Frantz Fanon – Gewalt als Ausweg aus der kolonialen Abhängigkeit?

Innerhalb der letzten Sitzung haben wir uns zum Abschluss des ‚Neue Perspektiven‘-Blocks haben wir uns mit Frantz Fanon auseinandergesetzt. Im Fokus stand dabei Fanons Werk ‚Schwarze Haut, weiße Masken‘, welches im Jahr 1952 veröffentlicht wurde.

Frantz Fanon – Public Domain via Wikimedia Commons

Fanon befasst sich innerhalb des behandelten Werkes mit den Folgen des Kolonialismus. Er tut dies, indem er, ausgehend von seinen eigenen Erfahrungen, die Folgen der französischen Besetzung Martiniques (Fanons Heimat) auf die Schwarze Bevölkerung diskutiert. Ganz konkret befasst er sich dabei mit der Entfremdung des Schwarzen Menschen und diskutiert dabei sowohl die Bedeutung der Zeitlichkeit, als auch vermeintliche Lösungsvorschläge um dem Problem entgegenzutreten.

Der Kern dessen, was Fanon als das ‚schwarze Problem‘ bezeichnet, besteht darin, dass die schwarze Bevölkerung kolonialisierter Regionen durch die Unterdrückung und Herrschaft der weißen Kolonialmächte als minderwertig determiniert wird und sich als ebendies wahrzunehmen beginnt. Daraus resultiert laut Fanon, dass die Schwarzen sich nach Anerkennung und Wertschätzung von Seiten ihrer Besetzer sehnen und deswegen versuchen, sich ihnen auf unterschiedlichsten Wegen anzugleichen.

Wird heute über Fanon gesprochen und diskutiert, spielt dabei auch die Gewalt und Fanons Einstellung zu eben dieser eine essentielle Rolle. Eine Thematik, welche auch in unserer Sitzung aufgekommen ist und deshalb hier noch einmal genauer betrachtet werden soll.

Gewalt spielt in Fanons Vorschlag zum Ausweg aus der Unterdrückung und Entfremdung der Schwarzen eine zentrale Rolle. Grundlegend dafür ist Fanons Ansicht, dass ein Gros der Gewalt zwischen Kolonialisten und Kolonialisierten durch erstgenannte ausgeht. Als Gewalt definiert Fanon dabei zum einen strukturelle Gewalt (durch Gesetze und Regeln festgeschrieben), zum anderen aber auch explizit physisch ausgeübte Gewalt, welche von Seiten der Kolonialmächte genutzt wird um ihre Macht zu erlangen und später zu erhalten. Fanon kritisiert diese Gewalt zwar einerseits, erklärt allerdings auch, dass sie aus Sicht der Kolonialisierten der einzige Weg ist, um sich zu befreien. So schreibt er in ‚Schwarze Haut, weiße Masken‘ unter anderem, dass bloßes Appellieren an Vernunft und Menschlichkeit nichts bewirken wird und der Kampf vor allem für die schwarzen Arbeiter auf Plantagen der einzige Ausweg ist. In seinem zweiten großen Werk, ‚Die Verdammten dieser Erde‘, geht Fanon sogar noch weiter und erklärt Gewalt nicht nur zu einem Ausweg aus der kolonialen Unterdrückung, sondern auch zu einem Mittel, um die gefühlte Minderwertigkeit der Kolonialisierten zu bewältigen. Er präsentiert den Aufstand und gewalttätigen Protest als Wege für die Subjekte der Kolonialverhältnisse um sich den Objekten wieder ebenbürtig zu fühlen, ohne sich ihnen anzugleichen. Trotz allem Potenzial, welches Fanon Gewalt zuschreibt, ist er sich auch über deren negative Effekte durchaus im Klaren. Sowohl die negativen physischen, als auch die psychischen Folgen von Gewalt sind ihm bewusst, weshalb er beispielsweise Gewaltanwendung ohne Ziel verurteilt.

In unserer Sitzung haben wir folglich auch ausgearbeitet, dass Gewalt für Fanon keinesfalls ausreicht, um sich aus der physischen und psychischen Unterdrückung des Kolonialismus und dem daraus entstandenen System zu befreien. So fordert Fanon die Menschen eindringlich zu einem Umdenken auf und fordert die Abschaffung von Hautfarben-bezogener Kategorisierung. Statt zwischen Weißen und Schwarzen zu unterscheiden, fordert Fanon dazu auf einzelne Individuen schlichtweg als Mensch anzusehen.

Fanons eindringlichster Appell an die Leser seiner Arbeit ist jedoch, dass sie hinterfragen sollen und nicht auf Grundlage von bereits Geschehenem und der Vergangenheit handeln sollen. Fanon fordert dazu auf darüber nachzudenken wie die Zukunft gestaltet werden kann, anstelle sich mit Konzepten wie Rache oder Vergeltung zu beschäftigen. Er hält es für essentiell, dass die Menschen sich selber und ihr Handeln kritisch und rational hinterfragen.

Ergenisse der Gruppenarbeit aus der letzten Sitzung

 

Weiterführende Literatur
Fanon, Frantz (1981). Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt. Suhrkamp Verlag.
Fashina, O. (1989). Frantz Fanon and the Ethical Justification of Anti-Colonial Violence. Social Theory and Practice, 15(2), 179-212.

Donna Haraway und die Grundlagen des Cyberfeminismus

Im Zentrum dieser Seminarstunde stand Haraways „Cyborg Manifesto“, das sowohl Kultstatus besitzt als auch die feministische Theorie maßgeblich beeinflusste. Am Beispiel der fortscheitenden Technologisierung beschreibt Haraway darin ihre Utopie einer postmodernen Gesellschaft und fordert das Aufbrechen gängiger Denkkategorien. Letztlich „[seien] Gender-, Rassen- oder Klassenbewusstsein Errungenschaften, die uns aufgrund der schrecklichen historischen Erfahrung der widersprüchlichen, gesellschaftlichen Wirklichkeiten von Patriarchat, Kolonialismus und Kapitalismus aufgezwungen wurden“ (Haraway 1995: 41). Diese Kategorien reproduzieren sich selbst und müssten durch das Verwischen von Grenzen relativiert werden.

