Verlust und Kompensation beim „Übersetzen“ von Lehre in den virtuellen Raum

Es besteht für mich kein Zweifel daran, dass es sich bei dem, was aktuell unter der Bezeichnung „Online-Semester“ von Lehrenden entwickelt wird, um eine besondere Form der Online-Lehre handelt.

In einem früheren Blog-Beitrag schrieb ich, dass „online“ keine Maske sein sollte, die einfach auf das Gesicht eines Kurses gelegt wird und die Präsenz aus dem Unterrichtsraum eines Hochschulgebäudes schlicht in den virtuellen Raum eines Videokonferenztools überführt – am besten verlustfrei was wöchentliche Sitzungen angeht, sodass möglichst wenig abgewichen werden muss vom üblichen Plan. Den Präsenzunterricht eins-zu-eins zu virtualisieren, ist eine Strategie, die man versuchen mag, um die aktuelle Situation zu bewältigen; und vielleicht funktioniert sie auch bei einigen Kursen. Vor dem heimischen Bücherregal eine 90-minütige Performance vor der Laptop-Kamera hinzulegen, ist meinem Verständnis nach aber eher keine „Online-Lehre“.

Unterschiede zwischen online teaching und remote teaching

„Online-Lehre“ ist ein eigenständiger Bereich mit eigener Forschung und eigenen best practices; im Bereich educational technology werden online education und distance education als Unterdisziplinen erforscht.

„Online-Lernen“ wiederum – die Perspektive der Studierenden – findet als Blended-Learning-Technik in Kombination mit einer Vielzahl anderer Lernstrategien Anwendung; online zu lehren und zu lernen baut dabei nicht weniger auf persönliche Interaktion als im Unterrichtsraum mit einer Gruppe Studierender einen Kurs durchzuführen. „Online“ ist sodann eine zusätzliche Möglichkeit – eine Design-Option –, um das Kurserlebnis sowohl für Lehrende als auch Lernende zu diversifizieren und damit den Studierende eine Vielzahl von Lernmöglichkeiten zu bieten.

Die aktuelle Situation aber zwingt Lehrende und Lernende in die Distanz. Im Sommersemester wird so oder so aus der Ferne gelehrt und gelernt. Online ist damit keine bloße Option mehr, die man wählt, sondern die einzige Möglichkeit, die es gibt. Es geht nicht darum, mit E-Learning-Techniken den Unterricht abwechslungsreich zu gestalten, sondern darum, Lerninhalte überhaupt nur online zu vermitteln und die entsprechenden Lernziele überhaupt nur online erreichbar zu machen.

Was gerade passiert, ist dann zumindest nicht gleich Online-Lehre im Sinne einer Äquivalenz. Eher schwebt der Begriff emergency online teaching im Raum, der natürlich den Notfallcharakter dieses Lehrens, das gerade geplant oder schon umgesetzt wird, betont.

Online-Lernen ist nicht minderwertig

Lehrende treten Themen wie E-Learning bisweilen grübelnd oder mit einer hochgezogenen Augenbraue gegenüber. Online-Lernen gilt manchen als minderwertig im Vergleich zum Lernen in Präsenzstunden. Die Rasanz, mit der Kurse nun vom Unterrichtsraum in den online meeting room gebracht werden, kann diese Vorverurteilung von der Online-Lehre als Lehre zweiten Ranges unter Umständen sogar noch bekräftigen, wenn diese Lehre immerfort als „Online-Lehre“ in aller Munde ist.

Dabei ist kaum jemand, der unter den aktuellen Umständen in den virtuellen Raum umsteigt oder einfach ein bisschen mehr auf das jeweilige Learning Management System zurückgreift, wirklich darauf ausgelegt, die Vorzüge und Möglichkeiten des Online-Formats voll auszuschöpfen. Die Bezeichnung baut eine gewisse Erwartungshaltung auf, an der man scheitern kann, die aber auch motivieren und inspirieren kann.

Online-Lernen ist kein Lernen zweiten Ranges; aber seine Effizienz und sein Erfolg ist das Ergebnis einer sorgfältigen Unterrichtsgestaltung, die momentan kaum möglich ist und die es angesichts der Strukturen der Studienprogramme, die jetzt ausschließlich online verwirklicht werden müssen, vielleicht auch nie war. Die Studiengänge und zugehörigen Module sind in keiner Weise systematisch für die reine Online-Vermittlung entworfen worden. Den Notfall-Online-Kursen fehlt der fachkundige Designprozess, den ein Online-Kurs durchläuft, bevor er implementiert wird.

Und selbst wenn noch etwas Zeit bleibt, die ein oder anderen Lehrveranstaltung als Online-Kurs zu planen:

Auch die Lehrenden werden nicht auf einmal zu Experten in Sachen Online-Lehre; kaum jemand hat das entsprechende didaktische Know-how oder überhaupt Erfahrung im Bereich der Online-Wissensvermittlung; manche Lehrenden entwickeln sogar eine Furcht vor dem, was da im Sommersemester ansteht:

Was ist, wenn ich mit der Technik nicht klarkomme?

