Als das Gebiet des heutigen Israel/Palästina 1920 zum britischen Mandatsgebiet wird und den Namen Palästina erhält, ist der Erste Weltkrieg vorbei und die bisherige Herrschaft des Osmanischen Reiches untergegangen. Mit Spannung wird daher der Antritt des neuen Hochkommissars Herbert Samuel erwartet. Für Aufsehen bei dessen Empfang im Dezember 1920 sorgen die Worte eines jungen Professors der neugegründeten Hebräischen Universität:
Nur wenn der Geist der Toleranz und der Freiheit, der im goldenen Zeitalter des arabischen Denkens in al-Andalus vorherrschte […], heute wieder die Oberhand gewinnt, und zwar in einer Weise, die es allen Völkern ermöglicht, ohne religiöse oder ethnische Vorurteile gemeinsam für die Wiederbelebung der Aufklärung in den östlichen Nationen zu arbeiten, wobei jedes Volk seinem einzigartigen Charakter und seinen Traditionen entspricht, kann eine allumfassende östliche Aufklärung wiedergeboren werden, die alle östlichen Nationen und Völker einschließt.
Der Redner verweist auf al-Andalus, das islamische Spanien im Mittelalter, um ein historisches Modell des Zusammenlebens zu beschwören. Interessant ist, dass er als Jude vor einem gemischten Publikum aus Briten, eingewanderten Juden, muslimischen und jüdischen Arabern spricht und mit diesem Verweis die Zuhörer davon überzeugen will, dass eine gemeinsame Zukunft möglich ist, weil sie in der Vergangenheit möglich war. Er verweist auf gemeinsame Wurzeln und auf den besonderen Glanz dieser Epoche. So schlägt er geschickt eine Brücke zwischen allen Anwesenden, um seine Vision eines jüdisch-arabischen Palästina zu entwerfen. Er tut dies auf Arabisch, nicht nur wegen seiner Adressaten. Es ist auch seine Vision einer arabisch-jüdischen Brüderlichkeit, die ihn trägt und die er damit zum Ausdruck bringt. Doch wer ist dieser geheimnisvolle Redner?
Wer ist dieser Mann?
Abraham Shalom Yehuda ist der Name des gelehrten Mannes. Sohn des irakischen Juden Ezechiel Yehuda, geboren 1863, Nachkomme von Yosef ben Shoshan aus Toledo, Minister unter Alfons VIII. (König von Kastilien im späten 12 Jahrhundert), und David Shoshan, bekannter Philanthrop in Bagdad. Ezechiel Yehuda war Buchhändler und sprach mehrere Sprachen. Er verkaufte Bücher in Deutschland, wo er seine Frau Rebecca Bergmann kennenlernte, die Mutter von Abraham.

Abraham wächst zweisprachig in wohlhabenden Verhältnissen in Jerusalem auf und geht 1897 zum Studium nach Deutschland. Dort studiert er bei dem bedeutendsten Arabisten seiner Zeit, Theodor Nöldeke in Straßburg, und promoviert 1904 mit einer Arbeit über Bahya ibn Paqudas „Pflichten des Herzens“ zum Dr. phil.
In diese Zeit fällt auch seine Teilnahme am ersten Zionistenkongress 1897, wo er Theodor Herzl kennenlernt. Interessanterweise zeigt er schon hier, dass er das zionistische Siedlungsprojekt zwar begrüßte, aber einige Aspekte sehr kritisch sah. Ein besonderes Anliegen war ihm auf politischer Ebene die kooperative Einbeziehung der arabischen Bevölkerung und ihrer Eliten in die Besiedlung. Und er reagierte ziemlich irritiert, als Theodor Herzl ihm zu verstehen gab, dass er allein die Großmächte für die entscheidenden Akteure hielt.
Abraham bekommt dann eine Stelle in Potsdam an der Hochschule für das Judentum. Vermutlich kommt er spätestens dort in engeren Kontakt mit Kreisen des deutschen liberalen Judentums, für das, nebenbei bemerkt, die goldene Zeit von al-Andalus der wichtigste Bezugspunkt war. Deutsche Juden aus dem Umfeld der „Wissenschaft des Judentums“ sind in der Folge maßgeblich an der Beschwörung des Bildes einer goldenen Zeit in al-Andalus beteiligt. Damit werben sie auch um Akzeptanz in der aufgeklärten deutschen Gesellschaft.