Donna Haraway 2010 © jeanbaptisteparis (CC BY-SA 2.0) goo.gl/9bdvoU

Sie entwirft das Bild vom Menschen als Cyborg, ein von Kategorien losgelöstes Wesen, das eine Alternative zum  westlichen Denken in Dualismen repräsentiert. Besonders hebt sie hierbei den Genderaspekt vor: Ihr Ansicht nach gibt es keine  natürliche Gemeinsamkeit  zwischen Menschen einer  Geschlechterkategorie und somit  auch eine Grundlage für Gender als Identitätsmerkmal (vgl. Haraway 1995: 41). Dabei geht es  ihr weniger darum Geschlechterkategorien abzuschaffen, als sie vielmehr  irrelevant zu machen.

Sie begründet ihre Cyborg-Metapher, indem sie auf bereits verwischte Grenzen verweist. So habe sich die grundsätzliche Trennung von Mensch und Tier durch die Evolutionstheorie und moderne wissenschaftliche Erkenntnisse aufgelöst. Auch die Grenze zwischen dem Körper (Organismus) und die von ihm verwendeten Werkzeuge (Maschinen) verwische zunehmend, ebenso wie die Unterscheidung zwischen Physischem und Nicht-Physischem (vgl. Haraway 1995: 36-38). All das rechtfertige, den Menschen als Cyborg zu denken.

Offen bleibt wie genau sie diesen „ironische[n] Traum einer gemeinsamen
Sprache“ (Haraway 1995: 33) Realität werden lassen möchte. Trotzdem
(oder gerade deswegen) bietet dieser provokante Text bis heute Anlass zu
interessanten Debatten.

Ergebnis Gruppenarbeit 26.01. ©privat

Hier das Ergebnis der Gruppenarbeit zu den Fragen (im Uhrzeigersinn oben rechts beginnend): Wie begründet Haraway die Behauptung Menschen seien nun Cyborgs? Wie begründet Haraway den Satz „Eins ist zu wenig, zwei sind zu viel“? Warum nutzt Haraway den Cyborg als Metapher? Welche Kritik übt Haraway am Westen?

Zitiert nach:
Haraway, Donna (1995): Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs
und Frauen. Frankfurt am Main/New York: Campus Verlag GmbH

Weiterführende Literatur:

Ashby, W. Ross (1974): Einführung in die Kybernetik. 1. Aufl. Frankfurt am
Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag.
Brigley, Zoë (2006): Replication, Regeneration or Organic Birth: The Clone
in Deryn Rees-Jones‘ Quiver and Donna Haraway’s ‚A Cyborg
Manifesto‘. In: Critical Survey, 18 (2), 16-30.

Karl Marx und die Entfremdung des Menschen

Karl Marx als Student 1836 – Public Domain, via Wikimedia Commons

Ein Beitrag von Moritz und Alex. (geändert am 21.12.2017)

Bevor Karl Marx 1867 sein Hauptwerk „Das Kapital“ veröffentlichte, befasste er sich mit weitaus philosophischeren, und weniger ökonomischen Themen. 1844, mit 26 Jahren, verfasste er u.a. die „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte“, die eigentlich überhaupt nicht zur Veröffentlichung gedacht waren und lediglich Skizzen waren, in denen Marx sich mit dem Arbeiter und dessen Entfremdung auseinandersetzt.

Im Laufe des Textes charakterisiert Marx vier Formen der Entfremdung des Menschen, die wir im Seminar bereits ausgiebig besprochen und diskutiert haben. Die vier Formen der Entfremdung sind die folgenden:

Die Entfremdung

  1.  des Menschen vom Produkt (der Mensch hat keinen Bezug mehr zum Produkt seiner Arbeit)
  2. des Menschen vom Prozess der Arbeit (die Arbeit stellt nicht mehr die Befriedigung eines Bedürfnisses dar, „Zwangsarbeit“)
  3. des Menschen von sich selbst (leitet sich aus den ersten beiden Punkten ab; die Entfremdung des Menschen von seiner Natur)
  4. des Menschen vom Menschen (Fremdentfremdung, welche sich wiederum aus der dritten Stufe ableitet)

Das Menschenbild

Worauf wir uns im Seminar leider weniger stark fokussieren konnten, war die Frage wie sich Marx‘ Menschenbild charakterisiert.
Marx ist der Ansicht, dass sich der Mensch in seiner Arbeit und dem von ihm geschaffenen Produkt verwirklicht und von Natur aus produktiv ist. Die Entscheidung zu arbeiten erfolgt dabei bewusst und aus freiem Willen heraus. Diese freie und selbstbestimmte Ziel- und Zwecksetzung der auszuführenden Tätigkeit ist es, die den Menschen vom Tier unterscheidet. Im Kapitalismus geht diese Natur des Menschen jedoch verloren, die Arbeit erfolgt lediglich um Bedürfnisse außerhalb der Arbeit zu befriedigen. Anstelle der erfüllenden und bereichernden Arbeit tritt „Zwangsarbeit“. Diese kapitalistische Denkweise ist Marx zufolge jedoch fatal, da das („Gattungs“)Wesen des Menschen unteilbar ist, der Mensch also nicht 6 Tage die Woche 14 Stunden arbeiten, und gleichzeitig am siebten Tag der Woche frei sein und sich z.B. politisch engagieren kann. Es gibt keine klare Trennung zwischen privatem und politischem Leben. Der Mensch ist zwar ein soziales Wesen, verwirklicht sich aber durch seine Arbeit. Dadurch wird er frei; sein Gattungsleben erfüllt sich.

Was ebenfalls wichtig ist und leicht übersehen werden kann, ist, dass sich auch der Nicht-Arbeiter, der Kapitalist, also der Fabrikbesitzer z.B., im Kapitalismus entfremdet. Durch die Abgabe der Arbeit an den Arbeiter findet ebenfalls eine Entfremdung von sich und dem Prozess der Arbeit statt. Der Kapitalist kann mit dieser Entfremdung jedoch weitaus besser leben, da seine Entfremdung in Reichtum resultiert, und nicht wie beim Arbeiter in Knechtschaft. Er lebt aber nicht im Einklang mit seiner menschlichen Natur und ist auch entfremdet und dementsprechend nicht frei.

