„Allein durch die Gnade…“

Portal der Schlosskirche in Wittenberg mit den 95 Thesen. Quelle: Fewskulchor [CC BY-SA 3.0 de, via Wikimedia Commons.
Dieser reformatorische Grundgedanke – sola gratia – ist aufs Engste verbunden mit den Konflikten dieser Zeit. Im Mittelalter war die (katholische*) Kirche ebenso eine weltliche Instanz wie eine geistliche. Bischöfe waren Fürsten mit geistlicher Autorität. Religion war im öffentlichen Leben ein wichtiger Faktor – anders als heute, wo die Kirche eine unter verschiedenen zivilgesellschaftlichen Stimmen ist. Die Angst vieler Menschen vor dem ewigen Fegefeuer war real und durch die Kirche, so der landläufige Glaube, konnte Absolution gewährt werden. Umso bequemer, wenn man statt einer Pilgerreise oder anderer Buße nur einen Ablass kaufen musste…. Luther war dies ein Dorn im Auge und er hatte mit seinen 95 Thesen – als Aufruf zu einer akademischen Auseinandersetzung geschrieben – gegen den Ablasshandel gewettert.

Der Text „Von der Freiheit des Christenmenschen“ ist eine Reaktion auf die Androhung des Bannes (der später auch verhängt wurde). Und es ist ein Text voller Spannungen. Aus euren Texten und der Diskussion stechen besonders drei Spannungen hervor.

  1. Besonders häufig in euren Texten debattiert wurde der Zusammenhang zwischen Leib und Seele, hier ausgedrückt in der Trennung von Seelenheil und weltlichem Handeln. Dies ist tatsächlich eine ganz grundsätzliche philosophische Frage, auf die es in der Philosophiegeschichte viele Antworten gab. In Luthers Argument steht diese Unterscheidung in einem breiteren Zusammenhang, der sich an den anderen beiden Spannungen ausdrückt.
  2. Da ist als zweiter zentraler Punkt zu nennen, was sich auch in dem Zitat ausdrückt, dass wir als Grundlage unsere Diskussion genommen haben: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem Untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ (Luther 1520). Doch wie kann mensch gleichzeitig frei und unfrei sein? Hier kommt sola gratia ins Spiel. Das geistige Heil ist durch Gottes Gnade den (Christen-)Menschen gegeben – der Glaube allein zählt, die Gnade und damit das Seelenheil kann nicht verdient werden. Das macht den Menschen frei zu weltlichem Handeln, dass nicht auf die jenseitige Erlösung gerichtet ist. Darin liegt die Freiheit. Doch der Glaube führt den (Christen-)Menschen dazu, aus der Liebe zum Nächsten das Gute zu tun. Es ist nicht die Androhung von Strafe die gutes Handeln ermöglicht, es ist die Liebe zu den Anderen. Und darum ist der (Christen-)Mensch Knecht seinen Mitmenschen gegenüber, ihnen ein Diener. Überzeugt dieses Luthersche Argument? Theologisch, wie es gemeint war, wohl viele (darum ja auch die Reformation als mehr als eine opportunistisch genutzte politische Strömung), aber politisch-theoretisch ergeben sich viele weitergehende Fragen, die Wichtigste ist vielleicht: Was tun angesichts der offensichtlichen Fehlbarkeit des Menschen in Bezug auf das gute Handeln?

    Thomas Müntzer
  3. Die dritte Spannung ergibt sich aus den weitreichenden politischen Konsequenzen, die Luthers theologisches Argument hat. Luther hat sich nicht – wie Machiavelli oder auch Thomas Müntzer – aktiv in die Politik eingemischt. Und doch hat er sich nicht mit Ratschlägen in politischen Angelegenheiten zurückgehalten. Die theologische Trennung von Seelenheil und weltlichem Handeln auf der Ebene des Individuums entwickelt sich hier zu einer, aus politisch-theoretischer Sicht, durchaus schwierigen Perspektive. In „Von weltlicher Obrigkeit: wieweit man ihr Gehorsam schuldig sei“  (1523) entfaltet Luther warum der weltlichen Obrigkeit im Zweifel immer Gehorsam zu leisten ist – und rechtfertigt damit quasi jede Herrschaft. Verstehen lässt sich das nur, wenn man bedenkt, dass einerseits auch hier ein theologisches und kein politisches Argument entfaltet wird und andererseits Luther selbst von der unmittelbaren Endlichkeit der Welt und damit auch vom baldigen Ende weltlicher Herrschaft überhaupt überzeugt war. Das soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in der prekären Lage des 16. Jahrhunderts gerade diese radikale Trennung zwischen geistlich
    Dietrich Bonhoeffer im August 1939, Quelle: Bundesarchiv

    und weltlichem – und die Rechtfertigung weltlicher Herrschaft auch in äußerst fragwürdigen Situationen, eine weitreichende Wirkung hatte. Auch darum Leben wir heute in säkularen Staaten – wegen eines theologischen Arguments. Im 20. Jahrhundert wurde diese Lehre für die Christen zu einer radikalen Bewährungsprobe und erst Dietrich Bonhoeffer gelang mit seiner Interpretation der Weltlichkeit christlichen Handelns  als „Verantwortung für die Welt“ eine Neuorientierung.

