The State of American Democracy

Research-based Analysis and Commentary by the Department of Politics at the John-F.-Kennedy Institute

Frank Unger: Die USA – Gewalt in der „Zivilgesellschaft“

Die Vereinigten Staaten von Amerika gelten spätestens seit Ende des Zweiten Weltkriegs westlichem Verständnis nach als die Mutter aller modernen »Zivilgesellschaften « – also eine »Assoziation selbständiger, politisch und sozial engagierter Bürger, die ihre externen wie internen Konflikte friedlich löst«, wie das ZEITLexikon definiert – und damit als das Vorbild schlechthin für den noch unzivilen Rest der Welt. Ist das gerechtfertigt? Denn gerade die USA sind auch eine in starkem Maße von Töten und Gewalt geprägte Gesellschaft. Diese Feststellung bezieht sich nicht allein auf ihren gigantischen Militärapparat und dessen bis in die Gegenwart mehr oder weniger kontinuierlichen Einsatz in allen Teilen der Welt, dem in den sechzig »Nachkriegsjahren« Millionen von Menschen, vor allem in Südostasien , zum Opfer fielen, der sich aber auch bedenkenlos der eigenen Armen im Lande als Verbrauchsmaterial und Schmiermittel für seine Maschinerie bedient – mit zum Teil verheerenden Folgen für die Überlebenden und deren Angehörige, sondern sie bezieht sich auch – und davon soll in diesem Aufsatz die Rede sein – auf die innere Verfassung des Landes, auf das alltägliche Leben in der Heimat selbst.

Umfragen zufolge fühlt sich der us-amerikanische Durchschnittsbürger durch eine ständig wachsende Kriminalität bedroht. Unter anderem hat das dazu geführt, dass Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung bzw. die Ankündigung von Gesetzen zu strengerer Bestrafung von Straftätern heute häufig gebrauchte Mittel sind, um Wählerstimmen zu mobilisieren oder die Popularität in Bedrängnis geratener Regierungen wieder zu steigern. Umgekehrt kann der politische Gegner am sichersten dadurch diskreditiert werden, dass man ihm eine weiche Haltung gegenüber »gewalttätigen Kriminellen« unterstellt. Die jüngste politische Geschichte ist voll von Beispielen, wie Politiker bzw. deren Wahlkampfstrategen die Angst vor der Kriminalität für ihren Erfolg nutzbar gemacht haben.

 

Was ist das für eine merkwürdige Gesellschaft? Ist sie nun zivil oder das Gegenteil davon, wie immer das heißen mag? Oder am Ende gar beides zugleich? Erzeugt das Leben unter amerikanischen Bedingungen mehr Kriminalität als anderswo? Wer sind diese »Kriminellen«, vor denen die Bevölkerung Angst hat? Warum lassen sich mit diesem Thema in den USA Präsidentschaftswahlen gewinnen? Ist die us-amerikanische Gesellschaft wirklich so gewaltgeplagt? Oder handelt es sich dabei um eine selektive Wahrnehmung?

 

Verständigen wir uns zunächst über Begriffliches: Es gibt grundsätzlich zwei Formen, in denen Gewalt innerhalb einer Gesellschaft ausgeübt werden kann: als interpersonelle und als strukturelle Gewalt (Chasin 1998, 4). Interpersonelle Gewalt bezeichnet alle intentionalen oder unintentionalen Handlungen von Menschen, die eine körperliche Verletzung bzw. Tötung von anderen Menschen zur Folge haben. Dazu gehören Mord, Totschlag, fahrlässige Tötung sowie gefährliche Körperverletzung, Kindesmisshandlung und -vernachlässigung sowie Vergewaltigung. Als strukturelle Gewalt dagegen gelten all jene gesellschaftlichen Zustände bzw. durch Menschen direkt oder indirekt herbeigeführten oder zu verantwortenden Umstände, unter denen anderen Menschen ein menschenwürdiges Leben erschwert wird und unter denen ihre physische und psychische Unversehrtheit und in letzter Instanz ihr Leben kontinuierlich gefährdet werden. Zu den Indikatoren struktureller Gewalt zählen z.B. die Säuglingssterblichkeit, die Anzahl der Unfälle am Arbeitsplatz, die Häufigkeit von Unfällen im Straßenverkehr mit Personenschäden und in den Haushalten, die Luftverschmutzung, die Erzeugung giftiger Industrieabfälle sowie die Belastung durch Pestizide in der Nahrungskette.