Distanzierung von der Moderne

Bei Constant und Rousseau war die Freiheit in dem Verhältnis zwischen Staat und Individuum angesiedelt. Der liberale Constant setzt dem Souverän – also dem Staat – Grenzen und betont die Bedeutung der persönlichen Freiheit und der Bürgerrechte, die aber die politische Freiheit voraussetzen. Bei Marx geht es nicht mehr um dieses Verhältnis, sondern um das zwischen den zwei Klassen, der Bourgeoisie und dem Proletariat, und um die Folgen dieses System in Bezug auf der Natur und der Freiheit des Menschen. Die echte menschliche Freiheit befindet sich tatsächlich in der Erfüllung des oben genannten Gattungslebens. Diese Erfüllung verunmöglicht aber das kapitalistische Wirtschaftssystem, das eben auf Privateigentum und die von Constant verteidigten einhergehenden Bürgerrechte fußt. In dieser Denkweise unterscheidet sich Marx also drastisch von den Begründern der Moderne.

Marx sieht den Arbeiter zumindest theoretisch als enorm machtvolles Subjekt, das sich aus den Ketten des Kapitalismus durch Revolution selbst befreien kann. In dieser Schlussfolgerung können wir bereits direkte Kapitalismuskritik herauslesen. Kritik, die Karl Marx in seinen späteren Werken nur noch deutlicher äußert.

Weiterführende Literatur:

Barbara Zehnpfennig [Hrsg.] 2004: Ökonomisch-philosophische Manuskripte / Karl Marx. 1. Aufl., Hamburg : Meiner.

Michael Quante [Hrsg.] 2009: Karl Marx. Ökonomisch-Philosophische Manuskripte. Kommentar von Michael Quante. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M..

Nikolai I. Lapin 1974: Der junge Marx. Dietz Verlag, Berlin 1974

Filmkritik zu „Der junge Marx“ bei TitelThesenTempramente

 

 

 

„Aber auch die Gesetze müssen ihre Grenzen haben“ (Constant 1819)

Benjamin Constant – Public Domain via Wikimedia Commons

Der Schriftsteller, liberal Politiker und Staatstheoretiker Benjamin Constant wurde 1767 in Lausanne (Schweiz) geboren und starb 1830 in Paris. Er untersuchte das in der Französischen Revolution aufgekommene problematische Verhältnis zwischen Staatsmacht und Individuum. Sein von uns betrachteter Vortrag „Über die Freiheit der Alten im Vergleich zu der der Heutigen“ wurde 1819 in seinem Werk „Politische Schriften“ veröffentlicht und behandelt die Entwicklung der Freiheit. Im folgenden soll nun weiter auf sein Werk eingegangen und wichtige Begrifflichkeiten betrachtet werden.

Rolle von Krieg und Handel

Ergebnisse der Gruppenarbeit

Wenn man den Freiheitsbegriff von Constant analysieren möchte, muss man die Rolle von Krieg und Handel betrachten. Beides ermöglicht einem zu bekommen, was man haben möchte, weshalb Handel auch als „Krieg mit anderen Mitteln“ betrachtet werden kann. „…Krieg und Handel sind nur zwei verschiedene Mittel, um zum gleichen Ziel zu gelangen, nämlich das zu besitzen wonach man verlangt“ (Constant 1819: 371). Constant ist der Meinung, dass Handel den Krieg ablösen müsste bzw. abgelöst hat, da Handel berechenbarer ist, während Krieg aus einem spontanen Antrieb entsteht und zu unvorhersehbaren Ereignissen. Das Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit ist jedoch nun ein anderes als zuvor. Ein Überlegener würde keinen Handel betreiben, denn er könnte ale Dinge auch durch Gewalt erreichen. Die meisten sind jedoch nicht überlegen und erreichen daher ihre Ziele sicherer durch den Handel, der gleichzeitig die Völkerverständigung und den Drang zur Unabhängigkeit verstärkt. Handel zu betreiben macht den Einzelnen frei, führt zu einer ständigen Beschäftigung. Dies sieht jedoch Constant als Nachteil, da der Einzelne so weniger Zeit für politische Partizipation aufbringt. Der Handel mach die Staatsmacht unabhängig. Dennoch hat der Staat durch den Handel weniger Einfluss auf das Eigentum, es ist unangreifbar und mobil. da er jedoch Geld benötigt um zu handlungsfähig zu sein, erzeugt dies eine Abhängigkeit von privaten Geldern, also den Handel treibenden Bürgern.

Der „moderne Staat“

Ergebnisse der Gruppenarbeit

Nach Constants Verständnis eines „modernen Staates“ bzw. einer „modernen Politik“ darf die politische Unabhängigkeit niemals zugunsten der politischen Freiheit geopfert werden. Politische Freiheit – also auf die Regierung Einfluss nehmen – gewährleistet die persönliche Freiheit – also freie Meinungsäußerung, freie Wahl des Gewerbes, mit anderen zusammentreffen usw. Öffentliches Wohl basiert auf der Achtung von Verfahren, Rechtsgarantien und Gesetzen. „Aber auch die Gesetze müssen ihre Grenzen haben“ (Constant 1819: 383). Erziehung und Religion sind nicht mehr Angelegenheiten des „modernen Staates“, der Staat agiert zurückhaltend. Gewohnheiten, Neigungen und Unabhängigkeit des Individuums werden geachtet, Institutionen lassen Raum zur Selbstentfaltung. Diese Institutionen müssen die politische teilhabe erstrebenswert machen, sodass trotz der Ausübung politischer Rechte genug Zeit für Privatinteressen vorhanden ist. In einem „modernen Staat“ ist das Individuum vor Willkür geschützt und hat Möglichkeiten zur gerechten politischen Partizipation.