Straßburg, Potsdam, Madrid, Jerusalem
In diesen Jahren wird Yehuda zu einer Vortragsreise nach Spanien eingeladen. Spanien befindet sich in dieser Zeit in einem neuen kolonialen Rausch. Kuba und die Philippinen waren 1898 zwar endgültig verloren gegangen, doch nun winkte dank der zweiten Marokkokrise eine neue spanische Kolonie bzw. „Einflusszone“: Nordmarokko, das dann zum Protektorat wird. Zu ihrem eigenen Erstaunen werden die ersten Kolonialbeamten und Militärs dort von Einheimischen auf Spanisch begrüßt. Wie sich herausstellt, Nachfahren der spanischen Juden, die nach 1492 nach Marokko ausgewandert waren und ihre Sprache bewahrt hatten. Diese Entdeckung löst eine kleine philosemitische Welle aus – man träumte von willigen Partnern für das spanische Kolonialprojekt – und so lud man 1912 Abraham Yehuda, diesen orientalischen Juden mit spanischen Vorfahren, nach Madrid ein. Als „ehemaliger Untertan“ wird er hier sogar von König Alfons XIII. persönlich empfangen. Die Begeisterung für seine Person ist so groß, dass ihm 1915 ein eigener Lehrstuhl an der Universität Madrid angeboten wird.
Kurz nach seinem Aufenthalt in Madrid besucht er Jerusalem, und es ist anzunehmen, dass seine eigene Begeisterung für das Erbe Spaniens und al-Andalus‘ in dieser Zeit ihren Höhepunkt erreicht. Auf seine Rede beim Empfang des Hochkommissars in Jerusalem erhält Yehuda interessanterweise gerade auch von arabischer Seite viele positive Reaktionen von arabisch-palästinensischer Seite. Darunter von dem irakischen Dichter Ma’ruf ar-Rusafi:
Yahudas Rede hat uns alle zum Nachdenken gebracht und erinnerte uns an das, was wir so gut wussten. Er feierte die arabischen Errungenschaften im Westen und erinnerte an den Ruhm der Abbasiden im Osten. Wir sind nicht, wie uns fälschlicherweise vorgeworfen wurde, Feinde der Juden, offen oder heimlich. Die beiden Völker sind nur Vettern. Der Beweis liegt in ihrer Sprache. Doch wir fürchten die Vertreibung aus unserem Heimatland und mit Waffengewalt regiert zu werden

Doch Yehudas Enthusiasmus war nicht von langer Dauer. An der Hebräischen Universität unterrichtete er Arabisch, war aber bald enttäuscht von der geringen Resonanz, die seine Vision eines neuen arabisch-orientalischen Judentums bei den Zionisten fand. Er wünschte sich ein Judentum, das sich seiner orientalischen Wurzeln bewusst war und sich so auch den lokalen arabischen Muslimen und Christen öffnete. Al-Andalus diente ihm dabei als Chiffre und Erinnerung an eine gemeinsame Geschichte. Bereits 1921 verließ Yehuda das Mandatsgebiet wieder.
Verfechter jüdisch-arabischen Erbes
Bald zog er nach London und später nach New York, wo er die meiste Zeit als Gelehrter und Sammler von Manuskripten verbrachte. Dort starb er 1951. Bis zuletzt wurde er nicht müde, seiner Vision Ausdruck zu geben. 1942 schrieb er in Ever ve-Arav (dt. Hebräer und Araber), einer Sammlung seiner wissenschaftlichen Schriften:
Unsere Autoren (die jüdischen Gelehrten) sind gegenüber unserem arabischen literarischen Erbe aus dem Mittelalter voreingenommen. Niemand würde es wagen, über Philo zu schreiben, ohne Griechisch zu können, oder über Spinoza ohne Latein, oder über Mendelsohn ohne Deutsch. Aber bis auf einige wenige Auserwählte haben fast alle, die über unsere mittelalterliche Literatur schreiben, kein Interesse daran, die Sprache zu studieren, die ihnen die meisten ihrer Methoden und Ideen geliefert hat. Selbst was ihre arabischen Bücher betrifft, begnügen sich die meisten von ihnen damit, sie anhand der hebräischen Übersetzungen zu verstehen, die ihrerseits von der arabischen Sprache beeinflusst sind und ohne Arabischkenntnisse nicht vollständig verstanden werden können.
Der Beitrag wurde zuerst am 10. Dezember 2024 unter dem Titel „Elf Sterne über al-Andalus: Das islamische Spanien als Sehnsuchtsort für Muslime und Juden in Palästina“ als Vortrag in der Reihe Offener Hörsaal: Die Vielfalt Palästinas – Eine kulturelle Zeitreise an der Freien Universität Berlin gehalten. Vielen Dank für die Genehmigung der auszugsweisen und leicht redigierten Veröffentlichung an dieser Stelle.
Zum Titelbild: Der jüdische Gelehrte und andalusische Diplomat Hasdai ibn Shaprut bei der Vorstellung des Botschafters von Otto I., Johannes von Gorze, vor Abd al-Rahman III. in dessen Cordobenser Kalifatsresidenz Madinat az-Zahra. Gemälde von Dionisio Baixeras Verdaguer, 1885. Bildquelle: wikimedia.
Weiterführende Leseempfehlung: Yuval Evri: Translating the Arab-Jewish Tradition: From Al-Anadalus to Palestine/Land of Israel. Berlin: Forum Transregionale Studien 2016.
Vielen Dank für den sehr interessanten Artikel.