Wie soll ich denn Sprache online unterrichten?

Ich fühle mich der Masse an Studierenden in meinem Kurs ja schon im Präsenzunterricht kaum gewachsen; wie soll ich das online schaffen?

Was ist, wenn sich die Studierenden besser mit der Technik auskennen als ich und mir der Online-Unterricht entgleitet?

Ich kann meinen Unterricht doch nicht ohne Bibliothekszugang gestalten!

Wie kann überhaupt online diskutiert werden?

Studierende lernen nicht allein durch schriftliche Anleitung!

Komme ich meiner Pflicht zu lehren überhaupt nach, wenn ich den Studierenden lediglich Aufgaben per E-Mail gebe?

Es sind so viele neue Tools …

Dies sind einige der Fragen und Gedanken, die sich wahrscheinlich in den Köpfen der Lehrenden abspielen.

Erfreulich ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass die Menschen tatsächlich mit- und voneinander lernen und sich innerhalb der Abteilungen und darüber hinaus gegenseitig unterstützen. Im Schneeballsystem werden Anwenderkenntnisse weitergegeben und manche Wege sind digital kürzer als in Papierform.

Lehre als Teil eines Bildungsökosystems

Auch ist es ja auch nicht nur mit Online-Lehre getan. Natürlich, wenn man sich ein Semester betrachtet, so mach der Präsenzunterricht sonst sicher einen großen Anteil (nicht nur zeitlich) an so einem Semester aus; mit ihm verzahnt sind ja auch weitere Aktivitäten wie Sprechstunden, essen in der Mensa, lernen oder schreiben in der Bibliothek, mit anderen Studierenden in Aufenthaltsräumen abhängen, am Kletterkurs teilnehmen, und so weiter.

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Lehre ist nur ein Aspekt in einer Art Bildungsökosystem, ob sie nun im Unterrichtsraum oder im online meeting room stattfindet. Wie viel Infrastruktur und Logistik besteht sonst rund um Präsenzlehre und macht das erfolgreiche Studieren überhaupt erst möglich: Da sind Beratungsangebote, Studien- und Prüfungsbüros, Bibliotheken, PC-Pools, Mensen, Career-Services, Studierendenwerk und so weiter.

Lernen von Angesicht zu Angesicht mit anderen Studierenden sowie mit Lehrenden ist ja nicht nur „erfolgreich“, weil die Präsenzlehre gut ist; die Präsenzlehre ist ein Knotenpunkt – sicher ein zentraler oder voluminöser – in einem Netzwerk aus institutionellen, informellen und sozialen Ressourcen, die Studieren überhaupt erst ermöglichen. Erfolgreich online lernen ist ebenso nur in einem entsprechenden Ökosystem von Unterstützungsangeboten möglich.

Verlust und Kompensation

Viele Teile dieses Ökosystems sind aktuell entweder zerstreut (Lehrende, Studierende, Fachkräfte im Bereich des Studierenden- und Prüfungsmanagements, und so weiter) oder lahmgelegt (Bibliotheken, Studierendenjobs, und so weiter). Die Aufgabe, der sich die Hochschulen, die ein Online-Sommersemester angesetzt haben, gegenübersehen, besteht nun einerseits darin, die zerstreuten Teile zu verbinden und zu motivieren und andererseits, die Arbeitsunfähigkeit anderer Teile zu kompensieren.

Der italienische Schriftsteller und Semiotiker Umberto Eco (gest. 2016) übertitelte eines seiner Kapitel in seinem übersetzungswissenschaftlichen Werk Dire quasi la stessa cosa (dt. ‚Quasi dasselbe mit anderen Worten‘) mit perdite e compensazioni, also dt. ‚Verlust und Kompensation‘. Es ist fast schon ein Urgedanke des Übersetzens, dass es beim Übertragen zwischen Sprachen zu Verlusten kommt; manche davon können kompensiert werden, andere nicht.

In diesem Sinne sehe ich auch die ‚Übertragung‘ des Sommersemesters in den virtuellen Raum als eine Art Übersetzung an, bei der Verluste geben wird, die zu Kompensationen führen, wobei nicht alles verlustfrei umgesetzt werden wird.  Nicht alle Aspekte des sonstigen Bildungsökosystems mit Präsenzlehre an einer der zentralsten Stellen werden sich übersetzen lassen – schon gar nicht einfach oder auf die Schnelle.

Es muss aber auch nicht versucht werden, alles im virtuellen Raum zu replizieren.

Für mich als im Bereich der Lehre und Beratung Tätige steht an erster Stelle, Angebote zu schaffen, die Studieren ermöglichen. Es geht um die Teilhabe am Austausch von Wissen und darum, Zugang zum Erwerb von Qualifikationen und Kompetenzen zu gewähren.

Hier sind Flexibilität, Lösungsorientierung, Nahbarkeit und Transparenz geboten.