Der freie Mensch – Menschenbild

Insgesamt zeichnen sich die Ideen von Rousseau und Constant dadurch aus, dass sie sich mit dem Verhältnis zwischen Staat und Individuum befassen, ausgehend von der größtmöglichen Freiheit des Individuums. Das einzelne Individuum steht im Zentrum, befreit von äußeren Zwängen. Der Mensch ist von sich aus gut. Er strebt nach Selbstliebe, nach Constant inklusive der eigenen Nutzenmaximierung, ist geleitet von Mitleid und Vernunft. Das Bedürfnis des modernen Menschen ist die persönliche Unabhängigkeit und die Möglichkeit der Mitbestimmung. Der Mensch kann sich frei entwickeln und sich politisch beteiligen, ohne dabei auf seine persönlichen Freiheiten zu verzichten. Der moderne Mensch passt sich der Gesellschaft an, ohne dabei seine persönlichen Rechte aufzugeben. Abschließend lässt sich sagen, dass Rousseau und Constant für den freien Menschen als eigenständiges Individuum einstehen, welches sich jedoch politisch auf allen Ebenen beteiligen kann.

Weiterführende Literatur:

Constant, Benjamin 1815: Principles of Politics Applicable to All Governments. via Online Library of Liberty.

Quellen:

Constant, Benjamin: Von der Freiheit der Alten. In: Constant, Benjamin Werke in Vier Bänden (hrsg. von Axel Blaeschke und Lothar Gall). 4. Band. Berlin: Propyläen.

Ettlinger, Josef 1909: Benjamin Constant. Der Roman eines Lebens. via Projekt Gutenberg.

„…Der Mensch ist von Natur aus gut, ich glaube es, nachgewiesen zu haben…“ (Rousseau 1755)

Rousseau 1753, Gemälde von Maurice Quentin de La Tour – Public Domain, via Wikimedia Commons

 

Der Philosoph, Schriftsteller und Staatstheoretiker Jean-Jacques Rousseau wurde 1712 in Genf geboren und starb 1778 in Paris. Er gilt als einer der Größten Denker des 18. Jahrhunderts, dem Zeitalter der Aufklärung und vertat die Lehre der Freiheit und Gleichheit der Menschen. Sein von uns betrachtetes Werk „Contrat Social“ von 1762 fordert den „Zusammenschluss der freien Bürger aus der Basis gleicher Rechte“. Im folgenden soll nun weiter auf sein Werk eingegangen und wichtige Begrifflichkeiten betrachtet werden.

 

Der Naturzustand

Thomas Hobbes und Jean-Jacques Rousseau hatten beide die Vorstellung eines Naturzustandes. Der Naturzustand von Hobbes besagt, dass alle Menschen grundsätzlich gleich sind, angetrieben von der Selbsterhaltung, jedoch agieren sie misstrauisch, egoistisch und hinterhältig (Mehr zu Hobbes im Blogbeitrag).

 

Von Hobbes zu Rousseau

Bei Rousseau sind im Naturzustand alle Menschen gleich und auch glücklich und zufrieden sind. Sie werden von Selbsterhaltung bzw. Selbstliebe und Empathie angetrieben. Konflikte werden erst durch Eigentum ausgelöst, dies sorgt nämlich für Ungleichheit, Misstrauen und ist letztendlich Grund für Krieg.

Rousseaus Theorie

Rousseaus Theorie ist vor allem durch den Begriff des  „Willen“s geprägt. Zum einen prägt Rousseau seinen Freiheitsbegriff damit: Freiheit ist den eigenen Willen auszuüben; Solange man tut, was man will, ist man frei. Jedoch wird der eigene Wille („volonté particulière“) dem Gemeinwillen (volonté générale) untergeordnet, dass heißt der Gesamtwille einer Gesellschaft kann mitbestimmt werden, jedoch muss sich der eigen Wille unterordnen zum Wohle der Gesellschaft. Daraus ergibt sich der Gesamtwille („volonté de tous“).

Dies wurde am Beispiel der Todesstrafe besprochen: Wenn das Töten einer Person der Gesellschaft hilft/schützt/ sie erhält, dann ist die Tötung gerechtfertigt. „Der Gesellschaftsvertrag hat die Erhaltung der Vertragschließenden zum Zweck. Wer den Zweck will, will auch die Mittel und diese Mittel sind mit einigen Gefahren, selbst mit einigen Verlusten untrennbar verbunden“ (Seite 37). Es gibt in diesem Sinne also keine Rechte-Übertragung sondern eine Willens-Übertragung, heißt das akzeptieren/annehmen des Gesamtwillen trotz gegenteiliger bzw. anderer Einstellung.

Des weiteren prägt Rousseau den Begriff Souverän. Mit Souverän betitelt er den Staat, bestehend aus dem Volk, welcher den Gemeinwillen ausübt. Die Vereinigung des Einzelnen mit der Gesellschaft beschreibt er wie folgt: „Je­der von uns stellt ge­mein­sam sei­ne Per­son und gan­ze Kraft un­ter die obers­te Richt­li­nie des all­ge­mei­nen Wil­lens; und wir neh­men in die Ge­mein­schaft je­des Mit­glied als un­trenn­ba­ren Teil des Gan­zen auf.“ (Rousseau 1961: 44)

Durch die Zuordnung des Souveränitätsbegriff zu einer bestimmten Personengesamtheit begründet er die Idee der Volkssouveränität. Souveränität ist nach Rousseau „unveräußerlich; unteilbar“ und beruht auf einem „heiligen“ Vertrag. Macht kann an den Souverän übertragen werde, aber nicht der eigene Wille.

„Jeder Vorbehalt von Menschenrechten des Einzelnen wird von Rousseau ausdrücklich und nachdrücklich verworfen […] Rousseau kennt keine persönliche Freiheit des Einzelnen, die vom Staat zu respektieren wäre“ -Sibylle Tönnies (Tönnies 2011: 83)

Die Französische Revolution – Sturm auf die Tuilerien 1792 – Gemälde von Jean Duplessi-Bertaux – Public Domain via Wikimedia Commons

Rousseau als Inspiration der Französischen Revolution?

Das Motto „Liberté, Egalité, Fraternité“ prägte die Französische Revolution von 1789 bis 1799 und überschneidet sich auf den ersten Blick mit dem Denken Rousseaus: Liberté als natürliche Freiheit des Menschen, Egalité als natürliche Gleichheit der Menschen und Fraternité als Souveränität des Volkes. Die Verteidigung des Gemeinwillens gegenüber dem absolutistischen Staat war eines der wichtigsten Ziele der Revolution.

