Dieser reformatorische Grundgedanke – sola gratia – ist aufs Engste verbunden mit den Konflikten dieser Zeit. Im Mittelalter war die (katholische*) Kirche ebenso eine weltliche Instanz wie eine geistliche. Bischöfe waren Fürsten mit geistlicher Autorität. Religion war im öffentlichen Leben ein wichtiger Faktor – anders als heute, wo die Kirche eine unter verschiedenen zivilgesellschaftlichen Stimmen ist. Die Angst vieler Menschen vor dem ewigen Fegefeuer war real und durch die Kirche, so der landläufige Glaube, konnte Absolution gewährt werden. Umso bequemer, wenn man statt einer Pilgerreise oder anderer Buße nur einen Ablass kaufen musste…. Luther war dies ein Dorn im Auge und er hatte mit seinen 95 Thesen – als Aufruf zu einer akademischen Auseinandersetzung geschrieben – gegen den Ablasshandel gewettert.
Der Text „Von der Freiheit des Christenmenschen“ ist eine Reaktion auf die Androhung des Bannes (der später auch verhängt wurde). Und es ist ein Text voller Spannungen. Aus euren Texten und der Diskussion stechen besonders drei Spannungen hervor.
- Besonders häufig in euren Texten debattiert wurde der Zusammenhang zwischen Leib und Seele, hier ausgedrückt in der Trennung von Seelenheil und weltlichem Handeln. Dies ist tatsächlich eine ganz grundsätzliche philosophische Frage, auf die es in der Philosophiegeschichte viele Antworten gab. In Luthers Argument steht diese Unterscheidung in einem breiteren Zusammenhang, der sich an den anderen beiden Spannungen ausdrückt.
- Da ist als zweiter zentraler Punkt zu nennen, was sich auch in dem Zitat ausdrückt, dass wir als Grundlage unsere Diskussion genommen haben: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem Untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ (Luther 1520). Doch wie kann mensch gleichzeitig frei und unfrei sein? Hier kommt sola gratia ins Spiel. Das geistige Heil ist durch Gottes Gnade den (Christen-)Menschen gegeben – der Glaube allein zählt, die Gnade und damit das Seelenheil kann nicht verdient werden. Das macht den Menschen frei zu weltlichem Handeln, dass nicht auf die jenseitige Erlösung gerichtet ist. Darin liegt die Freiheit. Doch der Glaube führt den (Christen-)Menschen dazu, aus der Liebe zum Nächsten das Gute zu tun. Es ist nicht die Androhung von Strafe die gutes Handeln ermöglicht, es ist die Liebe zu den Anderen. Und darum ist der (Christen-)Mensch Knecht seinen Mitmenschen gegenüber, ihnen ein Diener. Überzeugt dieses Luthersche Argument? Theologisch, wie es gemeint war, wohl viele (darum ja auch die Reformation als mehr als eine opportunistisch genutzte politische Strömung), aber politisch-theoretisch ergeben sich viele weitergehende Fragen, die Wichtigste ist vielleicht: Was tun angesichts der offensichtlichen Fehlbarkeit des Menschen in Bezug auf das gute Handeln?
- Die dritte Spannung ergibt sich aus den weitreichenden politischen Konsequenzen, die Luthers theologisches Argument hat. Luther hat sich nicht – wie Machiavelli oder auch Thomas Müntzer – aktiv in die Politik eingemischt. Und doch hat er sich nicht mit Ratschlägen in politischen Angelegenheiten zurückgehalten. Die theologische Trennung von Seelenheil und weltlichem Handeln auf der Ebene des Individuums entwickelt sich hier zu einer, aus politisch-theoretischer Sicht, durchaus schwierigen Perspektive. In „Von weltlicher Obrigkeit: wieweit man ihr Gehorsam schuldig sei“ (1523) entfaltet Luther warum der weltlichen Obrigkeit im Zweifel immer Gehorsam zu leisten ist – und rechtfertigt damit quasi jede Herrschaft. Verstehen lässt sich das nur, wenn man bedenkt, dass einerseits auch hier ein theologisches und kein politisches Argument entfaltet wird und andererseits Luther selbst von der unmittelbaren Endlichkeit der Welt und damit auch vom baldigen Ende weltlicher Herrschaft überhaupt überzeugt war. Das soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in der prekären Lage des 16. Jahrhunderts gerade diese radikale Trennung zwischen geistlich
und weltlichem – und die Rechtfertigung weltlicher Herrschaft auch in äußerst fragwürdigen Situationen, eine weitreichende Wirkung hatte. Auch darum Leben wir heute in säkularen Staaten – wegen eines theologischen Arguments. Im 20. Jahrhundert wurde diese Lehre für die Christen zu einer radikalen Bewährungsprobe und erst Dietrich Bonhoeffer gelang mit seiner Interpretation der Weltlichkeit christlichen Handelns als „Verantwortung für die Welt“ eine Neuorientierung.
Es ist sicher nie ein Gedanke an sich, der wirkmächtig wird – dazu kommen immer jene historischen und politischen Umstände, die ihm Raum geben. Und Luther war weder der einzige, der im 16. Jahrhundert Neues formulierte, noch war er der einzige der ähnliche Probleme durchdachte. Das 16. Jahrhundert war eine Zeit vielfältiger grundsätzlicher Fragen und die Zeit in der neue Antworten gehört wurden. Auch das ist ein Zeichen für den großen Umbruch der stattfand.
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*Das Wort „katholisch“ kommt aus dem Griechischen und heißt „allumfassend“. Insofern, auch wenn es damals nur eine Kirche gab, ist katholisch das richtige Wort.