 

 

Es dürfte nicht allgemein bekannt sein, dass auf dem Feld der strukturellen Gewalt die Vereinigten Staaten auf beinahe allen Gebieten unangefochtene Spitzenreiter unter den entwickelten Industrieländern sind. Laut dem Entwicklungsbericht der Weltbank lag die Säuglingssterblichkeit in den USA zu Beginn der neunziger Jahre im Durchschnitt um ca. 50 % höher als in allen von Einkommen und Sozialstruktur her vergleichbaren Ländern Westeuropas und in Japan. Ebenfalls vorn unter vergleichbaren Nationen liegen die US-Amerikaner in der Produktion gefährlicher Abfallstoffe sowie in der unfreiwilligen Konsumtion von Pestizid-Rückständen oder hormonellen und antibiotischen Futterzusätzen beim täglichen Verzehr von Obst, Gemüse und Fleischprodukten. Selbst auf dem Feld der Verkehrsunfälle mit Personenschaden ragen die USA heraus. Entgegen landläufiger Vorstellungen über die angebliche Sicherheit des »gemächlichen« Fahrens unter dem Regime universaler Geschwindigkeitsbeschränkungen war z.B. im Jahr 1985 die auf die Bevölkerungszahl bezogene Anzahl der Verkehrsunfälle mit Personenschäden in den USA etwa doppelt so hoch wie in dem »Raserland« Deutschland und sechsmal so hoch wie in Schweden (World Bank 1994, zit.n. Chasin 1998, 8).

Obwohl die Daten eine eindeutige Sprache sprechen, sind sie doch nicht dermaßen weit entfernt von einigen vergleichbaren Ländern, als dass man hier schon uneingeschränkt von einer Sonderstellung der USA sprechen könnte. Vielfach sind sie einfach relativ junge Auswirkungen der neoliberalen Offensive des Kapitals seit den 1980er Jahren, die zu einer Polarisierung in den Eigentumsverhältnissen und Einkommen, zu einer Verschärfung der Arbeitsbedingungen einschließlich der Lockerung von Arbeitsschutzbestimmungen, zu einer generellen Verarmung und zu einer wachsenden Zahl von Menschen ohne jeden Krankenversicherungsschutz geführt hat. Es sind sozusagen spin-offs des Turbo-Kapitalismus, denen die europäischen Partner der USA mit Hingabe nachzueifern bemüht sind. Somit sind sie mehr entwicklungsinduzierte als kulturspezifische Erscheinungen.

Als Volltext erschienen in: Das Argument 263/2005

Frank Unger: Politischer Pietismus und Rechtspopulismus in den USA

Wohl für die meisten Europäer, sicherlich für die meisten Deutschen waren die Vereinigten Staaten von Amerika lange der Inbegriff einer „pragmatischen Nation“: dem Diesseits zugewandt, allem Doktrinären abgeneigt, kurz: das Land der „angewandten Aufklärung“, um an den Titel eines vor dreißig Jahren in Deutschland viel gelesenen Buches von Ralf Dahrendorf zu erinnern.

Sie konnten sich dabei auch auf prominente amerikanische Kronzeugen berufen. Henry Steele Commager, dessen 1950 erschienenes Buch „The American Mind“ zu einem Klassiker der „American Studies“ wurde, erklärt darin sowohl die moderne Kunst wie die Religion für „irrational“ und damit für zutiefst unamerikanisch.Arthur Schlesinger, Jr., der historicus laureatus des tausendtägigen Reiches John F. Kennedys, hielt noch bis zu Zeiten der beinahe erfolgreichen Präsidentschaftsbewerbung von Pat Robertson die Säkularität für das herausragende Merkmal typischen Amerikanertums. „Der amerikanische Geist“, so ließ er im Jahre 1989 in einer Einführungsrede für einen neuen Universitätspräsidenten verlauten, „ist seinem Wesen nach skeptisch, respektlos, pluralistisch und relativistisch.“ Die beiden „größten und charakteristischsten amerikanischen Denker“, so Schlesinger, seien William James und Ralph Waldo Emerson. Amerika finde man komprimiert zusammengefasst in jener berühmten Szene aus dem „größten aller amerikanischen Romane“, Mark Twains „Huckleberry Finn“, als Huck sich dazu durchringt, Nigger Jim bei seiner Flucht zu helfen; nach Ansicht Schlesingers offenbar deswegen, weil hier bei Huck in jenem entscheidenden Moment seines Lebens und der amerikanischen Literatur zugleich die Wesensmerkmale des amerikanischen Geistes zum Vorschein kommen: Skepsis, Respektlosigkeit, Pluralismus und Relativismus.