Deshalb liegt es nahe Rousseau als Begründer der Französischen Revolution zu sehen. Auch viele Revolutionäre sahen sich als Umsetzer der Ideen Rousseaus. Das lag aber nicht am „Gesellschaftsvertrag“. Im Vergleich zu anderen Werken Rousseaus (etwa dem Erziehungsratgeber „Émile“) war dieser im vor-revolutionären Frankreich kaum verbreitet, sogar verboten. Das führte dazu, dass sich Revolutionäre wie La Révellière-Lépeaux oder d’Eymar zwar auf Rousseau bezogen, tatsächlich aber Ideen propagierten, die seinen Ansichten widersprachen. Die Missverständnisse betrafen etwa Rousseaus Idee von gesellschaftlicher Freiheit als Mitentscheidungsrecht, zu deren Gunsten die persönliche Freiheit zurücktreten sollte. Auch seine Vorstellungen vom „unteilbaren Gemeinwillen“ und „unveräußerbarer Souveränität“ deckten sich nicht mit so manchen Forderungen von Revolutionären, etwa nach repräsentativer Demokratie.

Rousseaus „Gesellschaftsvertrag“ war also nicht Auslöser der französischen Revolution. In der Zeit nach 1789 wurde ihm allerdings zunehmend Interesse geschenkt – auch von Vertretern der Restauration, die beweisen wollten, dass Rousseau falsch verstanden worden war.

Rousseaus Menschenbild

Das Menschenbild Rousseaus werden wir noch eingehender in der nächsten Sitzung im Vergleich zu Constant betrachten.

Weiterführende Quellen:

Jean Starobinski: „Rousseau – Eine Welt von Widerständen“; Fischer Taschenbuch, 2012.

Quellen

Joane McDonald: „Rousseau and the French Revolution 1762-1791“; Bloomsbury Academic, 2013.

J. J. Rousseau: „Vom Gesellschaftsvertrag“ (Originaltitel: Du Contrat Social); Reclam Verlag, 1986.

Sibylle Tönnies: „Die Menschenrechtsidee – ein abendländisches Exportgut“; VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2011.

 

„(…) das menschliche Leben ist einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz.“ (Hobbes 2005, S.91)

Titelbild Thomas Hobbes‘ Leviathan: Zu sehen ist der Souverän. Sein Körper besteht aus den Menschen, die ihn durch den Gesellschaftsvertrag ermächtigt haben. In den Händen hält er Schwert und Krummstab, die Symbole für weltliche und geistliche Macht.

„Und eine solche Furcht empfing da meine Mutter, dass sie Zwillinge gebar, mich und zugleich die Furcht“ (Hobbes 2005, S.91)

Hobbes wuchs in den unruhigen Zeiten politisch-religiöser Kriege und Bürgerkriege als Sohn eines anglikanischen Pfarrers auf, und wurde Zeit seines Lebens von Furcht begleitet. Er hoffte mittels streng rationaler Argumentation den Bürgerkrieg abzuwenden, scheiterte jedoch und schürte schon mit seinen ersten politischen Schriften die vorherrschenden Konflikte. Daraufhin litt er unter politischer Verfolgung und lebt einige Jahre im Exil in Frankreich, bevor er wieder in sein Geburtsland Großbritannien zurückkehren konnte.

Das allgemeine Grundproblem mit dem sich Hobbes beschäftigte lautet: Warum und in welcher Form braucht es Herrschaft? Berühmt ist Hobbes für sein Gedankenexperiment des Naturzustands, mit dem er das Konfliktpotenzial untersucht, das gemeinschaftlichem Zusammenleben innewohnt. Aus diesen Überlegungen folgert er den Gesellschaftsvertrag und die Herrschaft des Leviathans. Zentrale Punkte in Hobbes‘ Theorien sind:

  1. Menschen sind in körperlichen und geistigen Fähigkeiten gleich: Der Schwächste kann durch Hinterlist oder ein Bündnis den Stärksten töten. Es gibt drei Konfliktursachen, die der menschlichen Natur innewohnen: Konkurrenz, Misstrauen und Ruhmsucht. (Hobbes 2005, S.94 f.)
  2. Ohne Staatlichkeit leben die Menschen in einem Kriegszustand: Dem Krieg eines jeden gegen jeden und die ständige Möglichkeit des Konflikts. Neben den Konfliktursachen gibt es auch Leidenschaften, die die Menschen friedfertig machen: Todesfurcht, das Verlangen, nach Dingen, die zu einem angenehmen Leben notwendig sind und die Hoffnung, diese durch Fleiß erlangen zu können. Außerdem sind die Menschen vernünftig, was die Voraussetzung für eine Übereinstimmung darstellt. (Hobbes 2005, S.95-98)
  3. Um den Kriegszustand zu beenden und das eigene Leben zu schützen beschränken die Menschen ihre Freiheit. Sie gehen einen Gesellschaftsvertrag eines jeden mit jedem ein, mit dem sie alle Rechte, außer das Recht auf Schutz des eigenen Lebens, an den Leviathan abtreten. Bemerkenswert ist hier, dass in Hobbes Vertragstheorie der Leviathan nicht Vertragspartner ist, sondern ein Dritter, sodass jeder Autor der Handlungen des Souverän ist. (Hobbes 2005, S.131-135)
Hobbes Aktualität

Wenngleich Hobbes‘ Plädoyer für den Absolutismus heute überholt ist, haben andere Elemente wie das Argumentationsmuster des Gesellschaftsvertrags und der Ausgang vom Individuum auch heute noch politische Bedeutung. (Sozial)utopischen Theorien von herrschaftslosen Zusammenleben hält Hobbes den Naturzustand entgegen, wo Konflikte als unweigerliche Konsequenz aus staatslosem Zusammenleben entstehen. Herrschaft darf jedoch nicht willkürlich sein, sondern wird durch den Gesellschaftsvertrag legitimiert. Hier unterscheidet sich Hobbes‘ Theorie von modernen Demokratien, denn der Gesellschaftsvertrag wird durch die Zustimmung der Mehrheit hergestellt. Von Minderheitsrechten, die verhindern, dass das Individuum zum Wohl der Mehrheit ausgebeutet, unterdrückt oder geopfert wird, sieht Hobbes dabei ab. Zu seiner Zeit erwiesen sich Hobbes Theorien als kontraproduktiv und konfliktfördernd in der aufgeladenen politischen Lage. Auch rückblickend lassen sich gravierende Fehleinschätzungen finden: Nicht nur in Anarchie, sondern auch in despotischer Herrschaft ist die menschliche Existenz gefährdet.

