbindung zu einem Verbrechen gegen die Menschheit nachgewiesen werden kann, nicht ohne ihre Einwilligung von der Sonderjustiz geladen werden dürfen. In einem gemeinsamen Kommuniqué teilten die Internationale Liga für Menschenrechte (FIDH), das Anwaltskollektiv CAJAR und das Komitee für die Verteidigung der Menschenrechte (CPDH) ihre Empörung über die Neuerung des Gesetzesvorhabens mit. Ihre Kritik bezieht sich insbesondere darauf, dass es jenen Zivilisten Straffreiheit garantiert, die paramilitärische Gruppen direkt oder indirekt finanziert haben. Auch vereinbarte Einschränkungen hinsichtlich der Kommandoverantwortung bei den von Soldaten begangenen Menschenrechtsverletzungen halten die Organisationen für äußerst bedenklich und schließen damit an die Äußerungen der Chefanklägerin des Internationalen Staatsgerichtshofes, Fatou Bensouda, an. Sie sieht in dem ratifizierten Vorhaben einen Verstoß gegen die Rechte der Opfer und das Rom-Statut, dass die Grundlage des IStGH bildet. Demnach ist eine juristische Ermittlung gegen Kommandoverantwortliche durchaus angemessen, wenn die ihnen untergeordneten Soldaten Verbrechen begangen haben.
Die JEP als politischer Spielball
Für große Aufregung sorgte außerdem die vom kolumbianischen Senat in die JEP aufgenommene Klausel, nach der Juristen, die Arbeitserfahrungen in Anklagen gegen den Staat aufgrund von Menschenverletzungen besitzen, als Richter von der Sonderjustiz ausgeschlossen werden. Setzt sich die Forderung durch, müssen viele der bereits ernannten Richter ihr Amt in der JEP niederlegen. Der Prozess zur Ernennung der Amtsrichter durch ein speziell gegründetes Komitee war transparent und wurde auf internationaler Ebene als beispielhaft und innovativ begrüßt. Dennoch brachten Senatoren des „Centro Democrático“ und weitere Politiker eine Diffamierungskampagne auf den Weg. Sie behaupteten, die Amtsrichter seien von der FARC und der Regierung unter Santos ausgewählt worden.
In den sozialen Medien verurteile die kolumbianische Zivilgesellschaft die Entscheidung als „nationale Schande„. Die Opferverbände, die die Übergangsjustiz zunächst unterstützten, sehen die aktuellen Entwicklungen und Neuregelungen durch den Kongress und das Verfassungsgericht als enormen Rückschlag für den Aufklärungsprozess. Auch Friedensanhänger und die Linke zeigen sich empört über die Modifizierungen der Gesetze zur Sonderjustiz. Alirio Uribe Muñoz, Abgeordneter des linken „Polo Democrático Alternativo“, sieht einen Zusammenhang zwischen den Neuerungen und den Interessen einflussreicher Politiker und Unternehmer, die durch eine umfassende Aufklärung selber ins Visier der JEP geraten könnten. Die FARC bezeichnete die vehementen Eingriffe in die im Friedensvertrag ausgehandelten Beschlüsse zur JEP als den „Anfang vom Ende des Friedens“. Durch die Änderungen würde sich die Sonderjustiz immer mehr von dem ursprünglichen Charakter des vereinbarten Abkommens entfernen.
Es gibt allerdings auch optimistische Stimmen: Iván Cepeda Castro, der ebenfalls für den „Polo Democrático Alternativo“ im Kongress sitzt und als Sprecher der Bewegung der Opfer von Staatsverbrechen (MOVICE) aktiv ist, äußert sich hoffnungsvoll. Er sieht alleine die Schaffung einer Sonderjustiz für den Frieden als einen enormen Fortschritt gegenüber der Straflosigkeit, die bisher das Land prägte. Auch der noch amtierende Präsident Juan Manuel Santos, der für seine Friedensbemühungen 2016 den Friedensnobelpreis erhielt und nach zwei aufeinanderfolgenden Amtszeiten nicht erneut kandidieren darf, äußert sich nach wie vor positiv über das Ergebnis des ausgearbeiteten Verfahrens zur Sonderjustiz. Zum Arbeitsbeginn der JEP am 15. Januar 2018 lobt Santos die JEP als die beste Antwort auf die Frage: „Wie kann man maximale Gerechtigkeit gewährleisten, ohne den Frieden zu gefährden?“.
Eine unsichere Zukunft
Die Aufarbeitung der Vergangenheit und das Recht der Opfer auf Gerechtigkeit sind im kolumbianischen Friedensprozess besonders emotional besetzte Themen. Die inhaltlichen Debatten rund um die Sonderjustiz verdeutlichen, wie schmal der Grat zwischen Frieden und Gerechtigkeit ist. Vor allem aber werden anhand des Implementierungsprozesses der JEP die politischen Interessen und Machtkonstellationen im Friedensprozess sichtbar. Insbesondere der Widerstand durch die Gegner des Abkommens hat die Umsetzung der JEP in den vergangenen Monaten stark beeinflusst und zeigt, dass die anstehenden Präsidentschaftswahlen im Mai 2018 gleichzeitig auch eine Abstimmung über den weiteren Verlauf des Friedensprozesses sind. Den Gegnern aus den Reihen der politischen Rechten, allen voran der ultrarechten Partei „Centro Democrático“ von Ex-Präsident Álvaro Uribe, werden hierbei große Chancen eingeräumt. Bereits in den Parlamentswahlen im März gab ein entscheidender Anteil der Kolumbianer dem rechten und rechtsliberalen Lager seine Stimme.
Trotz aller Hindernisse hat die Sonderjustiz für den Frieden am 15. Januar 2018 ihre Arbeit aufgenommen. Nach wie vor gibt es allerdings viele offene Fragen zu klären. Es bleibt abzuwarten, wie die praktische Umsetzung der Sonderjustiz voranschreitet und ob sich die kolumbianische Variante der transnational justice zu einem internationalen Musterbeispiel entwickeln kann.