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ein Bild von Amerika als Inbegriff aufgeklärter Modernität und pluralistischer Skepsis zu verbreiten, mag als treuherziger Versuch gewertet werden, seine militärisch-ökonomische Führungsposition vor dem Rest der Welt auch ideologisch zu flankieren. Auch hatte eine solche Einschätzung damals noch einen Kern von Plausibilität. Dieselbe Einschätzung aber dann nach gut vierzig Jahren kontinuierlicher „Resakralisierung“ Amerikas nicht nur zu wiederholen, sondern sie ausgerechnet an Huckleberry Finn exemplifizieren zu wollen, erweckt doch einiges Staunen. Denn wenn der (ungläubige) Mark Twain in diesem Roman etwas darstellen wollte, dann den Dogmatismus und den Aberglauben, die Unaufgeklärtheit und die Dämonenfurcht, den Glauben an die Unentrinnbarkeit von Sünde und Verdammnis, die das Denken und Handeln der meisten seiner Landsleute bestimmten und die deren religiöse Kultur für Amerikas gebildete Stände unheimlich machte, sofern die sich dazu herabließen, von ihr Notiz zu nehmen.

An der Religiosität der amerikanischen Bevölkerung hat sich bis heute nichts geändert. Jede neue Meinungsumfrage bestätigt die gleichen, hundertmal protokollierten Fakten: Die Gesellschaft der USA mag in den letzten hundert Jahren die gewaltigsten strukturellen Veränderungen durchgemacht haben, von der Industrialisierung über die Massenproduktion bis zur Verstädterung, von der Explosion der Wissenschaften über die Einführung der allgemeinen Schul- und (zeitweise) Wehrpflicht bis zur allerjüngsten Microchip-Revolution – was die Religiosität der amerikanischen Bevölkerung und die überragende Bedeutung des Glaubens für die amerikanische Alltagskultur einschließlich der Politik betrifft, so sehen diese Dinge heute kaum anders aus als zu Zeiten Mark Twains.

Hier sind die immer wieder bestätigten Zahlen:

Neun von zehn Amerikaner/innen sagen, sie hätten niemals in ihrem Leben an der Existenz Gottes gezweifelt.

Acht von zehn Amerikaner/innen erklären ihren Glauben an den Tag des jüngsten Gerichts, an dem sie vor ihren Gott zu treten und über ihre Sünden Rechenschaft abzulegen hätten.

Acht von zehn Amerikaner/innen sind davon überzeugt, dass Gott auch heute noch gelegentlich auf Erden Wunder bewirkt.

Sieben von zehn Amerikaner/innen glauben an ein Leben nach dem Tode.

50% der Amerikaner/innen glauben an die Existenz von Engeln, 37% an einen persönlichen Teufel.

Ungefähr 40% der amerikanischen Bevölkerung besucht in einer gewöhnlichen Woche eine Kirche, über 90% geben an, mehrmals wöchentlich zu beten.

40% derjenigen, die sich an der Präsidentenwahl 1980 beteiligt hatten, gaben an, mindestens eine persönliche Erfahrung mit Jesus gehabt zu haben.

Selbstverständlich sind diese Daten mit der gebotenen Skepsis zu lesen: allzu sehr hängen die Resultate von Meinungsumfragen davon ab, wie die Fragen gestellt werden, und außerdem antworten viele Menschen auf solche Fragen nicht so, wie sie wirklich denken, sondern so, wie sie meinen, dass es von ihnen erwartet wird. Aber dennoch: Ein Bild der US-Gesellschaft ergibt sich daraus in jedem Fall. Der amerikanische Wahlforscher und Politikwissenschaftler Walter Dean Burnham hat daraus immerhin den Schluss gezogen, dass die Vereinigten Staaten von Amerika eines der gängigsten Theoreme der Sozialwissenschaften – die proportionale Beziehung zwischen industriell-technischer Entwicklung und dem Verfall traditioneller Glaubenssysteme – widerlegen. In so gut wie allen Gesellschaften der Welt lasse sich eine direkte Korrelation zwischen industrieller Modernisierung und technologischer Entwicklung auf der einen Seite und einer Säkularisierung der Glaubenssysteme auf der anderen Seite beobachten.