Es ist sicher nie ein Gedanke an sich, der wirkmächtig wird – dazu kommen immer jene historischen und politischen Umstände, die ihm Raum geben. Und Luther war weder der einzige, der im 16. Jahrhundert Neues formulierte, noch war er der einzige der ähnliche Probleme durchdachte. Das 16. Jahrhundert war eine Zeit vielfältiger grundsätzlicher Fragen und die Zeit in der neue Antworten gehört wurden.  Auch das ist ein Zeichen für den großen Umbruch der stattfand.

Nettling, Astrid 2017: „Heiliger Sokrates, bitte für uns!“ Luther im Streit mit Erasmus. (Hörfunkfeature), Deutschlandfunk, 4. Januar 2017

Thaidigsmann, Edgar 2007: Macht über sich selbst? Der Mensch und die »Mächte« bei Luther: Aspekte theologischer Anthropologie. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie. 49:1, 42-70.

Leseliste zum Thema bei der EKMD

*Das Wort „katholisch“ kommt aus dem Griechischen und heißt „allumfassend“. Insofern, auch wenn es damals nur eine Kirche gab, ist katholisch das richtige Wort.

Leben in aufregenden Zeiten

Victoria Harbour, HongKong (by The Photographer, CC 0)

Leben in aufregenden Zeiten ist keine leichte Aufgabe. Neue Kommunikationsmittel ermöglichen ganz neue Formen der Interaktion. Viele Menschen, denen Wissen bisher verwehrt blieb, haben nun Zugang zu einer Vielzahl von Ideen. Etablierte Institutionen verlieren an Autorität und neue entstehen. Andere Formen des Zusammenlebens und Wirtschaftens werden entwickelt, Städten kommt eine neue Bedeutung zu. Ständig vergrößert sich das Wissen über die Welt, ja ganze Weltbilder geraten ins Wanken. Die Vielzahl der Veränderungen bringt zahlreiche Kontroversen hervor – und mit ihnen politische Instabilität.

Die Welt Machiavellis und Luthers, die von Leonardo da Vinci, William Shakespeare, Thomas Morus, Ferdinand Magellan, Erasmus von Rotterdam, Henry VIII, der Bauern Mitteldeutschlands und der Fugger war mitnichten eine, in der sich nur wenig änderte. Im Gegenteil, innerhalb weniger Jahrzehnte wurde vieles grundlegend auf den Kopf gestellt. Wenn man bedenkt, dass seit der Mondlandung fast 50 und seit der Erfindeung des WorldWideWeb immerhin auch schon 30 Jahre vergangen sind, kann man ermessen, wie schnell die Veränderungen des 16. Jahrhunderts wirksam wurden.

Magellans Schiff Victoria

Heute, im Nachhinein, ist es leicht zu erkennen, wer die prägenden Ideen hatte, wer seiner Zeit voraus war oder – freiwillig oder nicht – zur Veränderung beigetragen hat. Für diejenigen, die unmittelbar beteiligt waren, war das nicht so leicht zu erkennen, im Gegenteil. Es ist schwer aus der Masse der Äußerungen, Einschätzungen und Fragen diejenigen zu erkennen, die erklärungsstark sind, wie Machiavellis, oder wirkmächtig, wie Luthers. Und so ist denn auch der Text zunächst zu lesen mit der Frage, was von Luther gewollt und bezweckt wurde, wozu dieses Argument in seiner Zeit diente. Erst im Anschluss lohnt es zu fragen, wie es so weit über seine eigentliche Intention hinaus Wirkung entfalten konnte – und ob es zwingend so kommen musste, oder ob hier schlicht der Zeitgeist hervortrat. Was macht einen Text so prägend? Und wie könnten wir heute erkennen, welche Äußerung bedeutsam ist?

 

Höppner, Ulrike 2010: Thinking in Turbulent Times: On the Relevance of Sixteenth-Century Political Thought. In European Political Science 9:3, 291–303.