Weiterführende Quellen

The School of Life. Political Theory: Thomas Hobbes:

Williams, Garrath: Internet Encyclopedia of Philosophy: Thomas Hobbes: Moral and political philosophy: https://www.iep.utm.edu/hobmoral/

Louis, Gustav (1891): Über den Individualismus des Hobbes: https://www.thomas-hobbes.de/

 

Literaturverzeichnis

Hobbes, Thomas (2005): Leviathan. oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Hg. v. Iring Fetscher. München. Originaltext verfasst 1651

Höffe, Ottfried (2016): Geschichte des politischen Denkens. München: C.H. Beck.

Bildnachweis: Titelbild von Hobbes Leviathan über: https://aion.mx/wp-content/uploads/2014/01/Leviathan_by_Thomas_Hobbes-e1416438094895.jpg

„Allein durch die Gnade…“

Portal der Schlosskirche in Wittenberg mit den 95 Thesen. Quelle: Fewskulchor [CC BY-SA 3.0 de, via Wikimedia Commons.
Dieser reformatorische Grundgedanke – sola gratia – ist aufs Engste verbunden mit den Konflikten dieser Zeit. Im Mittelalter war die (katholische*) Kirche ebenso eine weltliche Instanz wie eine geistliche. Bischöfe waren Fürsten mit geistlicher Autorität. Religion war im öffentlichen Leben ein wichtiger Faktor – anders als heute, wo die Kirche eine unter verschiedenen zivilgesellschaftlichen Stimmen ist. Die Angst vieler Menschen vor dem ewigen Fegefeuer war real und durch die Kirche, so der landläufige Glaube, konnte Absolution gewährt werden. Umso bequemer, wenn man statt einer Pilgerreise oder anderer Buße nur einen Ablass kaufen musste…. Luther war dies ein Dorn im Auge und er hatte mit seinen 95 Thesen – als Aufruf zu einer akademischen Auseinandersetzung geschrieben – gegen den Ablasshandel gewettert.

Der Text „Von der Freiheit des Christenmenschen“ ist eine Reaktion auf die Androhung des Bannes (der später auch verhängt wurde). Und es ist ein Text voller Spannungen. Aus euren Texten und der Diskussion stechen besonders drei Spannungen hervor.

  1. Besonders häufig in euren Texten debattiert wurde der Zusammenhang zwischen Leib und Seele, hier ausgedrückt in der Trennung von Seelenheil und weltlichem Handeln. Dies ist tatsächlich eine ganz grundsätzliche philosophische Frage, auf die es in der Philosophiegeschichte viele Antworten gab. In Luthers Argument steht diese Unterscheidung in einem breiteren Zusammenhang, der sich an den anderen beiden Spannungen ausdrückt.
  2. Da ist als zweiter zentraler Punkt zu nennen, was sich auch in dem Zitat ausdrückt, dass wir als Grundlage unsere Diskussion genommen haben: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem Untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ (Luther 1520). Doch wie kann mensch gleichzeitig frei und unfrei sein? Hier kommt sola gratia ins Spiel. Das geistige Heil ist durch Gottes Gnade den (Christen-)Menschen gegeben – der Glaube allein zählt, die Gnade und damit das Seelenheil kann nicht verdient werden. Das macht den Menschen frei zu weltlichem Handeln, dass nicht auf die jenseitige Erlösung gerichtet ist. Darin liegt die Freiheit. Doch der Glaube führt den (Christen-)Menschen dazu, aus der Liebe zum Nächsten das Gute zu tun. Es ist nicht die Androhung von Strafe die gutes Handeln ermöglicht, es ist die Liebe zu den Anderen. Und darum ist der (Christen-)Mensch Knecht seinen Mitmenschen gegenüber, ihnen ein Diener. Überzeugt dieses Luthersche Argument? Theologisch, wie es gemeint war, wohl viele (darum ja auch die Reformation als mehr als eine opportunistisch genutzte politische Strömung), aber politisch-theoretisch ergeben sich viele weitergehende Fragen, die Wichtigste ist vielleicht: Was tun angesichts der offensichtlichen Fehlbarkeit des Menschen in Bezug auf das gute Handeln?

    Thomas Müntzer
  3. Die dritte Spannung ergibt sich aus den weitreichenden politischen Konsequenzen, die Luthers theologisches Argument hat. Luther hat sich nicht – wie Machiavelli oder auch Thomas Müntzer – aktiv in die Politik eingemischt. Und doch hat er sich nicht mit Ratschlägen in politischen Angelegenheiten zurückgehalten. Die theologische Trennung von Seelenheil und weltlichem Handeln auf der Ebene des Individuums entwickelt sich hier zu einer, aus politisch-theoretischer Sicht, durchaus schwierigen Perspektive. In „Von weltlicher Obrigkeit: wieweit man ihr Gehorsam schuldig sei“  (1523) entfaltet Luther warum der weltlichen Obrigkeit im Zweifel immer Gehorsam zu leisten ist – und rechtfertigt damit quasi jede Herrschaft. Verstehen lässt sich das nur, wenn man bedenkt, dass einerseits auch hier ein theologisches und kein politisches Argument entfaltet wird und andererseits Luther selbst von der unmittelbaren Endlichkeit der Welt und damit auch vom baldigen Ende weltlicher Herrschaft überhaupt überzeugt war. Das soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in der prekären Lage des 16. Jahrhunderts gerade diese radikale Trennung zwischen geistlich
    Dietrich Bonhoeffer im August 1939, Quelle: Bundesarchiv

    und weltlichem – und die Rechtfertigung weltlicher Herrschaft auch in äußerst fragwürdigen Situationen, eine weitreichende Wirkung hatte. Auch darum Leben wir heute in säkularen Staaten – wegen eines theologischen Arguments. Im 20. Jahrhundert wurde diese Lehre für die Christen zu einer radikalen Bewährungsprobe und erst Dietrich Bonhoeffer gelang mit seiner Interpretation der Weltlichkeit christlichen Handelns  als „Verantwortung für die Welt“ eine Neuorientierung.