Die Beziehung sei regelmäßig genug, um normalerweise vom einen auf das andere schließen zu können. Allein für die USA gelte das nicht: Bei einer internationalen Gallup-Untersuchung von 1976, bei der in 14 Ländern bzw. Großregionen in aller Welt Personen nach der Wichtigkeit des religiösen Glaubens in ihrem täglichen Leben (z.B. bei politischen Wahlentscheidungen) gefragt wurden, und in der dann die Resultate zu einem in der Geographie eingeführten, aus 22 Variablen zusammengesetzten Entwicklungsindex in Beziehung gesetzt wurden, zeigte sich, dass man für die USA ungefähr das „Entwicklungsniveau von Ländern wie Chile, Mexiko, Portugal und dem Libanon“ annehmen müsste, wollte man von der statistisch ermittelbaren Gläubigkeit auf den Stand der materiell-technischen Entwicklung schließen.

Eine solche Argumentation ist frappierend. Sie übersieht aber die historischen Besonderheiten amerikanischer Religiosität. Diese ist nämlich gerade nicht orientiert an „traditionellen“, kollektiv disziplinierenden Glaubenssystemen, in die man hineingeboren wird und in denen zu großer Respekt fürs Althergebrachte und die Priester mitunter den historisch gebotenen Gang der Dinge aufhalten kann. Vielmehr wählt gerade der religiös besonders aktive Amerikaner in der Regel seine „Denomination“ und damit die ihm persönlich genehme Doktrin selbst, und zwar mitunter nach Maßgabe ganz rationaler Interessen.

Die Motive der einzelnen bei dieser Entscheidung können ganz verschiedener Art sein, aber zu einer Behinderung der materiell-technischen „Modernisierung“ im Land tragen sie nicht bei. Im Gegenteil: statt „Pragmatismus“ oder „angewandte Aufklärung“ kann heute eher die unbefangene Verbindung von hochmodernem Technologiekult und voraufklärerischen Glaubensinhalten als ein hervorstechendes Merkmal Amerikas angesehen werden. Ein besonders gutes Beispiel dafür ist die so genannte „Schöpfungswissenschaft“ (creation science), einer an bestimmten amerikanischen Bibelkollegs gepflegten Disziplin, die es sich zur Aufgabe gestellt hat, die buchstäbliche Richtigkeit der biblischen Schöpfungsgeschichte mit modernsten Mitteln und strikt naturwissenschaftlichen Methoden zu belegen.

Eine Vollversion dieses Texts erscheint demnächst im Sammelband “Populismus in Geschichte und Gegenwart”, herausgegeben von Frank Unger und Richard Faber.

Frank Unger: Populismus und Demokratie in den USA

In seinem in den deutschen Feuilletons viel beredeten, aber inhaltlich wenig diskutierten Buch „Eine kurze Geschichte der Demokratie“erörtert der italienische Philologe und Altertumswissenschaftler Luciano Canfora an einer zentralen Stelle die Frage, „weshalb die angloamerikanischen Revolutionen und die französische Revolution einen so unterschiedlichen Verlauf nahmen“ und zählt einige der dafür üblicherweise genannten Faktoren auf, wie z.B. „jakobinischer Zentralismus“ und „Tugendterror“ auf der einen und „Rechte des Individuums“ auf der anderen Seite, fährt dann aber fort: „Der Hauptunterschied […] wird gern vernachlässigt: dass nämlich die einen in aller Ruhe die Sklaverei bestehen ließen, ja sogar dazu beitrugen, sie zu erhalten (und dass es zu deren endgültiger Abschaffung des längsten und grausamsten Krieges ihrer Geschichte bedurfte), während die anderen recta via zu der Auffassung gelangten, dass die <Menschenrechte> nichts wert waren, wenn sie von der Hautfarbe abhängig gemacht wurden oder wenn es – außerhalb Europas – möglich war, Massen erniedrigter und billiger Zwangsarbeitskräfte in Sklaverei zu halten. Die einen beriefen sich auf die Bibel, die anderen auf die sehr viel ältere und zweifellos verklärte Tradition der Griechen und Römer als Modell für die Werte der Gleichheit und Freiheit, die universelle Gültigkeit besitzen sollten.“