Skinner, Quentin 1969: Meaning and Understanding in the History of Ideas. In: History and Theory 8:1, 3-53.

 

„Denn man kann von den Menschen im allgemeinen sagen…“

 

Florenz 1493

Machiavelli lebte in bewegten Zeiten, die Stadt Florenz war ein Epizentrum der Erschütterungen mit denen sich das Mittelalter in die Moderne wandelte. Machiavelli war sowohl Beteiligter als auch Beobachter dieser Veränderungen und viele seiner Überlegungen waren ausgesprochen weitsichtig. Wir haben in der heutigen Sitzung zentrale Punkte des Machiavellischen Menschenbildes herausgearbeitet, die sich in aller Kürze vielleicht so zusammen fassen lassen:

  1. Um zu wissen, wie die Menschen sind, kommt es vor allem auf die Beobachtung an und weniger auf eine normative Vorstellung. Was der Mensch ist, ist für Machiavelli vor allem eine empirische Frage.
  2. Das wesentlichste Kennzeichen des Menschen ist seine Wankelmütigkeit, die Unzuverlässigkeit, die gespeist wird aus Angst und Opportunismus. Auf nichts was versprochen ist, ist Verlass.
  3. Diese Wankelmütigkeit lässt sich politisch – durch kluge Fürsten und gute Institutionen einhegen und so in ihrer negativen Wirkung begrenzen.  Der Mensch ist nicht dazu verdammt, seine schlechten Eigenschaften zur Entfaltung kommen zu lassen, wenn die richtigen Rahmenbedingungen gesetzt werden.

Es ist die Ermöglichung solch klugen Regierens, die Machiavelli anstrebte, als er Il Principe und die Discorsi schrieb. Im noch nicht vom modernen Fortschrittsdenken geprägten Geschichtsverständnis Machiavellis (Münkler 2004), lassen sich aus der Geschichte Lehren ziehen über die Gesetzmässigkeiten und Zwänge, denen politisches Handeln unterliegt (necessitá). Ein kluger Fürst erkennt die Gelegenheiten (occasione), die sich daraus ergeben und handelt entsprechend, um seine Macht – und damit die Stabilität des Staates – zu sichern (virtú). Das nötige Quentchen Glück (fortuna) gehört dazu.

Machiavellis Denken war jahrhundertelang verpönt und es wird noch heute oft verkürzt dargestellt. Es lohnt sich jedoch, genau zu lesen und anzuerkennen, dass es ihm nicht allein darum ging, die Fehlbarkeit des Menschen herauszustellen. Oder gar darum, jede grausame Herrschaft zu rechtfertigen. Alles Handeln – sei es von Fürsten oder Massen – muss sich messen lassen an einem Ziel: Dient es dem Erhalt des Staates und der Stabilität des Gemeinwesens.

Am stringenten Aufbau von Machiavellis Argument lässt sich wunderbar sehen, wie aus einer Beschreibung des Menschenbildes, einer Vorstellung davon, wie die Welt funktioniert (necessitá) und einer klaren Zielstellung (Stabilität), klare Handlungsanweisungen für die Politik entwickelt werden.

Machiavellis Denken ist immer wieder eine Herausforderung, aber seine Weitsicht war erstaunlich. Zu einer Zeit, als noch unklar war, welche politische Form sich aus den Turbulenzen des Umbruchs durchsetzen würde, beendet Machiavelli seinen Il principe mit einem Aufruf Italien zu einigen. Für ihn war klar, das der Nationalstaat die Form der Zukunft ist.

Gemälde von Lucas Cranach – Martin Luther und Katharina von Bora

Und doch hat er wesentliche Entwicklungen seiner Zeit falsch eingeschätzt. Er hielt die deutschen Fürsten für sehr wohl in der Lage, mit einem kleinen mitteldeutschen Mönch klar zu kommen, die Wirkung, die die Reformation auf die europäische Geschichte hatte, sah er nicht voraus. Dabei ist es gerade die von Martin Luther popularisierte Weltvorstellung jene, die die Konflikte der kommenden Jahrhunderte prägte. Zwar sah auch Machiavelli in der Religion nur ein Instrument, dass dem Staat dienlich oder weniger dienlich sein konnte. Aber es war Martin Luther, der das vorherrschende Weltbild in Frage stellte und eine radikale theologische Argumentation hervorbrachte, die eine völlig Neuordnung des Verhältnisses von Politik und Religion zur Folge hatten.

Weiterführende Literatur

Diesner, Hans-Joachim 1983: Luther und Machiavelli. In: Theologische Literaturzeitung. Monatsschrift für das gesamte Gebiet der Theologie und Religionswissenschaft. 108:8. 561-570.