Es ist sicher nie ein Gedanke an sich, der wirkmächtig wird – dazu kommen immer jene historischen und politischen Umstände, die ihm Raum geben. Und Luther war weder der einzige, der im 16. Jahrhundert Neues formulierte, noch war er der einzige der ähnliche Probleme durchdachte. Das 16. Jahrhundert war eine Zeit vielfältiger grundsätzlicher Fragen und die Zeit in der neue Antworten gehört wurden.  Auch das ist ein Zeichen für den großen Umbruch der stattfand.

Nettling, Astrid 2017: „Heiliger Sokrates, bitte für uns!“ Luther im Streit mit Erasmus. (Hörfunkfeature), Deutschlandfunk, 4. Januar 2017

Thaidigsmann, Edgar 2007: Macht über sich selbst? Der Mensch und die »Mächte« bei Luther: Aspekte theologischer Anthropologie. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie. 49:1, 42-70.

Leseliste zum Thema bei der EKMD

*Das Wort „katholisch“ kommt aus dem Griechischen und heißt „allumfassend“. Insofern, auch wenn es damals nur eine Kirche gab, ist katholisch das richtige Wort.

Leben in aufregenden Zeiten

Victoria Harbour, HongKong (by The Photographer, CC 0)

Leben in aufregenden Zeiten ist keine leichte Aufgabe. Neue Kommunikationsmittel ermöglichen ganz neue Formen der Interaktion. Viele Menschen, denen Wissen bisher verwehrt blieb, haben nun Zugang zu einer Vielzahl von Ideen. Etablierte Institutionen verlieren an Autorität und neue entstehen. Andere Formen des Zusammenlebens und Wirtschaftens werden entwickelt, Städten kommt eine neue Bedeutung zu. Ständig vergrößert sich das Wissen über die Welt, ja ganze Weltbilder geraten ins Wanken. Die Vielzahl der Veränderungen bringt zahlreiche Kontroversen hervor – und mit ihnen politische Instabilität.

Die Welt Machiavellis und Luthers, die von Leonardo da Vinci, William Shakespeare, Thomas Morus, Ferdinand Magellan, Erasmus von Rotterdam, Henry VIII, der Bauern Mitteldeutschlands und der Fugger war mitnichten eine, in der sich nur wenig änderte. Im Gegenteil, innerhalb weniger Jahrzehnte wurde vieles grundlegend auf den Kopf gestellt. Wenn man bedenkt, dass seit der Mondlandung fast 50 und seit der Erfindeung des WorldWideWeb immerhin auch schon 30 Jahre vergangen sind, kann man ermessen, wie schnell die Veränderungen des 16. Jahrhunderts wirksam wurden.

Magellans Schiff Victoria

Heute, im Nachhinein, ist es leicht zu erkennen, wer die prägenden Ideen hatte, wer seiner Zeit voraus war oder – freiwillig oder nicht – zur Veränderung beigetragen hat. Für diejenigen, die unmittelbar beteiligt waren, war das nicht so leicht zu erkennen, im Gegenteil. Es ist schwer aus der Masse der Äußerungen, Einschätzungen und Fragen diejenigen zu erkennen, die erklärungsstark sind, wie Machiavellis, oder wirkmächtig, wie Luthers. Und so ist denn auch der Text zunächst zu lesen mit der Frage, was von Luther gewollt und bezweckt wurde, wozu dieses Argument in seiner Zeit diente. Erst im Anschluss lohnt es zu fragen, wie es so weit über seine eigentliche Intention hinaus Wirkung entfalten konnte – und ob es zwingend so kommen musste, oder ob hier schlicht der Zeitgeist hervortrat. Was macht einen Text so prägend? Und wie könnten wir heute erkennen, welche Äußerung bedeutsam ist?

 

Höppner, Ulrike 2010: Thinking in Turbulent Times: On the Relevance of Sixteenth-Century Political Thought. In European Political Science 9:3, 291–303.

Skinner, Quentin 1969: Meaning and Understanding in the History of Ideas. In: History and Theory 8:1, 3-53.

 

„Denn man kann von den Menschen im allgemeinen sagen…“

 

Florenz 1493

Machiavelli lebte in bewegten Zeiten, die Stadt Florenz war ein Epizentrum der Erschütterungen mit denen sich das Mittelalter in die Moderne wandelte. Machiavelli war sowohl Beteiligter als auch Beobachter dieser Veränderungen und viele seiner Überlegungen waren ausgesprochen weitsichtig. Wir haben in der heutigen Sitzung zentrale Punkte des Machiavellischen Menschenbildes herausgearbeitet, die sich in aller Kürze vielleicht so zusammen fassen lassen:

  1. Um zu wissen, wie die Menschen sind, kommt es vor allem auf die Beobachtung an und weniger auf eine normative Vorstellung. Was der Mensch ist, ist für Machiavelli vor allem eine empirische Frage.
  2. Das wesentlichste Kennzeichen des Menschen ist seine Wankelmütigkeit, die Unzuverlässigkeit, die gespeist wird aus Angst und Opportunismus. Auf nichts was versprochen ist, ist Verlass.
  3. Diese Wankelmütigkeit lässt sich politisch – durch kluge Fürsten und gute Institutionen einhegen und so in ihrer negativen Wirkung begrenzen.  Der Mensch ist nicht dazu verdammt, seine schlechten Eigenschaften zur Entfaltung kommen zu lassen, wenn die richtigen Rahmenbedingungen gesetzt werden.