„Freiheit“ und „Demokratie“ sind heute wahrscheinlich die am meisten genannten Antworten auf die Frage nach den höchsten Werten der westlichen Welt, aber wenn genauere Erläuterungen gefragt sind, wird „Demokratie“ in aller Regel schlicht operational verstanden, nämlich als die real existierenden Zustände der westeuropäischen und US-amerikanischen politischen Verfassungen mit begrenzter Amtsperiode für das Staatsoberhaupt, mindestens zwei Parteien, regelmäßig durchgeführten Wahlen auf der Basis des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts und einem von der Regierung und der Legislative unabhängigen Justizsystem, das Ganze selbstverständlich und unverzichtbar sich bewegend auf der politisch-ökonomischen Grundlage eines privatwirtschaftlichen Kapitalismus. „Freiheit“ wird inzwischen überwiegend, wenn nicht ausschließlich, verstanden als Unabhängigkeit von durch Institutionen (Staat, Gesellschaft, Kirche etc.) bedingtem Zwang; ein Verständnis von „Freiheit“, das seinen Auftrag in der Befreiung von durch andere Menschen bedingte Zwänge (ökonomische Ausbeutung, Übervorteilung, Gefährdung oder Benachteiligung aufgrund ethnischer und sozialer Herkunft, geistiger Schwäche oder psychischer Labilität etc.) sieht, wird heute überwiegend als undemokratischer Versuch einer Einschränkung der Freiheit denunziert. Wessen Freiheiten sind es aber, die in unserer modernen Demokratie vor allem zu schützen sind? Es sind, bemerkt Canfora, „diejenigen, die aus dem Konkurrenzkampf als die <Stärkeren> hervorgehen (seien es Staaten, Regionen oder Individuen – jene von Benjamin Constant geforderte und mit der Fabel vom Reichtum, der <stärker ist als alle Regierungen>, verbundene Freiheit, vielleicht aber auch jene Freiheit, für die die Anhänger der neonazistischen New Yorker Vereinigung <Knights of Freedom> kämpfen. Anders könnte es auch nicht sein, denn Freiheit impliziert den beunruhigenden Aspekt, dass sie entweder total herrscht – und zwar in allen Bereichen einschließlich des persönlichen Verhaltens – oder gar nicht; und jede Begrenzung zugunsten der weniger Starken wäre eine Einschränkung der Freiheit der Anderen.“

Canfora beschreibt hier das Freiheitsverständnis des angloamerikanischen Liberalismus, das eher durch das gemächliche englische Wort „liberty“ wiedergegeben wird als durch das emphatische „freedom“. Klassisch auf den Begriff gebracht wurde es von John Locke, anschließend kongenial transferiert in die Neue Welt von den Gründervätern der sich 1776 für unabhängig erklärenden dreizehn nordamerikanischen Siedlerkolonien. John Locke war der anerkannte und hoch geschätzte Legitimationstheoretiker der mit der „Glorreichen Revolution“ 1689 zu guter Letzt auch formell an die Macht gekommenen englischen „Mittelklasse“, oder wie die Kontinentaleuropäer sagen, der Bourgeoisie; er war kein Kämpfer für die Freiheitsträume der Massen. Besitzlose kamen als Subjekte in seiner Theorie nicht einmal vor. Und entsprechend wollten auch die bürgerlichen Gründerväter der Vereinigten Staaten eine „liberale Republik“ und ausdrücklich keine „Demokratie“. Ihre Verfassung von 1787/88 wurde nicht a priori als institutionelles Fundament für eine künftige demokratische Willensbildung aller Bürger imaginiert, sondern ex post als Legitimation für die real bereits existierende Herrschaft der sich klassenintern konstituierenden Ausschüsse der lokalen Privateigentümer konstruiert.

Zum Zeitpunkt des Unabhängigkeitskrieges war einer von fünf Amerikanern ein schwarzer Sklave, die ebenfalls im Lande lebenden Ureinwohner galten von vornherein nicht als amerikanische Bürger. Sie galten stattdessen als eigene „Nationen“, was ihre rechtliche Situation auf längere Sicht aber auch nicht besser machte. Immerhin waren sie faktisch geschützt vor Sklavenarbeit. Zwar gab es während des Unabhängigkeitskriegs und während der Phase der Konstituierung der neuen Nation auch Kräfte, die mit den Führern und Theoretikern der Französischen Revolution in Verbindung standen und für das neue Staatswesen eine demokratische Verfassung auf der Basis der universalen Menschenrechte forderten, aber unter den Verhältnissen der bald einsetzenden Konsolidierung wurden sie von den Herren des nunmehr „freien“ Amerika unverzüglich als Atheisten und Unruhestifter geschmäht.

Die Sklaverei, die zum Zeitpunkt des Unabhängigkeitskrieges bereits seit über hundert Jahren in allen Kolonien etabliert war, wurde in der Verfassung von 1788/89 zwar nicht ausdrücklich sanktioniert, wohl aber implizit anerkannt.

Nun darf man den Gründervätern der amerikanischen Republik, allen voran Washington und Jefferson, nicht etwa unterstellen, dass sie sich des Widerspruchs zwischen den proklamierten Idealen der Revolution und der Praxis der Sklaverei nicht bewusst gewesen wären. Ein Indiz dafür ist die Wortwahl im ursprünglichen Verfassungstext: Man benutzt keine garstigen Wörter wie „Negersklaven“ oder „Sklaverei“, sondern spricht von other Persons oder Persons held to Service or Labour. In dieser verschleiernden Wortwahl drückte sich die Tatsache aus, dass unter den 55 Männern in der Verfassungsgebenden Versammlung von 1787 sowohl eine erhebliche Zahl von Sklavenhaltern als auch eine Reihe von Gegnern der Sklaverei waren; man suchte einen verbalen Kompromiss, mit dem die realen Interessen eines gewichtigen Teils der Nation konstitutionell gesichert werden konnten, ohne die humanistischen Überzeugungen eines anderen Teils (oder vielleicht auch das Über-Ich der jungen Nation!) dabei rhetorisch zu verletzen oder zu provozieren. Aber darin einen echten Ausdruck von Ambiguität oder gar eines inneren Widerspruchs im Denken und Fühlen der Gründerväter erkennen zu wollen, verkennt schlicht die zentrale Bedeutung der Sklaverei für die ökonomische Verfassung der damaligen Vereinigten Staaten. Schließlich galt den Gründervätern das Privateigentum als die Basis der individuellen Freiheit, und the pursuit of happiness in Jeffersons Unabhängigkeitserklärung war als Apotheose des Bemühens um optimale Nutzung des (naturrechtlich garantierten) Privateigentums gemeint; es steht damit auch theoretisch schon in einem Spannungsverhältnis zu den französischen Ideen von Freiheit und Gleichheit.Die Sklaverei war eine vielleicht moralisch fragwürdige, nichtsdestoweniger jedoch juristisch anerkannte Form des Privateigentums.

Ein solches Verständnis hegte im Übrigen in gleicher Weise die Mehrzahl der besitzenden Weißen im Norden, bloß dass im Norden die Sklaverei nur eine marginale ökonomische Bedeutung hatte. In der großen Industrie spielte sie keine Rolle. Niemand hatte ein ökonomisches Interesse daran, sie entschlossen zu verteidigen. Deshalb konnten die überzeugten moralischen Gegner der Sklaverei dort frühzeitig gewisse gesetzgeberische Erfolge erringen, die allerdings hauptsächlich symbolisch-demonstrativen Charakter hatten und an die Beschlüsse der deutschen rot-grünen Bundesregierung über den „Atomausstieg“ zweihundert Jahre später erinnern. So gab z. B. das vom Staat New York 1799 auf Druck von Gegnern der Sklaverei verabschiedete Emanzipationsgesetz keinem einzigen aktuellen Sklaven die Freiheit; es bestimmte allein, dass die Kinder von Sklavenmüttern freizulassen seien, allerdings erst nach dem Erreichen des Erwachsenenalters. Bis dahin hatten sie noch dem Herrn der Mutter für den gesetzlich ihm zugemuteten Eigentumsverlust kompensatorische Dienste zu leisten.

Eine Vollversion dieses Texts erscheint demnächst im Sammelband „Populismus in Geschichte und Gegenwart“, herausgegeben von Frank Unger und Richard Faber.