Es ist die Ermöglichung solch klugen Regierens, die Machiavelli anstrebte, als er Il Principe und die Discorsi schrieb. Im noch nicht vom modernen Fortschrittsdenken geprägten Geschichtsverständnis Machiavellis (Münkler 2004), lassen sich aus der Geschichte Lehren ziehen über die Gesetzmässigkeiten und Zwänge, denen politisches Handeln unterliegt (necessitá). Ein kluger Fürst erkennt die Gelegenheiten (occasione), die sich daraus ergeben und handelt entsprechend, um seine Macht – und damit die Stabilität des Staates – zu sichern (virtú). Das nötige Quentchen Glück (fortuna) gehört dazu.

Machiavellis Denken war jahrhundertelang verpönt und es wird noch heute oft verkürzt dargestellt. Es lohnt sich jedoch, genau zu lesen und anzuerkennen, dass es ihm nicht allein darum ging, die Fehlbarkeit des Menschen herauszustellen. Oder gar darum, jede grausame Herrschaft zu rechtfertigen. Alles Handeln – sei es von Fürsten oder Massen – muss sich messen lassen an einem Ziel: Dient es dem Erhalt des Staates und der Stabilität des Gemeinwesens.

Am stringenten Aufbau von Machiavellis Argument lässt sich wunderbar sehen, wie aus einer Beschreibung des Menschenbildes, einer Vorstellung davon, wie die Welt funktioniert (necessitá) und einer klaren Zielstellung (Stabilität), klare Handlungsanweisungen für die Politik entwickelt werden.

Machiavellis Denken ist immer wieder eine Herausforderung, aber seine Weitsicht war erstaunlich. Zu einer Zeit, als noch unklar war, welche politische Form sich aus den Turbulenzen des Umbruchs durchsetzen würde, beendet Machiavelli seinen Il principe mit einem Aufruf Italien zu einigen. Für ihn war klar, das der Nationalstaat die Form der Zukunft ist.

Gemälde von Lucas Cranach – Martin Luther und Katharina von Bora

Und doch hat er wesentliche Entwicklungen seiner Zeit falsch eingeschätzt. Er hielt die deutschen Fürsten für sehr wohl in der Lage, mit einem kleinen mitteldeutschen Mönch klar zu kommen, die Wirkung, die die Reformation auf die europäische Geschichte hatte, sah er nicht voraus. Dabei ist es gerade die von Martin Luther popularisierte Weltvorstellung jene, die die Konflikte der kommenden Jahrhunderte prägte. Zwar sah auch Machiavelli in der Religion nur ein Instrument, dass dem Staat dienlich oder weniger dienlich sein konnte. Aber es war Martin Luther, der das vorherrschende Weltbild in Frage stellte und eine radikale theologische Argumentation hervorbrachte, die eine völlig Neuordnung des Verhältnisses von Politik und Religion zur Folge hatten.

Weiterführende Literatur

Diesner, Hans-Joachim 1983: Luther und Machiavelli. In: Theologische Literaturzeitung. Monatsschrift für das gesamte Gebiet der Theologie und Religionswissenschaft. 108:8. 561-570.

Ist das Theorie oder kann das weg?

Was ist das eigentlich, politische Theorie? Und wozu braucht man das? Das sind die Fragen mit denen wir uns in der heutigen Sitzung beschäftigt haben und die sicher immer mal wieder im Verlauf des Seminars mehr oder weniger prominent auftreten werden. Uns bleiben vor allem zwei wesentliche Erkenntnisse:

  1. Politische Theorie ist nicht eine Sache, es gibt eine breite Vielfalt an Herangehensweisen, Perspektiven und Ansätzen. Das heißt aber nicht, dass alles Nachdenken an sich schon politische Theorie ist. An politische Theorie  sind höhere Ansprüche hinsichtlich der internen Widerspruchsfreiheit, der diskursiven Verankerung im bisher bekannten und der argumentativen Stringenz zu stellen. Politische Theorie – sei sie analytisch, deskriptiv, normativ oder kritisch – ist mehr als nur eine abstrakte politische Meinung zu einer allgemeinen Frage.
  2. Politische Theorien erfüllen ganz unterschiedliche Funktionen:
    • Sie verweisen auf die Entwicklung einer Ordnung und oder Idee.
    • Sie beleuchten Probleme aus normativer Perspektive.
    • Sie beschreiben die Wirkungsbeziehungen innerhalb eines politischen Problemfeldes und tragen so zum Verständnis politischer Probleme bei.
    • Sie liefern klare Begriffe für politische Analysen.
    • Sie verweisen auf ihre eigene Begrenztheit und Zeitgebundenheit und damit auch auf die Möglichkeit einer ganz anderen Welt.
    • Sie bilden die Basis für unterschiedliche Formen von Kritik.

Wie in unserer Diskussion auch herauskam, ist damit politische Theorie zumindest implizit in allen Bereichen der Politikwissenschaft ein wesentlicher Bestandteil der wissenschaftlichen Analyse. Es lohnt sich zu lernen, wie man die theoretischen Grundlagen und Annahmen die hinter bestimmten Fragen stehen auch dann erkennt, wenn sie nicht explizit gemacht werden. Das ist ein Ziel unseres Seminars.

Tafelbild

In der kommenden Woche werden wir uns mit Niccoló Machiavelli beschäftigen. Machiavelli gibt aus zwei Gründen den Auftakt zu unserer Beschäftigung mit Menschenbildern der westlichen Moderne:

  1. Er prägt eine neuartige, wenn auch eben stark durch die Veränderungen seiner Zeit geprägte Sicht auf politische Zusammenhänge. Für ihn zählt das, was wirklich ist, und weniger das, was sein sollte.
  2. Sein Menschenbild ist demnach von empirischer Beobachtung geprägt und wird oftmals als negatives Menschenbild bezeichnet. Ob das so ist, können wir am kommenden Freitag diskutieren.

Als kleine Einführung in den Kontext des Textes lohnt sich folgendes Video – vor oder nach dem Lesen. Ich würde nicht alle Interpretationen teilen, aber im Grundsatz wird alles richtig dargestellt.

Weiterführende Literatur

Skinner, Quentin 2004: Nicholó Machiavelli. Zur Einführung. Hamburg: Junius.

Münkler, Herfried 2004: Niccoló Machialli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz. Frankfurt a.M.: S.Fischer .