Frank Unger: SEYMOUR HERSH IN BERLIN

Am Mittwoch wurde in der Berliner Akademie der Künste dem amerikanischen Journalisten Seymour Hersh in einer feierlichen, aber unverkrampften Veranstaltung von den Herausgebern und dem Freundeskreis der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ der „Demokratiepreis“ verliehen. Er ist mit € 5000.- relativ bescheiden notiert, zumindest für einen Star-Journalisten des „New Yorker“, und es ist anzunehmen, dass Hersh nicht wegen des Geldes nach Berlin gekommen war. Das ehrt die Preisverleiher.

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Frank Unger: IM WESTEN NICHTS NEUES

In den USA das alte Bild: Nachweislich 70% der amerikanischen Bevölkerung, Tendenz steigend, wollen, dass der Krieg im Irak so schnell wie möglich beendet wird. Umgekehrt erklären ebenfalls über 70% der demokratischen Präsidentschaftskandidaten, darunter die beiden Stars Barack Obama und Hillary Clinton, dass sie selbstverständlich weiterhin im „Kampf gegen den Terror“ ganz vorn stünden und es für einen schweren Fehler hielten, wenn die Truppen schon bald abgezogen würden.

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Employee Free Choice Act gescheitert

Der Employee Free Choice Act, ein Gesetz u.a. zur Erleichterung der Gewerkschaftsbildung in Betrieben, wird in dieser Legislaturperiode höchstwahrscheinlich nicht mehr verabschiedet werden. Im Senat scheiterte ein Votum zum Debattenschluss (cloture) aufgrund der geschlossenen Gegenhaltung der Republikaner; das Gesetz wird nun wahrscheinlich zum Ende der Periode nicht verabschiedet worden sein und müsste dann in der nächsten Periode neu eingebracht werden. Präsident Bush hatte sein Veto im Falle eines Durchkommens schon angekündigt.

David Leonhardt von der NY Times diskutiert anhand dieses Gesetzes den Einfluss von Gewerkschaften auf die Profitabilität von Unternehmen.

„The problem with the Senate bill was that it tried to solve one problem by creating another. But its larger aim — cracking down on antiunion attacks — makes a lot of sense. The playing field between companies and workers is not level today, and the results are plain to see.

It is no coincidence that the very things the steelworkers demanded in 1949 — on-the-job pensions and health insurance — are slowly going the way of labor unions.“

Harvard-Professor Mankiw hält in seinem Blog dagegen: Gewerkschaften verschieben die Löhne über das Angebot-Nachfrage-Equilibrium des freien Markts:

„When unions push wages above the equilibrium of supply and demand, the side effects are not entirely benign.“

Die Spaltung der US-Gewerkschaften im Jahr 2005 analysierte Dr. Thomas Greven im Argument.

Learning from the U.S.? Canadian Unions and the Cross-Border Diffusion of Labor Movement Strategies

Die Tradition und Praxis des „gewerkschaftlichen Internationalismus“ in Nordamerika ist durch Unabhängigkeitsbestrebungen kanadischer Gewerkschaften gegenüber den amerikanischen Zentralen seit Jahrzehnten signifikant geschwächt worden. Heute ist weniger als ein Drittel der kanadischen Gewerkschaftsmitglieder in Ablegern US-amerikanischer Gewerkschaften organisiert. Nordamerikanische Integration und Globalisierung haben die Herausforderung internationaler Kooperation aber wieder stärker in den Mittelpunkt gewerkschaftlicher Politik gerückt. Neben Bestrebungen, gemeinsame Positionen z. B. zur „global governance“ zu identifizieren, finden verstärkt grenzüberschreitende Strategietransfers statt. Insbesondere die Innovationen US-amerikanischer Gewerkschaften haben weltweit Verbreitung gefunden. Auch kanadische Gewerkschaften nehmen auf das „organizing model“ und das Konzept der „strategic campaigns“ Bezug. Während kanadische Sektionen amerikanischer Gewerkschaften die Strategie-Innovationen z. T. direkt übernehmen, sind die Adaptionen nationaler kanadischer Gewerkschaften stärker durch spezifische Vorbehalte gegenüber den USA und kanadische Traditionen des „social unionism“ gebrochen.

Greven, Thomas (2006): Learning from the U.S.? Canadian Unions and the Cross-Border Diffusion of Labor Movement Strategies

Erschienen in: Zeitschrift für Kanada-Studien, Vol. 26, No. 2, 118-136.